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Oskar Gudmundsson - Snorri Sturluson - Homer des Nordens
Buchinformation
Gudmundsson, Oskar - Snorri Sturluson - Homer des Nordens bestellen
Gudmundsson, Oskar:
Snorri Sturluson - Homer
des Nordens

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(Bücher frei Haus)

Jenseits der nordischen Länder ist Snorri Sturluson allenfalls einigen Spezialisten ein Begriff, und je südlicher man kommt, desto weniger wird man seine Person und sein Werk einordnen können. Doch ist er zu den faszinierendsten Gestalten des Mittelalters zu zählen, und dies nicht nur wegen seiner literarischen Werke, die noch heute auch ein Publikum außerhalb Islands in Bann zu schlagen in der Lage sind. Snorri gehört auch als Diplomat und Politiker zu den bedeutendsten historischen Gestalten seiner Zeit.

Wie unsicher die Kenntnisse außerhalb des Nordens über ihn sind, zeigt auch die ansonsten überzeugende Übertragung der jüngsten Biographie ins Deutsche. Der Klappentext nennt ihn Autor der Edda, die nicht nur als Hauptquelle für nordgermanische Mythendichtungen bezeichnet wird, sondern auch als eines der “wichtigsten Bücher der Weltliteratur”. Das stimmt natürlich, nur muss jeder hier an die Liederedda denken, die in den späten sechziger Jahren des 13. Jahrhunderts aufgeschrieben wurde. Deren Autor ist Snorri aber nicht. Diese unglückliche Formulierung mag vielleicht nicht auf ein Missverständnis zurück zu führen sein, sondern auf einen Versuch, Missverständnisse bei einem für uninformiert gehaltenen Leserkreis gerade zu vermeiden. Snorri ist Autor der sogenannten Prosaedda, die man besser Snorraedda, also Edda von Snorri nennen sollte. Beides ist sorgfältig zu unterscheiden, aber für beide gilt, dass sie der Weltliteratur zuzurechnen sind. Ihn Homer des Nordens zu nennen ist, wenn man auf solche Prädikate nicht ganz verzichten will, in Hinblick auf das monumentale Werk Heimskringla, eine Beschreibung der nordischen Geschichte seit ihren myhthischen Ursprüngen und die Geschichte der norwegischen Könige, nicht völlig abwegig. Im Original heißt es lediglich Snorri – ævisaga, worin sich eben bereits jene besondere isländische Mischung aus historischer Authentizität und Poesie ausdrückt, die für einen Großteil der alten Literatur charakteristisch ist. Ævi ist das isländische Wort für Leben, Lebensalter, und saga der Begriff für das, was erzählt, gesagt wird. Beides zusammen heißt zwar einfach nur Biographie, nähert sich aber dem, was in den Sögur als historisches und literarisches Erbe überliefert ist. Óskar Guðmundsson erzählt Snorris Leben zwar aus der Sicht der modernen Geschichtswissenschaft, aber eben als Saga und wie eine der isländischen Familiensagas.

Dass überhaupt die Biographie eines Dichters und Politikers aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts erzählt werden kann, hängt wiederum mit der einzigartigen Weise isländischer Überlieferung zusammen. Biographien von Persönlichkeiten unterhalb der Herrscherkaste aus dieser Zeit zu verfassen, ist allenfalls in Ausnahmefällen auf dem Kontinent möglich, da meist schlichtweg nichts an Informationen zum Leben und Wirken außerhalb der erhaltenen Werke selbst überliefert ist. Schon bei gut erschließbaren Figuren wie Dante oder Petrarca aus späterer Zeit sind gesicherte Daten nur beschränkt verfügbar. Wie von vielen Persönlichkeiten der isländischen Frühzeit ist aber deren Geschichte in oft aufwändigen Erzählungen auf uns gekommen. Im Falle Snorris besitzen wir eine Saga, deren Held der Stammvater des Sturlungengeschlecht und Snorris Vater ist. Zu Snorri selbst und seinem politischen Wirken vor allem informiert die sogenannte Íslendiga saga, aber auch andere Sögur berichten von ihm, seinem Clan und seinen Taten. Darin werden, auch dies einzigartig in mittelalterlicher Literatur, Kindheit, seine Familienverhältnisse und sein Wirken jenseits der zentralen politischen Ereignisse in realistischer und eben nicht symbolischer Weise erzählt. Inwieweit diese nun gesicherte Daten im Sinne vermeintlich “objektiver” Historie vermitteln, ist natürlich fraglich. Wie alle Geschichtsschreibung bieten sie das Bild, welches sich eine bestimmte Zeit von ihren “Helden” (oder Antihelden) machen wollte.

Zumindest was das politische Wirken Snorris angeht, wird man diesen poetisierten Quellen aber sicher Glauben schenken dürfen. Snorri gelangte offenbar rasch zu Macht und Reichtum. Er war dazu für lange Zeit Gesetzessprecher in Island. Seine Verstrickung in zahlreiche innenpolitische Fehden wurde bald von seinem Engagement im energischer werdenden Konflikt mit Norwegen und dessen Bestrebungen begleitet, Island zu unterwerfen. Es scheint, dass Snorri erbittert gegen die norwegischen Anschlussbestrebungen kämpfte. Seine Reisen nach Norwegen hatten offenbar das Ziel, der isländischen Unabhängigkeit zu dienen. Dies wurde ihm schließlich zum Verhängnis: bei seinem letzten Besuch verbot ihm der norwegische König Håkon Håkonarson die Rückreise nach Island, doch Snorri hielt sich nicht an das Verbot. Im Auftrag des Königs wurde Snorri wenig später, in der Nach des 23. September 1241 und unter Beteiligung seines eigenen Schwiegersohns auf seinem Ansitz in Reykholt (Reykjaholt) ermordet. Möglicherweise ist auch sein gesamtes Werk als Versuch anzusehen, damit der isländischen Unabhängigkeit, die das Land bald nach Snorris Tod tatsächlich verlor, zu dienen.

Óskar Guðmundssons ævisaga ist ein eindrucksvolles Experiment, Erkenntnisse der modernen Geschichtswissenschaften wie auch der Philologie mit sprachlichen wie narrativen Strukturen zu verbinden, die für zeitgenössische ævisögur, also etwa Íslendinga sögur kennzeichnend sind. Deren Besonderheiten, die sie unverwechselbar machen, liegen vor allem im Formalen, im Stil. Was auf den ersten Blick einfach und schmucklos erscheinen mag, ist aber Ausdruck eben eines bestimmten Formgefühls, das komplexe Syntax ebenso vermeidet wie den hohen Ton, das nicht auf Innerlichkeit zielt, sondern auf Nüchternheit, auf die Sache, die zu erzählen ist, und dessen Erzähler nicht in Erscheinung treten, nur das berichten, was gesagt oder gesehen wird. Auch wenn Psychologisierungen und die Beschreibungen von Innerlichkeiten meist fehlen, kann dieser nüchterne Ton durch seine Beschränkung auf die Darstellung von Äußerem Inneres gleichwohl und oft sehr dicht erkennbar machen. Óskar Guðmundsson findet einen Stil, der diesem Saga-Stil sehr nahe kommt. Meist wird das durch lange paraphrasierende (oder wörtliche) Zitate aus den reichhaltigen Quellen erreicht, die dem Leser durch einen umfangreichen kommentierenden Anhang zugänglich sind. Diese Quellen, etwa die Biskupasögur, die historischen Erzählungen von den isländischen Bischöfen, bieten ein offensichtlich sehr realistisches Bild von den konkreten Lebensumständen dieser Zeit und ermöglichen so eine lebendige und glaubwürdige Darstellung auch sekundärer Aspekte. Auch dies wäre aufgrund der Quellenlage für kontinentaleuropäische Kontexte nur in sehr seltenen Ausnahmefällen möglich.

Ein Beispiel soll diesen Stil erläutern. Im Kapitel zu den Jahren 1193-1197 über Snorris Brüder wird auch von einer Feuersbrunst berichtet:

Im Jahr darauf geschahen mehrere Dinge gleichzeitig. Am 7. Mai 1197 erreichte die Nachricht den Norden des Landes, dass der Hof von Önund Thorkelsson abgebrannt worden sei und dass er und viele weitere Personen dabein umgekommen seien. [...] Üble Nachrede und kleinere Streitigkeiten im Tal zwischen Önunds Leuten und Gudmund Dyri als Stellvertreter von Kolbein Tumason hatten zu dieser Tat geführt. (S. 48).

Zum Vergleich sei ein Passus aus einer der wichtigsten Sagas zitiert, der im 13. Jahrhundert nieder geschriebenen Laxdœla saga. Auch hier geht es um eine Rechtsstreitigkeit:

Von Höskuld wird gesagt, dass er sofort Leute um sich versammelte, als er von dem Raub erfuhr, und nach Hause ritt. Fast zu gleicher Zeit kamen seine Leute heim. Sie sagten, ihre Fahrt sei nicht gut verlaufen. Höskuld geriet darüber in Zorn und sagte, dass er nicht noch einmal Raub und Männerverlust von Hrut hinzunehmen gedenke. [...] Darauf kam Jorunn, seine Frau, um mit ihm zu sprechen. (Nach der von Heinrich Beck herausgegebenen Ausgabe München 1997, S. 47.

In diesem lakonischen Stil versucht Óskar Guðmundsson seine ævisaga zu gestalten, und es gelingt ihm sehr überzeugend. Auch an den zahlreichen Stellen, die den Leser über historische Zusammenhänge wie etwa die Christianisierung Islands oder die Eigenarten des isländischen Freistaats informieren oder zur Forschungsgeschichte Stellung beziehen, ändern sich Stil, Satzbau und Tonfall kaum. Fast unmerklich integriert sich der wissenschaftliche Aspekt in die Erzählung, die ihren einheitlichen Stil behält, und letztlich finden sich erläuternde Passagen durchaus auch in den mittelalterlichen Sögur. Es ist in diesem Zusammenhang nur folgerichtig, dass auf Interpretationen und weitergehende Wertungen des dichterischen Werks verzichtet worden ist. Aber Snorris Dichtung sowie die anderer ist stets präsent, und wie in den Sögur werden häufiger Strophen, meist aus der Skaldendichtung zitiert, und natürlich werden die Werke Snorris in die Chronik, als die sich die ævisaga letztlich präsentiert, einbezogen und in Struktur sowie bisweilen auch Genese vorgestellt, werden die handschriftlichen Traditionen erklärt, sowie, fast wie nebenbei, die gesamte Buchkultur Islands. Auch dies stets ohne vom einmal gewählten Duktus der saga abzuweichen. So wird, für die Jahre 1224-1227, unter anderem, auch die letzte Strophe aus der Háttatal (ein Verzeichnis aller nordischen Strophenformen, 102 an der Zahl, die Snorri kannte, aber auch ein Preisgedicht!) zitiert, dem dritten Teil von Snorris Edda, in dem er die Sprache auf den Skaldenlohn bringt:

Gløggva grein
Hefk gǫrt til bragar;
Svá’s tírœtt hundrað talit;
hróðrs ørverðr
skala maðr heitinn vesa
ef svá fær alla hôttu ort
(Ich habe die Versmaße genau erklärt und nun ist das Hundert voll. Derjenige, der sie alle beherrscht, soll nicht als des Lohns unwürdig gelten; S. 211)

Wie viele der Sögur verbindet diese Biographie, diese moderne saga von Snorris Leben Information, Zeitkolorit und eine meist abenteuerliche Lebensbeschreibung. Von Fehden ist die Rede, von brutaler Gewalt und von Machtkämpfen, aber auch von Festen, von Liebschaften, von Freude, Leid und Trauer, von Alltagswirklichkeit und von Poesie. Das Bild von Snorris Zeit, das hier geboten wird, ist realistisch und gründet sich auf den Realismus der alten sögur. Óskar Guðmundsson hat eine neue Íslendinga saga verfasst, die Snorris Leben nach den alten Beschreibungen nachzeichnet und es, unmerklich eben, durch Erkenntnisse aus heutiger Forschung ergänzt.

Dem langen Anmerkungsteil folgen eine umfangreiche Bibliographie sowie unverzichtbare Indices. Im Hinblick auf leichtere Lesbarkeit für ein nichtisländisches Publikum wurden die meisten isländischen Sonderzeichen aufgelöst.

Michael Dallapiazza

Óskar Guðmundsson: Snorri Sturluson. Homer des Nordens. Eine Biographie.Mit einem Vorwort von Rudolf Simek. Böhlau Verlag Köln, Weimar, Wien 2011. 447 Seiten. Originalausgabe: Snorri – ævisaga 1179-1241. Reykjavík 2009

[*] Diese Rezension schrieb: Michael Dallapiazza (2012-04-30)

Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.


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