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Eckhard Henscheid - Über Manches
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Henscheid, Eckhard:
Über Manches

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(Bücher frei Haus)

Den Autor Henscheid (Jahrgang 1941) wird man einen Humoristen und Satiriker nennen wollen, wird beifügen, er stamme aus dem kleinbürgerlichem Stande der oberpfälzischen Stadt Amberg, sei Ende der sechziger Jahre als ordentlich ausgebildeter Journalist in die Redaktion der Frankfurter Juxzeitschrift „pardon!“ eingetreten, hätte seither sich oft mit entweder dem bayerischen Provinzleben oder dem prätentiösen Geschwafel sogenannter Metropolen-Intellektueller befasst. Anhänger werden beharren, dass es in seinen Schriften vor lauter Lachen kaum aushaltbare Stellen chaotischer Alkoholiker-Selbstdarstellungs-Redeschlachten wie auch sehr scharf Bemerktes zu Marcuse, Adorno, Schubert, Habermas, Heinrich Böll und sonstige Nationalherosse deutschen Ragens gäbe.

Verlagstechnisch ist die Bücherkarriere des murmelnden Karl-Kraus-Nachfahren suboptimal abgegangen. Was Mitschuld tragen mag daran, dass er in seinem hohen Alter noch immer nicht volksweit als bester deutschsprachiger Dichter seiner Zeit (wir reden, wohl gemerkt, von den siebziger und achtziger Jahrzehnten, seither bröckelt die Majestät mählich) bedankt wird, vergoldet, was auch immer. Durch „pardon!“ - und ein Jahrzehnt später dessen Nachfolger und Überwinder „Titanic“ - kam Henscheid in Geselligkeit mit und ins Kuratorium der „Neuen Frankfurter Schule“ (des Unernstes, nachdem die Horkheimers zu ernst sich geriert hatte), bei Seiten von Robert Gernhardt, Friedrich K. Waechter, Hans Traxler, Chlodwig Poth zu sitzen. Und dann, wohl über Waechter und einen Auftrag, einen Film von Woody Allen zu übersetzen, zum Diogenes Verlag und zu dessen damaligem Lektor Gerd Haffmans. Zuvor und dazwischen schon hatte er sich mit dem Billigkulturversender Zweitausendeins verbandelt. Furore gemacht mit einem Roman, vor dessen Zustandekommen eine Frankfurter Wirtshausrunde ihm Anteilscheine abgekauft hatte, damit sie sich im Dostojewskij-Maßstab durch den Kakao ihres eigenen progressiv betroffenen Geredes später gezogen lesen durfte. Jedenfalls vertrieb Zweitausendeins Henscheid ab da als „saukomisch“, was vor allem Leser zu interessieren versuchte, die Bukowski schon länger für „sauerotisch“ anzusehen liebten. Mit zahllosen Büchlein bei Haffmans, der sich in Zürich selbstständig gemacht hatte, wurde Henscheid einem dann auch noch als Titanic- und also quasi Robert-Gernhardt-Knappe empfohlen.

Dem Ruhm hat es einerseits genützt, Henscheid möglicherweise aber auch bis in Ewigkeit aufs tote Gleis eines prä-grünen WG-Spaßmachers aus den Kanzler-Schmidt-Jahren abgestellt. „Ein Wirrkopf“, soll Professor Habermas gesagt haben, „ein Idiot“ der allerlauteste Kulturabstempler und sublimste Fernsehliteraturist von der West-Republik. So steht es im Klappentext vorliegenden Werkquerschnitts. Wer oft grob über die Lieblinge des Feuilletons herzog (die Überschätztesten der vergangenen Jahrzehnte seien Sartre, Camus, Calvino, Minetti, Ingmar Bergman, Woody Allen, Fischer-Dieskau, Böll, Grass, Handke, Botho Strauß, Kubrick und Fassbinder, liest man hier), sich gleichwohl oft ganz dünner Späßchen zu erfreuen pflegte („Diese Bilder benötigen keinen Kommentar“ Na ja, besonders stringent ist das nicht. Also eventuell: „Diese Bilder benötigen keines Kommentars.“), den hat man als Stilisten und Romantiker des Abgesunkenen nicht wahrgenommen. Ja, nicht wahrhaben wollen, dass er nur und ganz einfach der Beste von den Lebenden und Schreibenden war. (Oder glaubt Sie denn, Peter Härtling, Günter Herburger oder Marin Walser hätten ihre damaligen Tage bleibender ins Wort hinein gebracht?)

Henscheid ist aber schon auch selbst schuld; er macht es einem nicht leicht! Einen weiteren Schriftsteller mit solcher Fülle altertümlicher Grillen des Sammelns und Aufzählens wird man Ende des zwanzigsten Jahrhunderts nicht leicht finden. (Arno Schmidt hielt bis 1979 noch durch.) Henscheid füllt sein Schreibpensum gern mit leserseits eher Unwillkommenem - tut es hier auch noch einmal, in dieser doch sehr lobenswerten Lesebuch-Versammlung: Pegnitz-Sagen, komisch verunglückte Grabsprüche von bayerischen Friedhöfen, Heldengedenken der besten Zeiten des Nürnberger Fußballclubs und von Eintracht Frankfurt, ziemlich seltsame Anekdoten über Adorno, Hegel oder Wagner, die Kammersängerinnen Erika Köth und Rita Streich, die „Ahime!“-Ausrufe in Verdis Opern, Schachspiel, Erdichtung peinlich-betulicher zeitkritischer Warn-Sonette, wie es der Chef Karl Gerold in seiner Frankfurter Rundschau erbarmungslos Jahrzehnte lang zu tun pflegte, sentimentale Tiergeschichten, vorzüglich über kleine Katzen, Schwedenkriegsanekdoten, die schwurbeligsten Titel aus der Reihe „suhrkamp taschenbuch wissenschaft“, die Selbstpreisungen des Hesse-Doktors S. Unseld (aus Ulm), Liebeslyrik Reich-Ranickens an Ulla Hahn und Herrrmann Burrrgerrr, seitenlanger Versuch, einen Schmerz in seinem Körper in Worte zu übertragen, bodenlos geistreiche Aphoristik in den Schuhen des österreichischen Wortmagiers Werner Schneyder, Schamlosig- und Verludertheit-Nachweise beim schwarzschafigen Niederrheiner Hadi Hüsch. Und so weiter und fort. Von einem mit fotografischem Gedächtnis Operierenden! Er wusste alles. Vor allem das Unwichtige! Er vergaß nicht. Und wiederholt manches davon vielleicht gar zu gern und etwas zu oft.

Es ging Henscheid nie darum, auf Kosten besoffener Provinzler dralle Gaudi zu generieren. Es ging, wie einst dem seligen J. P. Friedrich Richter, ums nimmer nachgebende Zusammenzwingen allen sehr Getrenntens, ums Aufheben in coelestine Sprachschönheit hinauf. Inkommensurabilität, was dieser Terminus bedeutet, lernt ein Henscheidleser rasch. Das Göttliche waltet in der Unio mystica von Genie und Dürftigkeit. Immer braucht es zuerst eine ausgemachte Doofheit, dann einen, der sie als Zauberworte zu deuten vermag.

Eine Lockung sicher, auch hier noch einmal eine von Henscheids glorreichen Abrechnungen mit seinem lebenslangen Gottseibeiuns zu zitieren. Wir hingegen versuchen es im Ernst. Wir steigen ein in den humorigen Dinkelsbühl-Nördlingen-Roman „Die Mätresse des Bischofs“. Und erleben, wie der Lenin-ähnliche Kerzenhändler Lattern, alkoholisiert und eitel besoffen auch von seiner Hinterfotzigkeit, in den seligen Reigen einer Weihnachtsfeier hinein kracht, die umstandslos zu besten Freunden Erklärten in den Schnee hinaus treibt und an einen Weiher fährt, über dessen Eis er Benzin ausgießt. Wer, fragen wir, dieses jetzt hier folgende Deutsch verfasst hat, heißt er nicht gültig und gerechtfertigt, mit seinen Herren Idolen (Franz Kafka, Joseph von Eichendorff, Italo Svevo, Vladimir Nabokov, Onkelchen Dostojewskij) Geselligkeit und Umgang jederzeit pflegen zu dürfen und können?

Zitat:

Der Himmel taute sternenklar, der Mond trug einen geistlichdünnen Hof. Lattern, bienenemsig, hatte sofort mit großem Schwung und Ehrgeiz aus einem Kanister Benzin über die kleine weißgefrorene Spiegeldecke des Sees gegossen, jetzt warf er schamanenhaft und ohne Scheu ein Streichholz drauf - und siehe, es begann zu flimmern und zu funzeln, wie Flächenbrand mit blasser lilablauer Flamme, gelben Zungen, weich und schmeichelnd, harmlos sengend, furchtbar furchtlos - selbst Lattern schien vor Freude zu erstarren. Ach! Nächt’ge Sanftheit hallte schauernd, wundersame Blasen tauchten in uns auf, holde Winke blauten, Tränensäcke schimmerten viel Hoffnung wieder, so gilb, so fromm, so gut, daß ich, im Feuerschein der glühend sinkenden Schneeflocken, Kuddernatschen rauher in das Händchen griff und mir fast mein Chemiestudium und Kathi ihre unselige Ehe mit mir verzieh.


[*] Diese Rezension schrieb: Klaus Mattes (2016-02-03)

Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.


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