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Daniel Kehlmann - Der fernste Ort
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Kehlmann, Daniel:
Der fernste Ort

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(Bücher frei Haus)

Was wäre, wenn einer tot wäre, es selbst aber noch nicht gemerkt hätte? Was, wenn jemand zu seinem eigenen Spiegelbild würde, echt von nun ab jener Zweite, er selbst nur noch dessen Abbild? Und jetzt würde „der Echte“ weggehen, ihn, das Bild, ganz alleine zurücklassen! Wie ist es, wenn du einen viel brillanteren Bruder hast? Immer glückt diesem Bruder alles, dem Protagonisten zerfällt alles zu Stücken? Wie, wenn einer alle seine Bezugspersonen, Familie, Verwandte, Freunde, verlieren und in einer Leerzone aufwachen würde? Sein Vater fällt die Treppe runter. Die Mutter nimmt Schlaftabletten. Die Freundin, deren Inneres ihm schon immer irgendwie fremd war, geht auf und davon. Das Kind stirbt. Und dann nach alldem die einmalige Gelegenheit, einen Badeunfall zu inszenieren, aus der einen, leeren Existenz wegzugehen und hinter der Maske einer anderen Person neu noch mal einzusteigen!

Immer wieder ist Daniel Kehlmann der Autor solcher „Modelleinfall“-Geschichten gewesen. Das Modell, der Plan, der Plot ist zuerst im Kopf. Dieser Mechanismus, den man, wäre man diesem kühlen, mechanistischen Schreiben hold, spannend nennen würde. Oder sogar: philosophisch. „Die Realität in Frage stellend“, dem Autor wäre diese Charakterisierung wohl lieb.

Die kleinen, unauffällig wirkenden Schräubchen und Rädchen müssen sitzen wie vom Uhrmacher. Zum Schluss dann noch Fleisch um die Maschendrahtlandschaft so eines Romans: Figuren, Charaktere, Sprachstile, Orte, Jahreszeiten, Wetter, Nebenbei-Wahrnehmungen. Aus Konstruktion wird Text, der mit einem Mal sogar lebt. Daniel Kehlmann, Wunderkind des ersten Jahrzehnts vom 21. Jahrhundert kann so etwas. Jenes Renommee, als Augenzeuge bei allem schon mal zugeguckt zu haben, was er uns erzählt, gibt er gerne an Martin Walser ab. Vielleicht ist der Eindruck steriler Versuchsanordnung sogar Absicht. Der Leser soll möglicherweise die ganze Zeit spekulieren, dass es sich als Lügenerzählung, Traum oder nicht zustande kommende Vision eines Sterbenden herausstellen wird. Und wenn der Leser dann mal sicher ist, es wird irreal herauskommen, wird es ihm schließlich als Walser-Realitätsgeschichte enthüllt werden. Oder irgendwie so. Doppelbödig jedenfalls, spukhaft.

„Ich habe gedacht, er entkommt aus seiner Patsche, jetzt erfährt man, in Wahrheit ist er schon tot gewesen!“ Das Problem ist, der heutige Leser kennt das auch schon alles. („Ein Vorfall an der Owl-Creek-Brücke“ und „Angel Heart“.) Schon hibbelt er ungeduldig. Autor Kehlmann simuliert noch an der simulierten Lebenswahrhaftigkeit herum, der Leser: „Mach jetzt mal voran, Mann!“

Man sollte den Borges gelesen haben, um rechten zu können, ob mit Kehlmann die Welt was Neues bekommt. Diese Büchlein haben viel mit akademischer Erkenntnistheorie und nahezu gar nichts mit der gesellschaftlichen Verfasstheit menschlicher Wirklichkeit zu tun. Man spürt auch nie, was den jungen Kehlmann emotional so hergenommen haben kann, dass er sich auf Wochen und Monate diese Tüftelei aufgegeben hat. Sind so die Taschenspieler-Tricks des postmodernen Erzählens. Die Art Stück, die sich gut bei Literaturwettbewerben macht, wenn‘s um Geläufigkeit und Geistreichtum geht, aber niemandes Gefühlen zu nahe getreten werden soll.

„Den fernsten Ort“ hatte ich vor mehr als zehn Jahren schon mal gelesen, also noch vor „Die Vermessung der Welt“. Das mich zufällig in seiner gebundenen Erstausgabe erreichende Werk eines unbekannten Deutsch-Österreichers. Ich konnte seinerzeit nicht fassen, dass irgendjemand „heute“ so noch schreibt. Das musste ein Einzeltäter sein. Schlecht war’s ja noch nicht mal. Ich habe es aber so dermaßen vergessen, dass ich beim Wiederlesen zig Seiten brauchte, bevor ich ganz sicher war, dass ich diese Lektüre tatsächlich das zweite Mal durchlebte. Dass es nicht nur „dieses surreale Gefühl“ war, um das es im Buch eben geht.

Zitat:

Eine Woche später packte sein Vater zwei Koffer. Als er sie in den Flur tragen wollte, stolperte er, fiel die Treppe hinunter und blieb mit rotem Gesicht und einem häßlich verdrehten Fuß im Flur liegen. Einer der Koffer hatte sich geöffnet und seinen Inhalt, Hemden, Unterwäsche, einen Rasierapparat, mehrere Paar Schuhe, über den Boden verteilt. Der Vater lag da, blickte um sich, überrascht, mit offenem Mund, fast neugierig, und seine Lippen bewegten sich, ohne daß ein Laut zu hören war. Er griff nach einem der Schuhe, drehte ihn in seiner Hand, als hätte er ihn noch nie gesehen, und legte ihn wieder weg. Die Mutter kam die Treppe herunter, ging zum Telefon und suchte die Nummer der Ambulanz. Aber sie fand sie nicht; auch dem Vater fiel sie nicht ein. „Habt ihr die nicht in der Schule gelernt?“ - „Doch“, sagte Julian, „sicher!“ Aber er konnte sich nicht erinnern.

Die Stelle ist einfach, makellos geschrieben, sie funktioniert. Was stört mich da? Es ist die Manier Kehlmanns, seinen Konstruktionen „Wirklichkeit“ zu geben, indem er vermeintliche „Beobachtungen“ sorgfältig registriert wie hier diese Hemden, Unterwäsche, den umgedrehten Schuh, obwohl sie eine Rolle für seinen Text nur spielen könnten, wenn die Figur des Vaters jemals eine spielen dürfte. Doch Julians Vater ist nur Randfigur. Seine Funktion ist, den Sohn zu verlassen, ihn als Losgelösten in der Erzählung übrigzulassen. Nichts also übers Aussehen dieses Vaters, keine Dialoge mit ihm, wir haben nicht den Hauch einer Vorstellung, was für ein Mensch der ist. Sehen aber diesen hochgehobenen Schuh jetzt. Wozu?

Dennoch ist Daniel Kehlmann ja so besessen von Erzählerkonstruktion, dass auch dieses Bild der verstreuten Kofferinnereien nicht für sich allein im Buch steht. Vielmehr korrespondiert das mit einem Vorfall aus Julians Kindheit, als der Junge mal ausgerissen war aus dem Elternhaus. Damals stoppte ein Selbstmord am Bahnsteig seine Flucht aus allem raus. Im Nebel verstreut lagen Körperteile auf dem Schotter. Wie jetzt diese väterlichen Habseligkeiten auf dem Fußboden. Demnächst wird der Vater sich in Luft aufgelöst haben.

Aber das sollte uns eher warnen. Im Laufe des Romans wird nämlich die Figur Julian sich ebenfalls auflösen in Luft. Wir werden alleine zurückbleiben und uns fragen, wieso wir uns je für den interessiert hatten.

[*] Diese Rezension schrieb: Klaus Mattes (2016-07-12)

Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.


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