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Literaturforum: Moral und Geschmack bei Nietzsche


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Forum > Philosophie > Moral und Geschmack bei Nietzsche
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 Thema: Moral und Geschmack bei Nietzsche
vanhengel
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seit dem 14.04.2007

     
Eröffnungsbeitrag Abgeschickt am: 14.04.2007 um 22:44 Uhr

„Moral und Geschmack bei Nietzsche“


„Moral“ und „Geschmack“ sind zwei Begriffe, die, so verwunder-lich es auch erscheinen mag, bei Nietzsche aufs engste zusammen gehören. Also müssen wir uns fragen, zumindest will Nietzsche es so, was „Geschmack“ mit Gut und Böse zu tun hat? Und Nietzsche schreibt im Frühjahr/Sommer 1883 in sein persönliches Notizheft, dass „Moral … Geschmacks-Sache“ sei (N, 10, 7 [62]). Wir bezeich-nen doch nur etwas als „Geschmacks-Sache“, wenn wir zu einem bestimmten Sachverhalt ein nicht gerade wohlwollendes Gefühl he-gen und auch kein ebensolches Urteil fällen würden, gleichwohl an-dere Gefühle und Urteile in jeder Form freilich zulassen. Irgendwie berührt es uns ja nicht weiter. Wir lassen den Geschmack auf sich beruhen, auch wenn Andere anderer Meinung sind als wir. Doch im Hinblick auf die Moral, also im Hinblick auf Werturteile, die unser Leben aufs Grundsätzliche berühren, ja, im Hinblick auf Urteile, nach denen wir unser Leben ausrichten, von Geschmack zu reden, scheint vermessen, wenn nicht gar überheblich.
Doch in der nächsten Viertelstunde wollen wir versuchen, diesen Eindruck zu relativieren, nein, umzubiegen in eine neue Perspektive von Moral.
Im Grunde sind wir hier schon, lange bevor wir daran gegangen sind, die beiden Begriffe Moral und Geschmack zu definieren, was immer auch mit der Gefahr zu tun hat, sich zu verlieren, in die Mitte unserer Absicht vorgestoßen – wir müssen uns nur anschauen, wie Nietzsche im Sommer 1881 „ein Urtheil“ definiert: Er bezeichnet ein Urteil als „Geschmack in seiner untersten Stufe“ (N, 9, 11 [164]). Wir sehen hier sofort, dass Nietzsche der Erkenntnis bzw. dem Festset-zen von Eindrücken keinen allzu hohen Stellenwert beimisst – zu-mindest solange nicht, wie man auf eine feste Wahrheit aus ist, eine „Wahrheit“, die sich über immer wieder neue Eindrücke und sich neu ergebende Situationen stülpt, ohne aus diesen Eindrücken und Situationen wiederum etwas Neues, vielleicht noch nicht Festgefah-renes zu machen (was sonst bedeutet „Verliebtsein“?).
Kurz gesagt: Nietzsche mag keine Menschen, die sich von Prinzi-pien bestimmen lassen, also keine eigene Stimme haben. Er mag kei-ne Menschen, die ohne Leidenschaft durchs Leben gehen, Angst davor haben und immer nur alles berechnen. Ein Leben, das rech-net, ist arm. Er mag vielmehr diejenigen, die gegen „das beharrende Verhältniß“ (N, 9, 11 [156] – Sommer 1881) angehen.
Wenn er von einem untersten Geschmack redet, dann können wir davon ausgehen, dass er auch den „schlechten Geschmack“ im Hin-terkopf hat. Und in der Tat, in seinem 1886 veröffentlichten Werk „Jenseits von Gut und Böse“ schreibt er: „Man muss den schlechten Geschmack von sich abthun, mit Vielen übereinstimmen zu wollen.“ (JGB, 5, 43) Das eben ist das Merkmal des „kleinen“ Menschen, dem der Mut fehlt, etwas Eigenes hervorzubringen, nein, die Phantasie hat er, nur nicht die Courage, sie auszusprechen. Die Triebstruktur der „kleinen Menschen“, von denen es „wohl viele“ „giebt“ (N, 10, 7 [62]), wie Nietzsche lächelnd und ironisch, so wie man sich ihn meistens vorstellen muss, behauptet, ist so gezeichnet, dass in ihnen „ein Trieb nicht souverän geworden ist: in denen giebt es keine Über-zeugungen“. Es gibt in ihnen keine Überzeugungen, so könnte man den Satz weiterführen, die sie für ihr Leben einstehen lässt.
Der dagegen souverän gewordene Trieb sucht sich ein Medium, in dem er sich ausdrücken kann, sodass er als Überzeugung „zum Re-den kommt“. (Frühjahr/Sommer 1883 – N, 10 7, [62])
Man erkennt nach diesen wenigen Zitaten natürlich, dass Nietz-sche der direkte Vorläufer Freuds und der Psychoanalyse ist. Wir wollen von daher hier die These wagen: Für Nietzsche ist alles, was sich ereignet, ob in der Realität, in Träumen, in der Phantasie oder in transzendentalen Apperzeptionen, nur Zeichen – und Zeichen ver-langen danach, interpretiert zu werden!
Wenn wir interpretieren - und das tun wir in jedem Moment unse-res Lebens, und wir müssen es tun, alle, sonst finden wir keine Ori-entierung und keinen Halt -, wenn wir also interpretieren, so richten wir uns nach unserem individuellen Stimmungs- und Krafthorizont aus. Wir legen die Dinge aus nach letztenendes nicht zu durch-schauenden Kriterien, wiewohl unser Leben immer wieder danach verlangt, sich auszulegen und in diesem Sinne auszuleben. Jeder Begriff, jedes Gefühl und jedes noch so banal erscheinende Empfin-den ist, wie Nietzsche sagt, „nur eine Übersetzung in die Sprache des Gefühls aus dem Nichtfühlenden“. „Also sämmtliche Funktio-nen gehen ihren Gang: aber wie wenig merken wir davon!“ (N, 10, 7 [25] – Frühjahr/Sommer 1883)
Ohne es eigens beim Namen zu nennen, spricht Nietzsche hier von unserem Unterbewusstsein, also von einer unentdeckten und viel-leicht unentdeckbaren Insel, von der her in unserem Leben zuletzt alles interpretiert wird und von der her nur interpretierte Zeichen herkommen, so schwankend, dass sie immer auch anders ausgelegt werden könnten; Wahrheit im Endeffekt also immer nur vorüberge-hend wahr ist und eben nur so beansprucht werden darf. Nicht einmal halbwegs sicher dürfen wir uns fühlen.
Geschmack hat also auch etwas mit dem zu tun, was man wagen will. Denn: wenn gar nichts sicher ist, müssen wir uns etwas sicher machen.
Das Unterbewusstsein setzt sich bei Nietzsche völlig zurecht aus der Symbiose des dionysischen und des apollinischen Triebes zu-sammen. Es ist das sich gegenseitig bedingende Spiel zweier Kräfte: der Kraft, die spielen will, und der Kraft, die dem Spiel Grenzen Einhalt gebieten muss, damit dem Rausch noch genügend Ehrgeiz geboten wird, die Grenzen zu überschreiten. So gesehen, ist ein Mensch ständig im Dialog mit sich selbst und niemals monolog. Die ausgeprägteste Form des Dialogs mit sich selbst ist das Dasein des Künstlers.
Unser Leben ist ein Spiel zwischen Rausch und Berechnung; und dazwischen wiederum spielen sich Gier, Gewissen, Neid, Eifersucht, Angst und Misstrauen auf und ab…
Aus diesem Widerspiel der Kräfte, aus dem unendlich viele Bedeu-tungen für ein und dasselbe Zeichen entstehen, lässt sich nun Fol-gendes folgern: Nichts ist bedingungslos wahr oder falsch. Nichts ist einfach nur gut oder böse. Absolut nichts!
„Bei rohen und naiven Menschen“, so lesen wir in Nietzsches per-sönlichen Notizen aus dem Frühsommer 1883, „herrscht die Über-zeugung auch in Betreff ihrer Sitten, ja ihrer Geschmäcker: es ist der bestmögliche. Bei Culturvölkern herrscht eine Toleranz hierin: aber um so strenger hält man fest an seinem höchsten Maßstab für Gut und Böse: darin will man nicht nur den feinsten Geschmack haben, sondern den allein berechtigten.“ (N, 10, 7 [62])
Gegen die landläufige Auffassung, dass Moral die Legitimität der Wahrheit sei, setzt Nietzsche die legitime Notiz: „Moral ist Ge-schmacks-Sache“, um damit auf beinahe ironische Weise auf eine andere Art von Denken, die möglich ist, aufmerksam zu machen.
Geschmack ist Metapher für das Individuelle des Menschen nicht nur in seinem Alleinsein, sondern auch in Gesellschaft. Nietzsche wendet sich, wie im Grunde in all seinen Schriften, gegen eine Mo-ral, die eine „Uniformierung der Empfindung“ (N, 9, 11 [156] - Sommer 1881) will. Er verabscheut Menschen, die sich gegen die Vielfalt von Meinungen und Weltbildern auch in sich selbst stellen.
Eine Moral, die uniformierte Empfindungen will, greift in die spontanen Bewegungen des Lebens ein, will sie reglementieren und kontrollieren – und erzeugt damit genau das Gegenteil: Krankheit, Verwirrung und Desorientierung! Die Moral der Uniformierten – und wir leben augenblicklich in einer individuellen Orientierungs-losigkeit und Obdachlosigkeit, weil alle Welt individuell sein soll und damit ziemlich überfordert ist – wendet sich mithin gegen die Kunst und den Künstler. Uniformierung bedeutet schließlich nach außen hin vorgespielte Toleranz, nach innen aber die brutale Macht-ausübung, die individuelle Bedürfnisse einschränken will. Sie will, wie Nietzsche sagt, nur den „Normalgeschmack an allen Dingen“. Sie will „die feineren Formen, den idiosyncrasischen Geschmack aus-scheiden und tödten – sie arbeitet gegen die Individualisirung, den Geschmack, der nur für Einen Lebensbedingung ist.“ (N, 9, 11 [156])
Idiosynkrasie, wie Nietzsche sie versteht, ist die übermäßige Ab-neigung gegen jedwede Durchschnittlichkeit und Mittelmäßigkeit, das, was er „Normalgeschmack“ nennt. Ein feiner Geschmack dage-gen stellt hohe Anforderungen an sich selbst, was eo ipso aus-schließt, dass man „mit Vielen übereinstimmt“. Der in der Masse verebbende Mensch hat keine hohen Ansprüche an sich selbst, sonst wäre er nicht verebbt.
Wie wir sehen, ist Nietzsches Moral-Begriff ein völlig neuartiger. Der Einzelne soll nicht in der Allgemeinheit verschwinden, sondern seine eigenen Interessen gegen andere Individuen erkennen und verantworten. Das macht die Persönlichkeit eines Menschen zuletzt aus. Dies schließt freilich in sich ein, dass man den anderen in seiner Persönlichkeit, in seinem Geschmack auch anerkennt. (Wenn man sich selbst nicht anerkennt, kann man auch niemand anderen aner-kennen!)
Auf dem Boden einer solchen Form des Miteinanders sieht Nietz-sche „das Individuum wachsen, welches seine wohlverstandenen Interessen gegen andere“ vertritt. Aber das Wesentliche in einer sol-chen Moral ist, dass nicht nur der Einzelne an sich wächst, sondern auch eine „Gerechtigkeit unter Gleichen“ entsteht, „insofern es das andere Individuum als solches anerkennt und fördert“ (N, 9, 6 [163] – Herbst 1880). – Ja, man hört richtig: Nietzsche redet nicht nur da-von, den anderen in seiner Persönlichkeit anzuerkennen, sondern man soll ihn vielmehr noch fördern! Ist es nicht eigentlich so, dass man seine eigenen Interessen gegen Andere einfordern will. Es scheint vordergründig also absurd, den Anderen zu fördern!?? So ab-surd ist es aber gar nicht.
Denn je weiter eine Persönlichkeit entwickelt ist, umso größer ist der Wille, den Anderen zu stärken. Das ist freilich nicht uneigen-nützig und ebenso wenig rein altruistisch! Es ist vielmehr weise. Er ist weise, insofern er spürt, dass ein energetischer Kreislauf in Gang kommt, in dem der Eine in der Kraft des Anderen sich weiter her-vorbringt und „schöpft“. Natürlich hört es sich erst einmal vermes-sen an, wenn man sagt, dass es weise sei, den Anderen zu stärken und zu fördern – wenn man Nietzsche kennt, muss man nur mit dem Kopf schütteln: wie hat er sich gegen den Altruismus gewehrt! Doch wir werden schnell verstehen, was es bedeutet, weise zu sein, wenn man Nietzsche auch hier selber reden lässt. „Das griechische Wort“, schreibt er in der unvollendeten Frühschrift Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen von 1873, „welches den ‚Weisen’ bezeichnet, gehört etymologisch zu sapio ich schmecke, sapiens der Schmeckende, sisyphos der Mann des schärfsten Geschmacks; ein scharfes Herausmerken und –erkennen, ein bedeutendes Unter-scheiden macht also, nach dem Bewußtsein des Volkes, die ei-genthümliche Kunst des Philosophen aus.“ (PZG, 1, S. 816)
Wir kennen Sisyphos als denjenigen, der ständig einen schweren Stein einen komischen Berg hochstemmt, um, oben angelangt, mit-ansehen zu müssen, dass er wieder hinabrollt, sobald er ihn loslässt. Und Sisyphos beginnt von neuem, ihn hinaufzustemmen.
Warum aber bewundert Nietzsche diesen sich mit dem Stein be-schäftigenden Sisyphos als „Mann des schärfsten Geschmacks“? Wenn man den Stein als die eigene Seele betrachtet, dann ist es ganz einfach: weil kein Tun im Leben umsonst ist, und weil kein Tun zu-letzt den Zweck erreicht, den man erreichen will. Er entzieht sich uns. Das ist der Name für das Leben: es ist autark, es bestimmt uns, nicht wir es! Sinn erschaffen wir nur, indem wir aus uns etwas ma-chen, weniger aber in dem Zweck, hinter dem wir unser geheimen Gedanken verstecken. Ansonsten wäre das Leben eine Beamtentat, einteilbar und beherrschbar von Leidenschaftslosigkeit und Kälte. Nietzsche aber liebt die, die mit sich selber experimentieren, die, die ihre Gefühle und Empfindungen nicht dauernd verraten und in ir-gendwelche Belanglosigkeiten verflüchtigen.
Und insofern Sisyphos das beherzigt, verschmelzen bei ihm Weis-heit und Geschmack. Und: er macht kein Gesetz und keinen morali-schen Grundsatz daraus! Er empfindet den Sinn des Lebens und sein Glück in einem zweck-losen (mit Bindestrich!) Tun. Der Zweck ist das Tun selber! Darin steckt die Freiheit.
Menschen mit feinem Geschmack haben keine moralischen Geset-ze nötig. Sie finden sie in sich selber. Sie sind autonom und werden, der Erholung wegen, dann und wann doch mit Vielen übereinstim-men! Geschmack ist also eine Metapher für „das Persönliche“ eines Menschen als „das ewig Unwiderlegbare“ (PZG, 1, S. 803). Das be-inhaltet eine Ethik der Verantwortung: den Anderen in dessen Un-widerlegbarkeit anzuerkennen! Und zu fördern… Das, so meinen wir, meint Nietzsche, wenn er fordert: „Reduktion der Moral auf Aesthetik!!!“ N, 9, 11 [79] – Frühjahr/Herbst 1881)


van hengel
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Franklin Bekker
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1. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 21.04.2007 um 15:26 Uhr

Diese Nachricht wurde von Franklin Bekker um 15:32:51 am 21.04.2007 editiert

Hallo Vanhengel. Nichts für Ungut, aber sprengt dein Beitrag nicht ein wenig den Rahmen? Ich habe eine Hausarbeit über Grausamkeit in Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" soll ich die auch gleich nochmal anhängen?

Der Standpunkt meiner Hausarbeit ist letztlich, dass es Grausamkeit an-sich nicht gibt, sondern immer nur in der Interpretation eines dem Machtwillen eines anderen unterworfenen (komplizierter wird es dann, wenn man sich um die Verinnerlichung von Grausamkeit in der europäischen Cultur kümmert.) Hier ist der Punkt: Nietzsche hat seiner Philosophie überhaupt nur einen Namen gegeben: Perspektivismus. Wir können uns einer Perspektive zu bemächtigen versuchen, also versuchen durch die Augen eines anderen zu sehen. Aber wie wir sehen müssen, erfahren wir nur aus dem Handeln, Reden und Werten des anderen. Damit liegt Moral in der Art und Weise, wie jemand die Welt wahrnimmt, begründet. Ebenso Geschmack. Geschmack ist das Konzept an dem sich nachvollziehen lässt, was es heißt Moral Perspektiven unterzuordnen.

Aber vielleicht magst du deinen Beitrag in ein paar weniger Sätzen zusammenfassen. Das käme, denke ich, angesichts des Kommunikationsrahmens der Diskussion zu Gute.

Nietzsche soll auch etwas gesagt haben wie: Über Geschmack kann man nicht streiten, aber es is das einzige worüber wir streiten wollen. Bist du zufällig auf diese Textstelle gestoßen?


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vanhengel
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2. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 22.04.2007 um 12:45 Uhr

... ja, franklin, du hast völlig recht.
der essay ist zu lang. aber das war nicht ganz ohne absicht.
denn das internet, sprich: einzelen seiten auf den foren sind zu hastig!
sie fordern meist dazu auf, schnell über etwas hinweg zu gehen, hinweg zu sehen.
die aufmekrsamkeit auf das wort verkümmert; die innere unruhe gewinnt immer mehr an fahrt und - an unerfüllter begriedigung.
du hast recht mit dem, was du über nietzsches perspektivismus sagst. nicht mehr vernunft und moral, also fremdbestimmung, sind ausschlaggebend, sondern selbstbestimmung: dazu muss man aber eine eigene stimme haben und sie hören (= geschmack).
"alles leben ist streit um schmecken und geschmack und muss es sein. - was bin ich denn, wenn ich nicht das bin, worüber zu streiten ist: ein geschmack!"
(nachlass, band 10, sommer 1883, 12 [43])

sich selbst zum experiment machen - darum geht es im leben.
das ist der einzige sinn.

liebe grüße, vanhengel
!


van hengel
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3. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 22.04.2007 um 22:25 Uhr

Wenn man Nietzsches aphoristische Paradoxa philosophisch festnageln will, dann spricht man in den meisten Fällen von der "Blickwinkelphilosophie", weil man sonst ein Riesenproblem hätte mit den Stellen von Nietzsche, die er selbst ein paar Seiten später verwirft, ergo unterstellt man ihm geflissentlich die Absicht, er wolle wilden aktionistischen Perspektivismus betreiben. Sehr fein aus der Affäre gezogen, allerdings die neurotische Konfusion in Nietzsches Schriften bleibt trotzdem bestehen, sie lässt sich nicht rationalisieren, sie will dunkel und kryptisch sein, und man tut dennoch das Licht der Aufklärung darauf werfen.

Gruß
Hyperion

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vanhengel
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4. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 22.04.2007 um 23:52 Uhr

... nein, tut man nicht; zumindest nicht alle (die meisten trauen sich nicht mehr an nietzsche heran).
sieh dir nur derrida und sloterdijk an, wie fein(fühlig) sie mit ihm umgehen; sie begegnen ihm in all seinen stimmungen, manchmal in bluttröpfige nuancen, das man nichts mehr verstehen kann...
bleibt dann nur noch ästhetik - oder ein neues menschenbild?

vanhengel


van hengel
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5. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 22.04.2007 um 23:59 Uhr

Was bleibt, wenn man vom hohen Ross der Wissenschaftlichkeit nicht abzusteigen gewillt und vermögend ist, ist der Absturz in die aisthesis der Kunst, der schönen Sprache, eo ipso um der Kunst willen. Dem kann und will jedwede Philosophie nicht Rechnung tragen. Außer der von dir besagte photo- und telegene Glashaus-Sprachkünsler qua Einzelkämpfer. Und der wissenschaftliche Mensch? Ecce homo.

Gruß
Hyperion

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vanhengel
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6. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 23.04.2007 um 22:36 Uhr

... wenn ich das richtig verstanden habe, wäre eine neue Kunst die des mit sich selbst experimentierenden künstlers - also "gegen die kunstwerke" (herbst 1883).
ist ecce homo nicht der sich ständig bezweifelnde und überwindende mensch?

gruß vanhengel


van hengel
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Franklin Bekker
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7. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 24.04.2007 um 17:35 Uhr

und die, die das licht der aufklärung nicht hinein lassen sind das die, die den größten teil von nietzsche mit der person nietzsche (ziemlich tot der mann und kann sich nicht wehren) erklären?
kein mann hat soviel beabsichtigt wie nietzsche. keinem menschen muss so viel unterstellt werden wie nietzsche.

neurotische konfusion oder der versuch nietzsches das licht der aufklärung an orte zu bringen, die wie schwarze löcher das licht der aufklärung verschlucken?

vielleicht auch das falsche thema hier. wir dürfen argwöhnen, denn selbst der, der spaß an nietzsches "paradoxen" und widersprüchen hat, der sie mit vollem herzen bejaht und sich an ihnen ergötzt, wird scich drei seiten später fühlen als hätte er nietzsche mit dm hammer befühlt.


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vanhengel
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8. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 24.04.2007 um 18:27 Uhr

... die großen philosophen haben leider alle ihre süchte hinter teils manierierten sätzen versteckt: hegel seine cannbissucht, kant seine sexuellen vorlieben oder kälte, platon seine schärfe auf kleine jungs, foucault seine sadomaso-vorliebe...
nur nietzsche versuchte kaum etwas zu verstecken...
"in einem leib von eis geborgen ein kostbarer tropfen süßen scharfen weins - das ist mir das glück - ja wenn es götter gäbe, sie wären mir auf diesen tropfen neidisch!" (Herbst 1883, nachlass, band 10, 17 [82])
nietzsche hätte mehr alkohol zu sich nehmen sollen, anstatt immer dieses wasser, aber vielleicht war seine sucht ja das wort, das feine wort, das er mit einem kleinen hämmerchen auf moralische unzulänglichkeiten hin abklopfte.

gruß vanhengel


van hengel
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9. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 24.04.2007 um 21:37 Uhr

Diese Nachricht wurde von Hyperion um 21:49:37 am 24.04.2007 editiert

Zitat:

wenn ich das richtig verstanden habe, [...] also "gegen die kunstwerke"

Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen um sich werfen! ;-)

Ich habe lediglich einen Perspektivenwechsel vorgenommen und die Wissenschaft, die sich für die Königin der Welt hält (ihre Ignoranz gegenüber dem ästhetischen Anspruch Nietzsche lesen zu wollen von ihrer Warte aus mit verschlossenen Augen ist schon wahnwitzig) kritisiert und ich habe keine Antwort auf die Widersprüchlichkeits-(Rezeptions-Antinomien)-Aufhebung bekommen. Ich habe auch am Anfang meines Studiums (da war ich noch blöd genug) eine wissenschaftliche Arbeit über Nietzsche geschrieben, allerdings über die "Metaphern" im Text "Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" und ich tu es nie wieder! Ich gedenke nie wieder Nietzsche in die Netze der Wissenschaftlichkeit und formalen Logikreusen einfangen zu wollen. Wenn Nietzsche, dann nur von der Seite der Kunst her, weil man ihm sonst nicht im mindesten gerecht wird, und zweitens weil er sich jeglicher Dogmengläubigkeit selber entzieht.

Nietzsche ist nicht einmal im strengen Sinne ein Philosoph gewesen. Ein (philosophischer) Dichter schon eher!

Gruß
Hyperion

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