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Literaturforum: Ausweitung der Kunstzone


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Forum > Aesthetik > Ausweitung der Kunstzone
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 Thema: Ausweitung der Kunstzone
Matze
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Eröffnungsbeitrag Abgeschickt am: 01.06.2007 um 05:05 Uhr

„Ein Bild ist – bevor es ein Schlachtpferd, eine nackte Frau oder
irgendeine Anekdote darstellt – vor allen Dingen eine plane Fläche, die
in einer bestimmten Ordnung mit Farben bedeckt ist“, beschreibt Maurice
Denis den Ausgangspunkt, mit dem ich die Arbeiten von Margareta Hesse
ergründen möchte. Daraus wird in der Mitte des 20. Jahrhunderts der
einflußreiche Kritiker Clement Greenberg die These ableiten, „daß der
eigene und eigentliche Gegenstandsbereich jeder einzelnen Kunst genau
das ist, was ausschließlich in dem Wesen ihres jeweiligen Mediums
angelegt ist“. Für die Malerei soll dieses Eigentliche vor allem in der
„Betonung der unvermeidlichen Flächigkeit des Bildträgers“ bestehen.
Von diesem Standpunkt aus erscheint realistische Kunst als Verleugnung
des Mediums und surrealistische Malerei bloß als „gemalte Literatur“.
Geht man stattdessen von einem erweiterten Modernebegriff aus, der den
Realismus und die historischen Avantgarden mit umfaßt, dann läßt sich
die Eliminierung des Literarischen aus der Malerei als eine Bestrebung
innerhalb der bildkünstlerischen Moderne ausmachen, die nicht zuletzt
deshalb als das entwicklungslogische Prinzip der postmodernen Malerei
erscheinen konnte, weil sie durch einen programmatischen Begriff
gestützt wurde. Die Kunstwelt zerfällt in zwei Hälften: in eine, die an
einem pathetischen, kritischen Kunstbegriff festhält und von ‚Kunst’
erwartet, daß sie neue Sichtweisen eröffnet, durch visuelle Schocks und
Verführungen das Sehen und Denken nachhaltig ändert, vorsprachlich
etwas aufscheinen läßt, was anders nicht formulierbar ist – und in
eine, die zwischen Kunst, Design und Kunsthandwerk nicht mehr trennen
mag und nur noch danach urteilt, ob etwas „formal gelungen“ ist. "Das
Schweigen von Marcel Duchamp wird überbewertet" – Joseph Beuys ließ auf
seine Worte 1964 eine Aktion folgen. Das Schweigen – oder vielmehr: die
Verweigerungsstrategie – seines Kollegen konterkarierte Beuys, indem er
Duchamps Readymade–Idee durch seine eigene Theorie der "sozialen
Plastik" erweiterte. Künstler sind so wichtig wie die Politiker, in
ihrer Fähigkeit, die Welt zu verändern. Die moderne Kunst spiegelt die
Werte und die Sorgen unserer Gegenwart, dem Publikum werden Türen
geöffnet über neue Art und Weisen, wie wir unseren Werten Ausdruck
verleihen können. So kann man sich mit der Kunst des 21. Jahrhunderts
Zeit ins Benehmen setzen. Auch aktuell stellt sich die Frage, ob sich
auf intelligente Weise Kunst produzieren läßt, indem man konzeptuelle
Hermetik auf der einen sowie frischfrommfröhliche Malerei auf der
anderen Seite gewissermaßen am Schopf packt und in eine ganz andere,
eigene Richtung zerrt.

Margareta Hesse, die seit 1995 Professorin an der Fachhochschule in
Dortmund ist, ist eine Figur der Ermutigung vor allem für junge
Künstlerinnen. Den Versuch, ihre Werke als feministisches Statement zu
lesen, zum Beispiel weil sie den weiblichen Körper und seine
Verletzbarkeit zu einer Zeit sichtbar machte, als dies für andere
Künstlerinnen schon eine politische Aussage war, wies sie selbst zwar
oft zurück. Aber nicht zuletzt, weil solche Lesarten möglich waren,
waren ihre Werke auch in vielen männlich dominierten Sammlungen begehrt
als Beleg für die Aufgeschlossenheit gegenüber Künstlerinnen. Ihre
Bilder stellen keine Zitate der ikonischen Moderne dar oder
Anspielungen auf bestimmte Schulen oder Agenden, sondern streben
trotzig nach Bewahrung ihrer eigenen Autonomie. Das Poetische und das
Mechanische gehen in vielen Arbeiten eine spielerische Verbindungen
ein, die auch gerade da, wo sie das Schöpferische der Kunst zu
ironisieren scheinen, nie die Lust am Narrativen und an einer
zärtlichen Zugewandtheit zu jeder Form von Entstehungsprozeß verlieren.

Paragone heißt der Wettstreit der Künste. Das intellektuelle Projekt,
die Rangfolge der klassischen Disziplinen Malerei, Bildhauerei und
Architektur festzulegen, wurde in der Renaissance Italiens geboren.
Während die Maler auf ihre illusionistischen Fähigkeiten verwiesen,
punkteten die plastischen Künstler mit der Vielansichtigkeit ihrer
Werke. Für das Medium der Bildhauerei hat sich Margareta Hesse bei den
»tubes« entschieden, weil konventionelle Mittel der architektonischen
Repräsentation wie der Grund– und Aufriß oder die Isometrie ihrer
Meinung nach dem Entwurf und der Darstellung ihrer experimentellen
Raumgebilde nicht genügten. Hier zeigt sich, daß ein wesentlicher
Aspekt der Arbeiten die Auseinandersetzung mit verschiedenen
Materialien ist und den sich aus ihrer Zusammenführung ergebenden
Kontrasten. Sie benutzt sehr gegensätzliche Materialien für ihre
Objekte und findet für ihre Werke stets ästhetisch schlüssige Lösungen,
bei denen jedes Material seine Wirkung voll entfalten kann. Ihre
Recherche und Lust galt bei den tubes dem Ausdruck der Materialien und
Formen im Objekthaften, dem Balanceakt zwischen neutral geometrischer
Form und semantischer Aufladung. Man könnte fast annehmen, es handele
sich um abstrakte Arbeiten, die von architektonischer Vorstellungskraft
zeugen, aber keine physische Wirklichkeit wiedergeben. Charakteristisch
ist das Nebeneinander unterschiedlicher Perspektiven, das es den
Betrachtern schwer macht, die Bilder zu dechiffrieren. Was sich da
zwischen Holz und Stahl manifestiert sind Architektur–Utopien, die an
die von gesellschaftlichem Aufbruch und technischem Optimismus
geprägten 1960er Jahre ebenso anschließen wie an die Arbeiten der
konstruktivistisch ausgerichteten russischen Avantgarde der 1920er
Jahre.

Ihre Kunstwerke haben etwas Lukullisches, wie es Bertolt Brecht nannte.
Die Form darf nicht abgelöst werden vom Inhalt, und der Inhalt braucht
eine angemessene Form. Während ihre frühen Arbeiten mit ihren
(de)konstruktivistischen Anleihen von einer Hard–Edge–Ästhetik geprägt
sind, zeigt sich in den jüngeren Projekten wie »einmal auf dem wasser
gehen und in die tiefe sehen« von urbanem Maßstab mehr und mehr eine
Tendenz zur Verflüssigung, indem sich die futuristischen Entwürfe als
geronnene Hohlformen dynamischer Kraftfelder oder als Kommunikations–
und Bewegungskanäle der Stadt erweisen. Das Thema der Verflüssigung des
Raumes die grundlegende Entwicklungstendenz von Margareta Hesses
Arbeiten in den vergangenen drei Jahrzehnten knüpft überdies an den
Genius Loci an, wurde doch schon Donald Judds Arbeiten in der
zeitgenössischen Kritik als Triumph räumlicher Verflüssigung gefeiert.
Die Dialektik zwischen dem Oberpriester der Moderne und der Diva des
zeitgenössischen Kunstbetriebs würde in diesem Spannungsfeld noch eine
pointierte Inszenierung erlauben. Zwischen dem mentalen Bild der
Künstlerin und dem Realisat klafft demnach eine erhebliche Lücke, falls
beide überhaupt je zur Deckung gelangen. Das Interesse der Künstlerin
gehört einem Material, das eigentlich vollkommen banal scheint:
Polyester. Scheinbar ein rein funktionales Baumaterial, das unter
anderem zu Zwecken des Sichtschutzes oder bei der Herstellung von
Segelflugzeugen eingesetzt wird. Durch das Übereinanderlegen mehrerer
Polyesterplatten erhalten ihre Arbeiten eine Räumlichkeit und
Mehrschichtigkeit, die sie von der Wand distanziert und in einen
scheinbaren Schwebezustand versetzt. Mit diesen Arbeiten emanzipierte
sich von der Schwere und Wuchtigkeit ihrer Wachs überzogenen Arbeiten
auf Holzplatten. Ein konzeptuelles Geflecht, das seine tückischen
Mechanismen hinter vordergründigen Sinnzusammenhängen versteckt, seine
wuchernde Komplexität unter einer oberflächlichen Ordnung. Und dessen
Schöpferin beim Gang durch die Ausstellung scheinbar über uns steht,
unsere Wahrnehmungskonventionen entlarvt, unsere
Klassifizierungsstereotype analysiert. Die Anstrengungen, die
unternommen werden, um das Profil eines individuellen Künstlers zu
schärfen und die Identität eines Werks zu definieren, also den
Ordnungsprinzipien einer Disziplin zu genügen, konterkarieren oder
dekonstruieren diese Zielsetzung immer auch.

Von visueller Prägnanz und bisweilen berückender Schönheit sind ihre
»Transluzide«. Margareta Hesse malt keine Allegorie–Hausaufgaben,
sondern zuweilen sehr ätherische Bilder. Sie wirft das lästige "Was
bedeutet denn das?" entschlossen über Bord, kann sich auf das
konzentrieren, was so grandios vor Augen liegt. Die Malerin ist dazu
übergegangen, die Leinwand nicht länger als begrenzte Fläche zu
betrachten, innerhalb derer sich ein Spiel der Korrespondenzen
figürlicher oder abstrakter Formen entfaltet, sondern als Arena für
künstlerische Handlungen, den puren Vollzug von Malerei sozusagen,
dessen Spuren sichtbar blieben. Margareta Hesse vermag sich von den
Zwängen konventioneller und sorgsam elaborierter Kunstregeln
unbeschwert zu bewegen und mit Hilfe ihrer Werkzeuge die Dynamik des
schöpferischen Geistes in einem ungeheuer konzentrierten Akt als
unmittelbare Niederschrift zu dokumentieren. Diese Arbeiten sind
ungegenständlich, sie leben von dem Gegensatz zwischen strengen,
seriellen Strukturen und natürlichen malerischen Elementen. Mattierte
und aufgerauhte Flächen erzeugen Transparenz und Unschärfe. Ihre
durchleuchteten Bilder ergreifen mit ihrer materiellen, wie farblichen
Präsenz vom Raum Besitz. Das Projekt »Transluzide« lebt von der
Variation klar festgelegter, reduzierter bildnerischer Mittel innerhalb
einer strengen geometrischen Systematik. Die reine Farbigkeit, die dem
Betrachter entgegenleuchtet, nimmt einen geradezu in einem optischen
Sog gefangen. Der Gegensatz von Materialität und Immaterialität, von
Sichtverweigerung und Einsichtgewährung, von Verschleierung und
Transparenz wird spielerisch aufgehoben. Farbe wird zur Geltung
gebracht und zurück genommen, Form geoffenbart und wieder verborgen.
Spannungsreich sind die Arbeiten dadurch, daß sie den Anschein haben,
in steter Entwicklung begriffen zu sein, denn was genau sichtbar wird
im jeweiligen Augenblick, was sich den Blicken plötzlich wieder
entzieht, bestimmt zum einen das Licht, zum anderen der Betrachter
selbst, der sich veranlaßt sieht, vor dem Bild auf und ab zu gehen, die
Räume zwischen den einzelnen Polyesterplatten zu erforschen und sich
vor den aus Silikon gearbeiteten Öffnungen auf den Bildgrund
niederzubeugen. Das Licht fällt durch die zwei in Distanz
hintereinander montierten farbigen, oft orange– und rotgetönten Platten
und eröffnet einen luftigen, im wahrsten Sinn des Wortes schwebenden
Sehraum, der je nach Betrachterstandort verschieden wahrnehmbar wird;
es tritt also im Werk der Künstlerin als Protagonistin auf und wird
selbst zum Akteur.

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Matze
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1. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 01.06.2007 um 05:05 Uhr

Die vom Licht modulierte Oberfläche der »Transluzide« ist keine
glasklare, kalte Platte, sie hat durch eingeschlossene Glasfasern eine
zarte, sinnliche Struktur, die das Technoide hinter sich läßt, oder sie
sabotiert bewußt die Transparenz dadurch, daß Margareta Hesse die
Polyesterplatten mit dem Schleifpapier aufraut oder gemischte Farben
hinzufügt. Die signifikante Materialität des pastos aufgetragenen
Schelllacks, erinnert an erstarrten Honig, diese ist prägend für diese
Arbeiten. Der Zwischenraum lädt dazu ein, vor dem Bild oder auch
seitlich wechselnde Standpunkte einzunehmen um durchzublicken, sein
Gemachtsein zu erfahren und seine Machart herauszubekommen. Durch die
Variation unterschiedlich breiter, senkrechter und waagerechter Linien,
durch die Oberflächenmattierung auf Vorder– und Rückseiten, den Einsatz
unbearbeiteter Flächen und die Kombination von zwei
Kompositionsplatten, die mit Distanz zueinander und zur Wand
voreinander gehängt werden, entstehen unterschiedliche Kompositionen.
Dabei bleibt die Farbigkeit reduziert auf die Materialfarbe des
Schellacks, und kontrastierend dazu ist das lichtschluckende Schwarz
eingesetzt. Die Module dieser Bildserie sind in Anzahl und Reihenfolge
unterschiedlich kombinierbar. Die Serie ist keine in sich geschlossene
Einheit und verändert sich durch unterschiedliche Lichtsituationen.
Margareta Hesse sucht den Ausgleich zwischen Natur und Kunst bzw.
Künstlichkeit, aber auch zwischen dem Rhythmus und nüchterner Strenge,
Industriematerial und Naturbelassenheit. Diese coincidentia oppositorum
einer artifiziellen Natur spiegelt sich auch im Verhältnis von
Einzelbild und Serienmodul wider. Wirken die Arbeiten durchaus von sich
aus und allein, das heißt individuell, so gewinnen sie an konkreter
Überformung durch die strenge Reihung an der Galeriewand – im ersten
Fall steht die sinnliche Erfahrung im Vordergrund, im zweiten der
musikalisch–abstrakte Rhythmus. Margareta Hesse nutzt als Bildträger
Polyesterplatten, die durchsichtig, aber nicht transparent sind,
aufgerauht oder unbehandelt legen sie sich wie ein Schleier über
darunter liegende Motive, dreidimensionale Durchsichten erzeugend. In
den weißlichen Polyesterplatten fand Margareta Hesse ein ambivalentes,
ästhetisch keineswegs leicht einzuordnendes Material, das sie
faszinierte – Polyester ist gleichzeitig Plastik und wirkt, aufgrund
der an die Strukturen der menschlichen Haut erinnernden, von feinen
Adern durchzogenen Oberfläche mit den eingeschlossenen Glasfasern,
beinahe organisch. Schellack, Acryl und Silikon werden als Träger
subtiler Farbigkeiten auf dem transparenten Untergrund genutzt. So
wertlos die Materialien scheinen, so ästhetisch ist das künstlerische
Ergebnis aus Polyester, Silikon, speziell aufbereiteter Ölfarbe,
Lackfarbe und Schellack. Das Material dominiert größtenteils die mit
opaken Farben aufgetragenen Strukturen. Jedes Wandobjekt spricht vom
Talent der Künstlerin für das Zusammenführen von Disparatem, von Hesses
Sensibilität im Umgang mit einem äußerst reduzierten Formenrepertoire
und von der Vorliebe für Linien, die mal dünner, mal dicker, mal quer,
mal längs, mal abgezirkelt, mal fließend die Kunstwerke konstituieren,
die den Transluziden eine reliefartige Oberfläche verleihen oder die
Objekte durchfurchen und ihnen so zur Tiefendimension verhelfen. Was
bleibt, ist Malerei, die einen kostbaren Kunstgeschichtsaugenblick lang
einmal nicht in der Form erstarrt scheint, die gleichsam unvermindert
als sinnliche Kraft weiterlebt. Diese Arbeiten bezeugen Margareta
Hesses intensive Recherche an der Schnittstelle von Architektur und
bildender Kunst.

Dem Augenreiz folgen, hinter den Spiegel sehen. Margareta Hesse
versteht Kunst als Komposition von Bildern, welche Sinneseindrücke
auffangen und den nie linearen Prozeß der Erinnerung samt gegenwärtigen
Assoziationen, Gedanken, Abschweifungen nachvollziehen. Augenfällig wir
dies bei den Experimenten „Rotstücke“ / „Grünstücke“. Hier wird die
coole Flächigkeit verdrängt von Raum und Perspektive. Ist die
materielle Identität eines Bildes in Bezug auf seine räumlichen
Grenzen, den konkreten Umraum, seinen ersten Kontext, nicht präzise zu
definieren, so ist es auch in der Zeit, das heißt im künstlerischen
Prozeß, der sich in den Malschichten niederschlägt, nicht eindeutig
fixierbar. Die künstlerische Fantasie bricht sich direkt Bahn, nicht
behindert durch die Schranken der Kontrolle des Vorgewußten. Das
Ergebnis dieser Experimente ist ein vielfach vernetztes, sich
überschneidendes, heftig pulsierendes Gefüge von Linien und Tropfen
unterschiedlicher Farbe, in das die Betrachter eintauchen müssen, um es
ganz zu erfahren. Es entstehen zwingende Formen, die ihre Komplexität
nur nach längerer Zeit preisgeben. Diese Arbeiten sind auf den ersten
Blick tatsächlich keiner gängigen Richtung der zeitgenössischen Malerei
zuzuordnen. Margareta Hesse malt nicht gegenständlich ihr Interesse ist
rein ästhetisch. Was in dieser Reihe entsteht, sind geometrische
Formen, die von ferne an Op–Art denken lassen, an die Abstraktionen der
Moderne. Dabei zitiert die Künstlerin nicht, sondern überführt das
Historische in eine unbedingt zeitgenössische Bildsprache. Jeder
Linienschwung, jede rasende Ellipse und jede Farbschattierung wirkt so
unverwechselbar und kostbar, wie es gute Malerei nur sein kann. Während
aber die Op–Art eher unsere Wahrnehmung auf komplett unsemantischer
Ebene testet, entfalten dagegen die Rot– und Grünstücke eine
verführerische Gegenständlichkeit, die sie zwar nicht intendiert aber
akzeptiert hat.
Margareta Hesse öffnet uns wieder die Augen dafür, wie aufregend
abstrakte Malerei sein kann. Die Artistin begnügt sich auch nicht mit
herkömmlichen Malmitteln, sondern verwendete kunstfremde Materialien.
Damit schließt sie Fenster der Malerei zum Raum hin endgültig auf und
erweitert die Leinwand zum vitalen Kraftfeld. In ihren Nachtvisionen
geht sie bis hart an die Grenze der totalen Auflösung, bis nur noch ein
letzter Verweis auf die Körperwelt – ein isoliertes Auge oder die
Andeutung einer Schädeldecke – übrig bleibt. Der Weg zur
Ungegenständlichkeit führt zu Schmutz und Reinheit, Vergeistigung und
Leidenschaftlichkeit, zwischen Freiheit und Notwendigkeit hindurch.
Auch die Oberfläche des Gemäldes stellt keine sichere Bildgrenze dar,
die den Willen der Künstlerin repräsentierte. Sie kann als die
kontingente Formation einer instabilen Tiefendimension gedeutet werden,
denn Röntgenaufnahmen haben eine Vielzahl an Malschichten und
Pentimenti festgestellt, die teils mit erheblichen konzeptionellen
Änderungen verbunden sind. Zuweilen herrscht in den Bildern Ordnung und
Nüchternheit, es sind entvölkerte Bilder, Pinselspuren, Farbwülste und
Glanzeffekte entwickeln eine eigene Wirkmacht.

Mehrere Museen in NRW widmen Margareta Hesse in 2007/08 eine
konzentrierte und inspirierte Ausstellung, die sich weder als Hommage
gebärdet noch dem Gestus der Retrospektive verfällt. Die in enger
Zusammenarbeit mit der Künstlerin entwickelte Schau erscheint vielmehr
als eine künstlerische Standortbestimmung, die Raum für Raum in Szene
setzt, wofür dieses Werk steht: das systematische Ineinandergreifen von
Körpererfahrung, skulpturaler Geste, poetischer Imagination und
medialer Reflexion. "All in the present must be transformed" könnte man
die künstlerischen Metamorphosen auch beschreiben. Vielleicht sollte
man da direkt mit der Transformation dieser Ausstellung beginnen. Mit
diesen Arbeiten sucht Margareta Hesse die Verschmelzung von Kunst und
Leben voranzutreiben und darüber hinaus die Ebene von Kunst in die
immaterielle Sphäre der Gedanken und Ideen zu verlagern. Margareta
Hesse gehört zu den wirklich relevanten Malern unserer Zeit, die lange
zu Unrecht im Schatten der modischen neuen Figürlichkeit stand. Der
Text zur Kunst, die Theorie zum Bild, die Entzifferungsanleitungen, die
der Künstler und Kunsttheoretiker seinen Bildern allgemein vermittelnd
an die Seite stellt, könne dieses "richtige Erleben" letztlich niemals
ersetzen: Die Künstlerin und das aus ihr entsprungene Werk wird
unbedingt dem Zuschauer, welcher dazu fähig ist, feinere Emotionen
verursachen, die mit unseren Worten nicht zu fassen sind. Wessen Seele
vor dem Nebel des Mauve und dem herandrängenden Gelb auch beim besten
Willen und gewissenhaftesten Dechiffrierungsbemühen nicht zu vibrieren
beginnt, dem ist also offenbar leider am Ende gar nicht zu helfen. Das
Rhizom scheint unter Kontrolle. Doch dann offenbaren diese
vordergründigen Ordnungen plötzlich Mechanismen, die voller Tücke sind.
Die Spannungen zwischen der Semantik, der traditionellen Ikonographie,
und der aktuellen Syntax, die Margareta Hesse erfindet, nimmt den
einzelnen Zeichen bereits ihre Eindeutigkeit. Sie tangieren auch die
semantischen Relationen zwischen den Zeichen, das heißt in der Sprache
der Kunstgeschichte die Komposition des Bildes und seinen
Bedeutungssinn. Diese Widersprüche, die Brüche oder Abweichungen, die
ihr Bild von der Bild– und Texttradition unterscheiden, den beiden
primären Referenzialen der innerbildlichen Zeichen, versuchen die
Interpreten aufzulösen. Es lohnt, sich auf dieses Angebot einzulassen.
Zu entdecken ist nicht zuletzt eine überraschungsreiche
Metaphernmaschine, die aber nicht selbstreferenziell nur die Kunst,
sondern weiter auch Alltag, Politik und Gesellschaft kritisch ins Auge
faßt. Es sind gerade diese auf den ersten Blick nicht unbedingt
wahrnehmbaren Eingriffe, die das Werk von Margareta Hesse auch in
anderen Ausstellungen als eine übergreifende Geste erscheinen lassen,
in der Wissen und Erfahrung, Geschichte und Gegenwart, Reflexion und
Einfühlung einander durchdringen. Gerade diese als übergreifender
Erfahrungsraum angelegte Ausrichtung dieser Ausstellungsreihe verleiht
der Wahrnehmung ihres Werkes neue Schärfe. Die Bewegung der Objekte und
die Wandlungsfähigkeit ihres Ausdrucks existieren nicht einfach in der
Zeit, sie sind vielmehr gelebte Zeit. Große Kunst besteht immer darin,
das so genannte Faktische, das, was wir über unsere Existenz wissen, zu
verdichten und es in einem neuen Licht erscheinen zu lassen. Ihre
präzisen Setzungen, ungewöhnlichen Materialkombinationen, fragilen und
zugleich monumentalen Konstruktionen reflektieren die umgebende Welt
und die Brüchigkeit des menschlichen Daseins. Das Unbestimmte ist Teil
der Ausstrahlung und der Qualität der Kunst von Margareta Hesse. Ihr
Geheimnis zu lüften, hieße, kunstgeschichtlich faßbar zu machen, was
sich im Grunde jeder Interpretation widersetzt. Das Beziehungsgeflecht
zwischen ihren Arbeiten hält Erinnerung und Besucher wach.

Matthias Hagedorn


Ausstellung im Gustav-Lübcke-Museum in Hamm vom 24. Juni bis zum 12.
August, Ausstellungseröffnung am 24. Juni um 11.30 Uhr

in der Städtischen Galerie im Schloßpark Strünkede vom 9. November 2007
bis zum 6. Januar 2008

im Museum Siegburg vom 4. Mai bis 15. Juni 2008

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