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Literaturforum: Nebensätzliches zum Weltgeist


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Forum > Aesthetik > Nebensätzliches zum Weltgeist
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 Thema: Nebensätzliches zum Weltgeist
Matze
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Eröffnungsbeitrag Abgeschickt am: 25.11.2007 um 18:01 Uhr

Je me suis toujours été un autre... Im kollektiven Assoziationsraum bin ich ein Nachhall, ein Protokollant meines Lektüresprozeßes und derart versuche ich mit den Autoren und Autorinnen in einem überzeitlichen Gespräch zu bleiben. Die Menschen sagen, Leben sei die Hauptsache; ich ziehe das Lesen vor. 1968 hatte Roland Barthes in dem Aufsatz "Der Tod des Autors" mit der gängigen literaturwissenschaftlichen Ansicht gebrochen, wonach Schriftsteller die völlige Kontrolle über ihre Schöpfungen besäßen. An die Stelle der unumschränkten "Werkherrschaft" eines gottähnlich gedachten Autors, dessen Vita zwanghaft mit seinem Werk verrechnet wurde, tritt in diesem Modell der Leser. Seiner Autorität obliegt es, Einheit und Intention des Textes herzustellen. Die "Geburt des Lesers", schreibt Barthes pathetisch, werde "mit dem Tod des Autors bezahlt". Mit diesem Diktum schien der Weg bereitet, Interpretationen literarischer Texte endlich vom biografischen Ballast ihrer Urheber befreien zu können. Aber mußten die von Verantwortung freigesprochenen Autoren gleich so weit gehen, ihren Abgang als öffentliche Personen ähnlich radikal zu inszenieren wie der gegen Ende seines Lebens pathologisch menschenscheue Überflieger und Kinoproduzent Howard Hughes, den der Philosoph Paul Virilio als Leitfigur einer "Ästhetik des Verschwindens" ausgerufen hat? Gerade so wie Thomas Pynchon, dessen Spur sich sinnigerweise zeitnah zur Proklamation von Roland Barthes´ These für nahezu 30 Jahre verlor. Oder wie jenes Phantom namens Jerome David Salinger, dessen rare öffentliche Auftritte sich auf Prozesse gegen Journalisten beschränken, die über sein Leben schreiben. Ein Leben, das der Autor für nicht berichtenswert hält. Und das dadurch umso mehr zur probaten Projektionsfläche wird. Mir geht es um den Kontrast von jetzt und damals, von harter Moderne und historischer Illusion. Es geht um Gleichzeitigkeit und Zeitlosigkeit. Es gibt nur noch Kairos, nicht Chronos.

Bisher dachte man, wer Dante Alighieri auslegen könne, verstehe nichts vom Urknall, aber das soll sich jetzt ändern. Die Welt Dantes war begrenzt, sie hatte einen Zentralpunkt und einen zeitlichen Anfang; sie war hierarchisch aufgebaut und gab dem Menschen eine zentrale Stellung. Der zeitliche und räumliche Rahmen der Welt Dantes ist vergleichsweise sehr eng. Seine Weltschalen wurden von reinen Geistern bewegt. Die Himmelskörper bestanden seit Aristoteles aus einer qualitativ anderen Art von Stoff, aus der Quintessenz. Der Jenseitsreisende befindet sich seit dem 27. Gesang des ‚Paradiso’ im Primum Mobile: Diese letzte Himmelsschale hat keinen anderen Ort als den göttlichen Geist. Von ihr her gehen «Licht und Liebe» in den Weltprozess ein; mit ihr beginnt die Zeit, deren Maß sie setzt. Das ‚Primum Mobile’ stammt aus der arabischen Philosophie und war in der Kosmologie des 13. Jahrhunderts die äußerste, die neunte Weltschale. Es war der Kristallhimmel jenseits der Fixsternsphäre. Die neunte Schale war der göttlichen Sphäre am nächsten und nahm als erste deren Bewegungsimpuls auf. Sie befand sich in unvorstellbar schneller Bewegung und setzte die Drehung der anderen Weltschalen in Gang. Das ‚Primum Mobile’ war Ursprung aller Naturprozesse. Von hier aus ging das göttliche Licht in Materie über.

Mir scheint, daß ich vor allem durch Bücher die Gelegenheit bekomme, zum Innern der Dinge vorzudringen. Im Internet finde ich meistens, was ich suche. In Büchern finde ich Dinge, von denen ich gar nicht wusste, daß sie mich interessieren. Außerdem ist das Lesen auf Papier wesentlich angenehmer als auf dem Bildschirmformat. Das kann keine Technologie der Welt ändern. Der Bibliomane ist ein Vielfrass, auf seine Unersättlichkeit ist Verlass. Inmitten meiner Bücher führe ich eine zurückgezogene Existenz. Die Rätselhaftigkeit der Sprache, insbesondere der archaischen Sprache, wie man sie etwa im Märchen findet, zieht mich bereits mit größter Intensität in ihren Bann, als ich noch sehr jung war. Schon als Siebenjähriger, hatte ich die Vorstellung von der Unsterblichkeit der Sprache und war der Meinung, man müsse so schreiben, daß einen nicht nur die Nachwelt lesen könne, sondern auch die gesamte Vergangenheit. Sprache ist etwas, das die Generationen miteinander verbindet. In der Sprache, existiert weder Vergangenheit noch Zukunft, in ihr gibt es keine Gegenwart. Man lebt in der Sprache wie in der eigenen Haut. Unbändiges Denken zu publizieren, ist ein Widerspruch in sich. Wenn ich zu lange in meiner Haut bleibe, fühle ich mich beengt, mir selbst aufgehalst und klaustrophobisch… ich beginne einen Essay, um dahin zu laufen, wo ich nicht bin… um mich zu verlassen, um mich wiederzuverkörpern. Alle Entscheidungen sind subjektiv. Wir alle sind Leser. Und wenn ich als Leser von einer Idee begeistert bin, dann will ich sie auch als Essay realisieren. Ich verwendet einen Literaturbegriff, der neben den klassischen Gattungen Lyrik, fiktionales Erzählen und Theater die nichtfiktionalen Texte ebenso einschließt wie die (Auto–)Biografie. Dadurch entsteht ein gerade in seiner Heterogenität überzeugendes Bild der Literatur und ihrer institutionellen Konsolidierung. Ich schiele nicht nach dem Erfolg, ich frage nicht zuerst, wie viel können ich davon verkaufen kann. In Deutschland gibt es viele Kalligraphen, die wunderschön schreiben, und Belletristen, die wunderschöne Geschichten erzählen. Aber es gibt wenig große Kunst. Die Zahl der bedeutenden Schriftsteller ist wohl einigermaßen konstant, wie übrigens auch die Zahl der Leser anspruchsvoller Literatur. Das wesentliche Merkmal der Essays sind Verknüpfungen, die sich als Verbindungen eigener Art herausstellenden originellen Einsprengsel. Sie halten die Form offen und lassen den Gestus des Essays dominieren. Max Bense hat es so gefaßt: »Ich muß betonen, daß in jedem Essay jene schönen Sätze auftreten, die wie der Same des ganzen Essays sind, aus denen er also immer wieder hervorgehen kann. Es sind die reizvollen Sätze einer Prosa, an denen man studieren kann, daß es hier keine genaue Grenze gegen die Poesie gibt. Es sind gleichsam Elementarsätze eines Essays, die sowohl einer Poesie als auch einer Prosa angehören.« Sie sind die Schlüssel zu einer ars combinatoria, die den Gegenstand des Essays in Konfigurationen bringt, sie erzeugte. »Die Verwandlung der Konfigurationen, der jener Gegenstand innewohnt, ist der Sinn des Experiments, und weniger die definitorische Offenbarung des Gegenstands selbst ist das Ziel des Essays als vielmehr die Summe der Umstände, die Summe der Konfigurationen, in denen er möglich wird.« »So ist also auch die Konfiguration eine erkenntnistheoretische Kategorie, und sie ist nicht axiomatisch-deduktiv erreichbar, sondern nur durch die literarische ars combinatoria, in der an die Stelle der reinen Erkenntnis die Einbildungskraft getreten ist.« Und bald folgt Benses eigener (durchaus luziferischer) Essay-Satz, sein Essaysame: »Wer eine Tendenz hat, ist ein Versucher.« Auch an Adornos Hohelied »Der Essay als Form« möchte ich in diesem Zusammenhang erinnern: »Der Essay aber läßt sich sein Ressort nicht vorschreiben. Anstatt wissenschaftlich etwas zu leisten oder künstlerisch etwas zu schaffen, spiegelt noch seine Anstrengung die Muße des Kindlichen wider, die ohne Skrupel sicht entflammt an dem, was andere schon getan haben.« Und so nimmt dieser Essay seine stimulierenden Begriffe wie selbstverständlich, als Namen, denen er aber ihre sprachlichen Nachbarschaften und ihre gesellschaftlichen Vergangenheiten nachträgt, um sie ihnen geläutert zu lassen. Vom Komplexen, einfach Gewohnten zum wahrhaft Einfachen drängt er. »Seine Übergänge desavouieren die bündige Ableitung zugunsten von Querverbindungen der Elemente, für welche die diskursive Logik keinen Raum hat.« Und trotz all seiner Findungen mißtraut er ihrer uneingeschränkten Bejahung und bleibt kritisch unterwegs. Adorno faßt es in die berühmt gewordene Formel »Darum ist das innerste Formgesetz des Essays die Ketzerei.« Ich gehe pragmatischer vor und mache eine Verknüpfungskunst ausfindig, versuche auf die Sprünge und Übergänge zu kommen und dabei zu erschließen ob sie aus diesem (mit Walter Benjamins Begriff gesprochen:) Kraftzentrum leben. Ich schreibe Essays, um ein Angebot für Leser zu machen. Es gibt keine objektive Beurteilungsmöglichkeit. Ich will mein Material sofort nach seiner Entstehung veröffentlichen, nicht mit den üblichen Verzögerungen und Zwischeninstanzen, die die Arbeitsweise des Literaturbetriebs vorgibt. Einer der konventionell empfundenen Sätze über Künstler: „Verloren in den Abgründen der Mutlosigkeit gewinnt er oft das Beste: sich selbst.“ Viele Menschen verstehen nicht, was ein Essay darstellt. Sie wünschen sich ein abendfüllendes, endgültiges Handbuch. Ich bin aber kein Spezialist. Ich „versuche etwas“, wie der Begriff sagt. Deshalb ist mir auch jeder Widerspruch willkommen. Dem Augenblick der Fertigstellung folgt sofort der der Veröffentlichung. Wobei die Essays gerade nicht als fertig betrachtet werden sollen, sondern als momentane Fassungen. Das ist zugleich Charme und Fluch des Mediums Internet: Die Idee der Abgeschlossenheit, die jedes Kunstwerk, sei es auf einen Tonträger gepresst, auf Papier gedruckt oder in einen Rahmen gespannt, bisher für sich in Anspruch nehmen konnte oder eben mußte, wird aufgehoben. Alles wird vorläufig, ein unendliches work in progress, weil der digitalen, unendlich veränderbaren Datenform ihre Vorläufigkeit, ja ihr regelrechter Zwang zum ständigen Update schon eingeschrieben ist. Ich bin approximativ… Ein ungefährer Mensch, ein ungefähres Leben, das von einer ungefähren Welt und einer ungefähren Gesellschaft träumt, die sich Zivilisation nennt: das Streben nach dem Ungefähren. Sobald man über das Ungefähre hinausgehen will, befindet man sich im Unmenschlichen. Jenseits des Ungefähren ist man bei Hitler, Stalin und Mao angelangt… Das einzige, was nicht ungefähr ist, ist der Tod. Mit dem Abschied vom kleinen Königreich des Ich ist das Projekt der Aufklärung endlich vollendet.

In der modernen Welt wird das Leben als Projekt entworfen. Planung, Kontrolle, Kommunikation und Verkehr sollen verbürgen, dass ihm nichts entgeht. Aber an dieser Sicht der Dinge nagt ein am Tag vergessener und in der Nacht sich zu Wort meldender Konditionalis und Irrealis. Mein liebster Roman ist daher nicht zufällig die Geschichte vom "Anarchistischen Bankier", die der portugiesische Schriftsteller Fernando Pessoa 1922 verfasst hat: Der Protagonist setzt alles daran, den Widerspruch aufzulösen, gleichzeitig Anarchist und Bankier zu sein. Seine Argumentation: Der Anarchist will gesellschaftliche Fiktionen zerstören, die Ungerechtigkeit rechtfertigen und zementieren. Freiheit ist das Ziel, der Kampf gegen die Konvention der Weg. Aber, und nun kommt die Pointe: die Gruppe und jedweder Gruppenzwang stehen der Idee von Freiheit im Weg, bedeutet er doch, einem anderen den eigenen Willen aufzuzwingen. Es bleibt: die einsame Befreiung des Ichs. Und nachdem das Geld die wichtigste Heilserzählung des Kapitalismus ist, muß das Ego just aus seinen Fängen gelöst werden. Was also läge näher als die moralische Entwertung des Geldes durch seine rücksichtslos egoistische Akkumulation?

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Matze
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1. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 25.11.2007 um 18:02 Uhr

„Um recht zu sehen, muß man zuvor verkehrt gesehen haben”, lehrte mich Juan de Mairena, der an jenen Satz einen anderen an, welcher lautet: „Oder umgekehrt”. Der erste Satz spricht die Erkenntnisfunktion des Irrtums aus, der zweite die Risiken des Wahrheitsbesitzes. Und das Verfahren, das auf solche Spur führt, ist das der Umkehrung, zuweilen einer doppelten: die geläufige Meinung auf den Kopf stellen, und diese Umkehrung noch einmal auf den Kopf stellen – womit wir durchaus nicht wieder bei der geläufigen Meinung ankommen müssen. Juan de Mairena ist ein Skeptiker, der auch der Skepsis nicht ganz traut, ein liberaler Geist, der die Fragwürdigkeiten des Liberalismus durchschaut. Machados Gratwanderung verläuft zwischen Versagen vor der Wahrheit und deren selbstverblendetem Besitz. Denn ihm ging etwas auf, worum auch Nietzsche wusste – ein Brief an Lou Andreas-Salomé bezeugt es –, doch was er zuletzt, als er den Willen zur Macht als letzte Realität ausposaunte, vergaß. „Die großen Dichter sind gescheiterte Metaphysiker. Die großen Philosophen sind Dichter, die an die Wirklichkeit ihrer Dichtungen glauben”.

Ich habe ja schon in vielen Gesellschaften gelebt - im Spätkapitalismus, im Atomzeitalter, in der postindustriellen Gesellschaft, dann in der Informationsgesellschaft, jetzt lebe ich in der Wissensgesellschaft. Aber sind die Tätigkeiten, die die Arbeit in der Fabrik ablösen, tatsächlich wissensbasierte Tätigkeiten? Wenn man meint, daß man ein bestimmtes Wissen braucht, um diese Technologien zu beherrschen, dann war jede bisherige Gesellschaft eine Wissensgesellschaft. Und das Fräulein vom Amt in der Zeit der frühen Fernmeldetechnik war ganz zweifelsfrei eine Wissensarbeiterin. Vor allem aber: die Wissensgesellschaft von heute hat offensichtlich nicht mehr mit Erkenntnis und Weisheit zu tun als andere Gesellschaften vor ihr. Ich zweifle daran, daß die Wissensgesellschaft die Industriegesellschaft ablöst, eher scheint mir das Wissen industrialisiert zu werden. Das Wissen, über das wir verfügen können, daß wir teilweise auch in uns haben, ist immens. Es ist nur zusammenhangslos, wir schwimmen gewissermaßen im endlosen Datenozean. Was uns abhanden kommt, ist das, was man etwas nostalgisch eine Idee von Bildung nennt, die eine normativ steuernde Funktion für die Organisation dieses Wissens haben könnte.

Wenn man von der Wirklichkeit redet, verändert man diese Wirklichkeit. Die Sätze haben es an sich, daß sie dem unförmigen Lebensmaterial eine Form geben. Die Sprache verändert alles; wer weiß, was Wirklichkeit ist und was Essay, Essay und Wirklichkeit sind beide gültig. Schreiben ist ein gesteigertes Leben, ein ständiges Ringen um eine Wirklichkeit und um eine Fiktion. Ich bin nicht immer im Besitz meiner selbst, wenn ich in den Zustand des Schreibens komme. Ich nehme mich nicht so ernst, tue nicht so, als ob ich etwas Wichtiges auf dieser Welt machen könnte. Ich spiele mit meinen Erfahrungen, mit meinem Leben. Etwas zu schreiben ist ein Spiel. Ich schreibe nie in dem Bewusstsein, daß ich eine Berufung hätte oder die Menschen erlösen müsste. Ich schreibe nur für mich, Schreiben ist Privatsache. Man kann dieses ganze Material, das ich bin, einfach auf den Tisch legen, es rollen und zusammenkrachen lassen. Ich habe eine Identität, aus dieser Identität heraus schreibe ich, aber man verändert sich, verwandelt sich, löst sich auf. Manchmal habe ich das Gefühl, daß die Fiktion wichtiger ist als die Wirklichkeit. Ich weiß nicht, was Wirklichkeit ist; was Fiktion ist, das weiß man viel besser. Nachdem ich mich selbst erfunden hatte, als eine Fiktion, als ich mich entschied, Essayist zu sein, konnte ich Essays schreiben. Aber das war eine völlig voluntaristische Fiktion, daß ich mich als Essayist sehen wollte. Ich täuschte mir ein Leben vor, das es nicht gab, es war eine Fiktion, und in dieser Fiktion habe ich meine Rolle gespielt. Ich wollte so leben: nachdenken, spazieren gehen, schreiben, schwimmen – und das habe ich auch gemacht. Ich wollte nur Essayist sein. Das ist mir gelungen.

„Am Ende des Geistes, der Körper. Aber am Ende des Körpers, der Geist“, so formulierte Paul Valéry einmal, was die scholastische Tradition etwas trockener als unio essentialis von Körper und Geist bezeichnet hatte. Auch Descartes verwendete diesen Terminus noch, obgleich er viel eher als jener Autor gilt, mit dem die Geschichte der vergeblichen Versuche begann, Geist und Körper auf nachvollziehbare Weise wieder unter einen Hut zu bringen, nachdem Descartes selbst sie in denkbar strikt geschiedene Seinsbereiche auseinanderdividiert hatte. Weshalb Einführungen in die Philosophie des Geistes selten auf die zwiespältige Reverenz gegenüber dem „Vater der modernen Philosophie“ verzichten. Das Körper–Geist–Problem, das Problem des Fremdpsychischen, des generellen Aussenweltskeptizismus, des Geistes der Tiere, des freien Willens, der mentalen Verursachung, des Schlafs, der personalen Identität, des Unbewussten und der Intentionalität.

Zur Verständnisförderung greife ich auf Immanuel Kants Idee einer "erweiterten Denkungsart" zurück. Wenn man den anderen Menschen verstehen will, dann muß man zunächst über seinen eigenen Schatten springen, genauer von sich selbst, seinen eigenen Prinzipien absehen. Man muß schließlich seinen Horizont erweitern, indem man sich in die Lage eines anderen Menschen hineinversetzt, nicht um ihn leichter hinters Licht zu führen, sondern um seine Urteile und Einschätzungen nachzuvollziehen. Wenn man unter den Bedingungen der Globalisierung in einer pluralistischen Welt der vielen Weltanschauungen lebt, wenn die Menschen also keine gemeinsamen obersten Werte mehr verbinden, dann braucht man vor allem derartige Kompetenzen oder Tugenden: Denkvermögen, Urteilskraft, Wahrhaftigkeit. Dazu reichen ethische Normen alleine nicht aus.

„Barbarisch“ sei die französische Sprache und voll von „Misslauten, die kaum ins Reich menschlicher Rede gehören“, schrieb Erasmus von Rotterdam in seiner Schrift über Kindererziehung. Kritisch äußerte er sich auch über die Aussprache der Frauen, die es für damenhaft hielten, „beim Formen der Wörter den Mund möglichst wenig zu öffnen und die Lippen möglichst wenig zu bewegen“. Als Humanist verfasste er seine Werke in lateinischer Sprache: So sicherte er sich im 16. Jahrhundert ein internationales Publikum. In der Tat verraten die Gewährsleute aus der frühen Neuzeit, wenn man sie zu ihren Einstellungen zur Sprache befragt, wie sie sich selbst und die anderen sahen oder gern gesehen hätten. Etwa wenn sie die affektierte Redeweise der Bürger geißelten, wie der französische Sprachstilist Claude Favre Seigneur de Vaugelas dies tat, oder für die „maskuline Energie“ des – auf dem Kontinent bis ins 18. Jahrhundert kaum verstandenen – Englischen schwärmten wie John Dryden oder über fremde Wörter schimpften wie Pietro Bembo und viele andere Sprachpuristen. Zwischen vierzig und siebzig Sprachen wurden im Europa der frühen Neuzeit gesprochen, und alle haben sie ihre eigene Chronologie, eine nähere Betrachtung wirft Schlaglichter auf Gemeinsamkeiten und Beziehungen: auf die Entdeckung der sprachlichen Vielfalt durch die Humanisten, die Bedeutung des Lateinischen im Verhältnis zu den Volkssprachen, die Konkurrenz zwischen verschiedenen Sprachen und Dialekten, die Bemühungen um Standardisierung und Sprachreinigung sowie die Vermischungen von Sprachen.

Bereits Immanuel Kant vermutete in einer Seele, die für das Schöne zugänglich ist, auch eine erhöhte moralische Sensibilität. Ich wurde als Leser zum Essayisten, und ich war ein Leser aus Notwendigkeit. Das ist die gute Seite meiner prekären Gesundheit. Schon als Kind hatte ich Probleme mit meinen Atemorganen und mußte monatelang das Bett hüten, was furchtbar langweilig war. Also begann ich zu lesen. Der Essayist scheitert, weil er sich sein eigenes Leben im Rollstuhl nicht mehr vorstellen kann. Ich kann mir nicht mehr vorstellen, wie ich es geschafft habe, einen Tag nach dem anderen. Wenn ich das schildern wollte, ergäbe es ein schlechter Essay... Ein Essay besteht in der Sprache. Und die Sprache hat Gesetze. Die darf man nicht verletzen. Ich kann im Essay nur so handeln, wie die Gesetze der Sprache es erlauben. Das geht - ironisch. Aber das ist ein Trick. Der Essay ist ein Trick, kein Leben. Man verzichtet auf die Einfühlung in das, was man erlebt hat, und beschreibt etwas anderes. Ich sehe keinen Unterschied zwischen Autobiografie und Fiktion. Wenn ich anfange zu erzählen, was mir passiert ist, wird es schon etwas anderes als das, was wirklich passiert ist. Es beginnt, eine Form zu entwickeln. Meine Erinnerungen verändern sich und ich mich auch. Der Essayist ist eigentlich ein Täuscher: Er erzählt das Erlebte und verändert sich dadurch. Durch diesen Stoffwechsel mit der Wirklichkeit befreit er sich von Verletzungen, die andere ein Leben lang mit sich herumtragen. Benjamins Aufsatz »Der Erzähler« nimmt deshalb eine so herausragende Stellung innerhalb der Theorien modernen Erzählens ein, weil es dem Verfasser nicht darum zu tun ist, modernes Erzählen zu legitimieren; seine Haltung ist die eines Konservativen, der ein Verfallsphänomen konstatiert. Benjamin fundiert das traditionale Erzählen im Vermögen, Erfahrungen auszutauschen, wie es sich in vormodernen Gesellschaften bei Bauern und Seeleuten herausgebildet hat, und charakterisiert es als eine kollektive Praxis, die stets auch einen Nutzen mit sich führt. Für die Moderne diagnostiziert er einen sich in Schüben vollziehenden Niedergang des kollektiven Erfahrungsaustauschs, „weil nicht mehr gewebt und gesponnen wird“. Am Ende dieser Entwicklung steht dann das atomisierte Individuum, das Informationen aufnimmt, statt Erzählungen zu lauschen. Es ist noch gar nicht so lange her, daß das Ich eine unhintergehbare literarische Größe war; in der Feier des sogenannten Authentischen hat es die erste Person Singular. Doch seit sich das Ich auf tausend privaten Web–Sites in einer Art kollektiver Ausverkaufexistenz multipliziert, sind wir auf die Bekenntnisse schöner Seelen und hässlicher Exhibitionisten nicht mehr allzu scharf. Im Zeitalter der Schwarmintelligenz ist das Subjekt auf eine User–ID geschrumpft. Wenn man dauernd liest, Geschichten in sich aufnimmt und sich das noch vermischt mit jener Erzähllust, wie sie in meiner Familie herrschte, liegt es nahe, selbst zu schreiben. Ich begann, die Geschichten, die ich las, neu zu als Essay erzählen.

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Matze
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2. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 25.11.2007 um 18:03 Uhr

Auch wenn man sich um eine treue Wiedergabe der Wirklichkeit bemüht, verändert man sie genau dann, wenn das Erzählen beginnt. Den chaotisch brodelnden oder in den Winkeln unseres Bewusstseins verborgenen Erinnerungen und Erfahrungen gibt man eine Form, und je genauer man sie ‚wiedergeben’ möchte, desto mehr muß man sie verändern. Alles ist eine Fiktion, das Leben, vor allem der Mensch selbst, ab dem Moment, in dem er sich selbst erfindet. In einem gewissen Sinne entscheidet dieser Moment alles im Leben. Mir ist das passiert, als ich beschlossen habe, Essayist zu werden. Die Fiktion begann, weil ich mich als Essayist erfunden habe. Damals hatte es absolut keinen Sinn, es war eine ausgesprochen unvernünftige Entscheidung zu leben und zu schreiben. Mein Leben in das eigene Leben zu verwandeln. Wie der Baron Münchhausen mich selbst aus dem Morast der Geschichte, der Massenschicksale, an den Haaren herauszuziehen. Später habe ich entdeckt, daß mich dieser Weg, der Prozess, die Fiktion am meisten interessiert, deshalb habe ich das zum Thema gewählt. Das ist Fiktion, die auf der Wirklichkeit beruht.

Die «Madeleine–Episode» aus Marcel Prousts Jahrhundertroman »A la recherche du temps perdu« ist eine der meistkommentierten Textstellen der europäischen Literatur. Aber bisher ist niemandem aufgefallen, daß sich Proust dafür von einem Märchen Hans Christian Andersens inspirieren ließ. Dort findet sich zudem ein Wegweiser zu einer noch viel älteren Quelle – aus der tatsächlich die ganze "Recherche" sprudelt. Marcel Proust ist nicht der Einzige, der an einem kalten Tag nach Hause kommt und von seiner Mutter Tee kriegt. Genau gleich geht es auch dem Knaben in Hans Christian Andersens Märchen »Das Fliedermütterchen«. Ein Bub kommt nach Hause. Er hat sich eine Erkältung geholt, wird von seiner Mutter ins Bett gesteckt und mit wärmendem Fliedertee versorgt. Da tritt der freundliche alte Mann zur Tür herein, der ganz oben im Haus wohnt und die besten Geschichten zu erzählen weiß. "Trink deinen Tee!", sagt die Mutter. "Vielleicht bekommst du dann auch ein Märchen zu hören." Aber dem alten Mann will dummerweise keins einfallen. Es ergibt sich ein Dialog, in dem der Bub alles versucht, um sein Märchen zu hören, während der Alte immer wieder zu bedenken gibt, die wirklich guten Geschichten könnten nicht willentlich gemacht werden, sie kämen von selbst. Dieser am Bett geführte Dialog, das wird später klar, ist eigentlich ein innerer Monolog, in dem sich der Bub mit dem alten Mann unterhält, der ganz oben in ihm wohnt, in seinem eigenen Kopf nämlich, und der nichts anderes ist als sein Gedächtnis. – In diesen Zeilen nimmt Andersen vorweg, was Proust später zur willentlichen und unwillkürlichen Erinnerung ausarbeiten wird. Plötzlich klappt es doch: "Gib acht, nun ist eins in der Teekanne!", sagt der alte Mann. Und tatsächlich: Der Deckel hebt sich, und die Fliederblüten wachsen hervor. Ein Ast schießt empor, wird länger und länger, schiebt den Vorhang vor dem Fenster zur Seite, verzweigt sich und blüht und duftet, bis ein ganzer Baum im Zimmer steht, ein Baum so groß wie der Fliederbaum unten im Hof. In diesem Baum sitzt eine Dryade, das Fliedermütterchen. Es trägt ein grünes, geblümtes Kleid und erzählt dem Knaben seine ganze Lebensgeschichte. Es nimmt ihn mit auf eine Reise, wird mit ihm größer, bis sie zusammen Kinder haben und einen Flieder pflanzen, unter dem sie schließlich als alte Menschen sitzen. Sie ist nämlich, so sagt sie zum Schluss, nichts anderes als "die Erinnerung". Dann wacht der Bub auf. Kein Flieder wächst mehr aus der Kanne, und auch der alte Mann ist gerade zur Tür hinaus – war alles nur ein Traum?

So endet die Geschichte in Andersens Märchenwelt. Im intertextuellen Universum allerdings, in dem jede Geschichte je eine eigene Welt bildet, da geht sie jetzt erst richtig los. In diesem Universum sprießen die Blüten in dem Moment, in dem sie sich in der einen Welt in die Teekanne zurückgezogen haben, bereits in einer anderen Welt aus einer anderen Teetasse: Im intertextuellen Universum gießt sich Proust jenen Tee ein, den Andersen für ihn aufgesetzt hat.

„What people believe to be real is real in its consequence“, das ist ein sozialpsychologischer Grundsatz. Was Menschen für Literatur halten oder wertschätzen oder in irgendeiner Form besetzen, das ist an und für sich egal. Was Menschen für Literatur halten, ist Literatur durch die Konsequenz des Dafürhaltens. Darauf gibt es eine Antwort, die sehr produktiv ist und bisher noch viel zu wenig unter die Menschen gebracht wurde. Kaum jemand beschäftigt sich wirklich damit. Was heißt es seit dem 15. Jahrhundert, ein Künstler zu sein, und zwar nicht nur als Maler oder Dichter, sondern als Physiker, als Mathematiker, als Wissenschafter, ja sogar als Unternehmer, als Polizist oder im Freudschen Sinne als jedermann. Das heißt, konsequent weitergeführt, daß heute jedermann ein Künstler sein muß. Diesen erweiterten Volksbegriff muß jeder annehmen, nicht nur der ausgewiesene Künstler, sondern unter dieser Prämisse ist jeder ein Künstler, weil er die individuelle Begründung seines Aussageanspruchs durchsetzen muß. Er muß Urheber werden, er muß das Prinzip Autorität durch Autorenschaft anerkennen. Schließlich ist dies das kulturpolitische Phänomen ersten Ranges. Man ist eben nicht nur Autor, wenn man Literatur schreibt, mit Namen signiert oder sich Autor nennt. Man ist heute inzwischen Autorität durch Autorenschaft als jenes Individuum, das gezwungen wird, Entscheidungen für seine Lebensführung zu treffen.

Wenn Gottfried Benn mit der Behauptung nicht irrt, daß ein Lyriker gerechtfertigt ist, dem ein halb Dutzend Gedichte in seinem Leben geglückt sind, dann müssten wir die Günderrode zu den Glücklichen zählen. Karoline von Günderrode war eine attraktive Märtyrerin der deutschen Kunstreligion. In die Geschichte eingegangen ist sie aber als tragisches Opfer gesellschaftlicher Verhältnisse: als Protagonistin der Kunstreligion, die an die Dichter delegiert, was immer Sache der politischen Öffentlichkeit gewesen wäre. In Deutschland – ganz im widersprüchlichen Einklang mit der Realgeschichte – lieben wir die gescheiterten, die verkannten, am meisten die Selbstmörder unter den Dichtern. Attraktiv ist die Günderrode als eine Märtyrerin der deutschen Kunstreligion, die das Bildungsbürgertum um 1800 erfunden hat und die bis heute fortwirkt. Rainer Maria Rilke hat diesen Ort für die Moderne besetzt: „Durch alle Wesen reicht der eine Raum: Weltinnenraum.“ Hypersensibel, wie er war, verlegte er die Grenze zwischen Innen und Außen, Ich und Du von der Oberfläche der Haut noch etwas tiefer, in die verborgenen Auskleidungen unserer Herzmuskel. So gründete er das Weltreich der Dünnhäutigen. Für ihn liegt das ästhetische Projekt des Menschen in seiner Fähigkeit zur Mit– Leidenschaft. Sofern man die Mitleidfähigkeit in einem Menschen wachruft, mache es ihn zum politischen Menschen.

Als Nachkriegsratte, mußte ich hungern und frieren, hatte kein Geld und überhaupt nichts - da mußte man durch oder man ging unter. Wir hatten diese große Chance. Die jetzige Generation hat keine Verletzungen durch ihre Väter. Das sind alle schon Kreisbeamte und Direktoren, Eisenhändler, die schenken ihren Kindern zur Hochzeit eine Eigentumswohnung. In Berlin gibt es diese Doppelworte wie Speiserestaurant. Ein anderes, sehr schönes Wort ist Vorteilschade. Das ist der Vorteilschade meiner Generation. Wir, die wir die Nachkriegszeit miterlebt haben, wir leiden alle an einer Urverletzung. Dadurch sind wir alle so sehr früh und jung auch was geworden. Wenn Sie denken, ich war 18 und arbeitete als Lektor. Mit 18 wohnen die meisten Kinder noch bei ihren Eltern. Wir mußten uns durchschlagen. Wie die Welt in alle ruhigen Räume des Lebens vorgedrungen ist, das hat auch schmerzliche persönliche Verluste bedeutet. Wenn es die Gesundheit zulässt bin ich ständig in Archiven unterwegs oder vergraben in Studien, Statistiken und Akten. Man ist zu äußerster Genauigkeit gezwungen, wenn man sich mit dem Weltgeist widmet. Ich bewege mich durch ein Gedankenlabyrinth, in dem die naturwissenschaftlichen Weltentwürfe von Kopernikus und Kepler und der Mythos des Faust ebenso aufgestellt sind wie etwa die philosophischen Modelle von Nietzsche und Wittgenstein; meine literarische Idole – Beckett und Joyce, Heinrich von Kleist, sind gleichermaßen präsent wie das Kabinett der europäischen Malerei und die antike Mythologie. Es war beispielsweise ein Zittern, das mich erfasste, als ich Roland Barthes entdeckte. Ein Sog geht von seinen Texten aus: So etwas hatte ich in der Deutschstunde von meinen durch den Nationalsozialismus geprägten Lehrern nicht zu lesen bekommen. Ich fühlte sich elektrisiert und seltsamerweise nicht überfordert von schwer bepackten Sätzen wie diesen: "Man denke sich einen Menschen (einen umgekehrten Monsieur Teste), der alle Klassenbarrieren, alle Ausschließlichkeiten bei sich niederreißt, nicht aus Synkretismus, sondern nur um jenes alte Gespenst abzuschütteln: den logischen Widerspruch; einen Menschen, der alle Sprachen miteinander vermengt, mögen sie auch als unvereinbar gelten; der stumm erträgt, daß man ihn des Illogismus, der Treulosigkeit zeiht; der sich nicht beirren lässt von der sokratischen Ironie (den anderen zur äußersten Schande treiben: sich zu widersprechen) und vom Gesetzesterror (wie viele strafrechtliche Beweise fußen auf einer Psychologie der Einheit!)." Dieses Zitat versammelt etliche Fetisch-Stichworte des Strukturalismus kongenial, es entstammt der Incunabel »Die Lust am Text«. Roland Barthes ist nicht der einzige, der den alten Sorbonne-Gelehrten, der Großen Geschichtsschreibung und dem Hermeneutischen Zirkel eine satte Abfuhr erteilen wollte: mittels minimalistischer, subjetivistischer, das Unbewusste und das körperliche Genießen einbeziehender, stilistisch pretiöser Lesarten.

Es ist schwer, richtig aus dem Referenzrahmen zu fallen. Ich bin ein Anwärter für das Adorno´sche Attribut des "Nichtidentischen", des der festlegenden Definition sich Entziehenden. Gute Polemik muß gebildet sein, Belesenheit sollte sich mit intellektueller Schärfe paaren, das liebe ich, das Bosseln am sprachlichen Gegenstand. ‚In progress’ ist Kennzeichen und Element meiner Arbeit, ein von unstillbarer Neugier getriebener Fluß, der sich aus stets aktuellen Zuflüssen speist. Meine Vision ist eine Projizierung der Vergangenheit in der Gegenwart und ironisch - in einer ungewissen Zukunft. Die Gegenwart ist nur ein Stilmittel. Die stetige Relativierung, der bewegliche Sand aller Phrasen, die Unbeständigkeit der letzten Vokabel, das ist das Regime der Textualität. Texte der Vergangenheit kann man nicht unberührt konservieren, man muß sie durch Umschreiben, Anspielen und unausgewiesenes Plagiieren, dem kulturellen Gedächtnis der Nachgeborenen überliefern. Literatur ist eine moralische Anstalt, die eine Bestandsaufnahme der menschlichen Gesellschaft liefern soll. Aber sie ist nicht dazu da, Postulate herunterzubeten, als handelte es sich um die neuen zehn Gebote. Ich glaube an das Gewissen als ein Konglomerat von Geist und Körper. Selbst die Hunde wissen intuitiv, was sie tun sollen und was nicht, die wissen, wenn sie etwas ausgefressen haben. Die gibt vielleicht eine Anleitung, sich selber zu erkennen, eine Anleitung, mit Strömungen besser vertraut zu werden, grundsätzlich eine Anleitung zur Teilnahme am gesellschaftlichen, auch politischen Leben überhaupt. Werd nicht zum Zyniker, nimm teil, verabschiede dich nicht. Bei Buñuel habe ich den Satz gelesen: „Ich bin ein Atheist von Gottes Gnaden.“ Das gefällt mir. Das Problem mit den Kulturbewahrern ist, daß sie moralisch argumentieren. Wer so vorgeht, verfehlt jedes Kunstwerk. Literatur ist plötzlich eintretende Wahrheit, und diese Wahrheit ist wirkungslos, wenn sie auf einer Ebene konventionell gewordener, moralischer Wahrheit verharrt, wie sie die Wächter des Erhabenen vertreten. Literatur muß neue Wahrheiten bieten. In allen anderen Medien hören und sehen wir zunehmend konventionell gewordene, affirmative Wahrheit. Ich vertrete die Ansicht, daß Literatur heute der einzige Ort für diese plötzlich eintretende Wahrheit ist. Ich gebe zu, daß ich mit denen, die sich ihrer ganz sicher sind, Mühe habe. Ich bewundere die Virtuosen. Auf dem höchsten Niveau der Virtuosität Gedanken zu jonglieren, die allerdings auch die Ruhe bekommen, den Menschen zu erreichen, und zwar alle Anwesenden. Im Zentrum steht der Virtuose, ein großer Atem, ein großer Zuschnitt, große Textbehandlung, alles ausgerichtet auf den Inhalt. Das ist das, was ich mit Vergnügen gelernt habe. Das interessiert sogar in der Stille, es muß gar kein Event werden. Event kann sein, was sich aus dem Text ergibt. Wenn man das als konservativ bezeichnet, dann kränkt es mich nicht. Das Alte lebt wieder auf in den radikal neuen Formen der Avantgarde, die ihrerseits innovativ sein kann durch beherzte ‚Plünderei’ der Traditionsbestände. Der bürgerliche Kunstbegriff des 19. Jahrhunderts, der in den klassischen Feldern des Kunstbetriebs fröhliche Urstände feiert, ist als Grundlage einer künstlerischen Praxis des 21. Jahrhunderts unbrauchbar. Die Arbeit in Kollektiven, als anonyme Phantompersonen, in losen Strukturen und Allianzen steht heute im Vordergrund. Statt auratischer Artefakte stehen die symbolpolitischen Prozesse und Informationsflüsse zur Diskussion, die Intervention in die Hegemonie von Codes. "Fakes" und Affirmation sind dabei ein wichtiges taktisches Mittel, um kulturelle Prozesse zu unterwandern. Nicht zuletzt geht es in einer mediatisierten Gesellschaft darum, Herrschaftsmechanismen als Konstruktion von Realität mit ihren eigenen Mitteln anzugreifen. Es wäre für alle Seiten dienlich, wenn Autoren das Prinzip "Realismus" nicht als Paparazzi-Freibrief verstehen und andererseits sich alle Personen, die glauben, in literarischen Texten aufzutauchen, an Nabokovs Diktum halten würden: "Literatur ist immer Erfindung. ... Wer eine Erzählung wahr nennt, beleidigt Kunst und Wahrheit zugleich." Die Schrift ist Teil des zirkulierenden kulturellen Kapitals. Literatur lebt, das ist beinahe schon ein Allgemeinplatz, nicht nur - oder gar am wenigsten - von dem, was ihr von außen zugeführt wird, sondern auch vom regen Austausch innerhalb ihrer selbst. Die Weiterverarbeitung bereits geschriebener Werke, sei es in Form einer Parodie, einer feindlichen Übernahme mit anschließender Zerstörung oder auch eines literarischen Spiels, gehört zur künstlerischen Produktion nicht erst seit der Postmoderne, die die bewusst gesetzte Intertextualität im Sinne der heute geläufigen Definition schließlich so weit auf die Spitze getrieben hat, daß deren Funktion über den bloßen Selbstzweck oder den Spaß eines Rätselspiels für Belesene hinaus nicht immer erkennbar war. Diebstahl ist strafbar. Aneignung dagegen genießt als künstlerische Technik hohes Ansehen. Die Frage ist nur: Wo hört das eine auf, wo beginnt das andere?

Ich komme zur Einsicht, daß uns die Dinge nicht geheuer sind, daß wir sie zwar auf Distanz gerückt haben, ihrem Zauber jedoch immer wieder erliegen. Kult und Magie seien erfolgreich überwunden, stattdessen ist der Vernunft mit ihren geläufigen Gegenbegrifflichkeiten der Weg gebahnt worden: hier das Subjekt, dort die Objekte; hier die Gesellschaft, dort die Natur; hier der Geist, dort die Dinge. Zu keiner Zeit war die Literatur eine Welt nackter Tatsachen, eine Welt bloßer Feststellbarkeiten. In der Geschichte der Religionen und Kulturen, der Wissenschaften und der Literatur kehrt allenthalben dieselbe Grundfigur wieder: das Bemühen, die Dinge fernzuhalten, wodurch sie nur umso interessanter wirken, weshalb sie dann erneut und verstärkt marginalisiert werden – und immer so fort. Der Versuch der europäischen Aufklärung, die Dingwelt zu entwerten und gleichgültig sein zu lassen, hat die Wiederverzauberung der Dinge erleichtert und uns zwar nicht zu gläubigen Anhängern des Fetischismus gemacht, wohl aber zu praktizierenden Fetischisten. Und so muß ich mich zu meiner bibliophilen Neigung bekennen.

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Matze
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3. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 25.11.2007 um 18:03 Uhr

Zeitlebens studiere ich die Welt. Man kann sich das wie ein Studium generale von Wandlungsprozessen vorstellen, um seismische Verwerfungen in der Kultur zu betrachten. Die Arbeit besteht darin, Muster dynamischer Systeme in Ökonomie, Gesellschaft, Kultur zu erkennen, zu verstehen und die daraus folgenden Auswirkungen auf die Zukunft zu analysieren. Dafür müssen wir theoretisch arbeiten und eine Unmenge Informationen sammeln. Mein Handwerk ist es, Worte dafür zu finden, in welchen Wandlungsprozessen die Gesellschaft steckt und diese Prozesse essayistisch zu benennen. Das Leben gewinnt eine Leichtigkeit, wenn es durch Schrift berührt wird. Schon das Kind fragte ich nach dem Anfang und Ende des Erzählens, nach Original und Wiederholung. Und stellte fest, daß die Gespräche der Erwachsenen sich ständig wiederholen, etwa die Diskussionen zwischen den Eltern und einem Onkel, der Hitler verehrt hat. Später fragte ich mich, warum sollte man etwas Eigenes erfinden und aufschreiben, wo nichts so schön ist wie das vielfach Wiederholte, wie die oft gehörten, weit verzweigten und variierten alten Geschichten und Debatten, die man Feste der Erinnerung nennt. Mir geht es um die philosophische Erörterung ums Schweigen oder Sprechen, um Zufall und Folgerichtigkeit – gleichzeitig auch seine Emotionalität. Schon in dem Augenblick wenn man eine Geschichte gehört hat oder dessen Zeuge man ist, verändert sich diese Geschichte im Gehörkanal oder auf der Netzhaut so viel, daß sie nun zur Eigenen wird. Mit der eigenen Rezeption und Wiedergabe beginnt auch die Enteignung bzw. Einverleibung des Fremden, gewollt oder nicht. Folklore ist nichts anderes als eine ununterbrochene Staffel von Ohr zu Ohr und von Mund zu Mund - niemands und allen gehörend zugleich. Wenn man aber das Motiv einer uralten Ballade mit der eigenen Trauer anreichert, ist sie nicht mehr uralt, sondern akut und eigen. L´homme naturel muß sich nicht emanzipieren, nicht das Korsett der Erziehung, die zivilisatorischen Kanons abwerfen, sondern sie gar nicht annehmen. Ein Émile lebt im genuinen Einklang mit der natur und bleibt in seinem unpervertierten Naturel bestehen, aber selbstbestimmend und frei kann der Mensch auch dann nur begrenzt, denn in der Natur leben heißt sich ihrer Bestimmungen und Gesetze unterzuordnen. Selbst wenn zu reden wäre, gilt es zu überlegen, wie ein Satz formuliert werden müsste, so daß er die Sache auch tatsächlich trifft. Dabei ist die Logik von Ereignissen absolut ungewiss, wo könnte das Sprechen also überhaupt sinnvoll einsetzen?

„Nur wer halluziniert, erblickt das Reale“, dieses Bennsche Diktum plädiert für eine synästhetische Öffnung der Wahrnehmung, die das Politische einschließt. Sehen– und Wissenwollen ist dabei die erkenntnisleitende Haltung. „Who would I be, if I could be?“ Das liest sich wie ein unschuldiges Wortspiel aus dem Geist des blühenden Nonsens. „Wer würde ich sein, wenn ich sein könnte?“ Doch wie immer bei diesem Autor steckt auch hier im Unsinn ein Sinn. Denn Becketts Frage kehrt die älteste Philosophenfrage, die nach dem Sein, spielerisch um. Weshalb, darauf läuft alles hinaus, kann ich nicht sein? Weil ich spreche: „Ich bin in Worten, ich bin aus Worten gemacht, aus Worten der anderen. Ich bin alle diese Worte, diese Fremden, dieser Wortstaub ohne Boden, um sich darauf zu setzen.“ Ebenso legendär wie Becketts Mitgefühl mit allen Menschen, die ihm begegneten, war sein völliges Desinteresse für materielle Annehmlichkeiten. Das Altersheim, in das er sich am Ende seines Lebens zurückzog, muß von schockierender Trostlosigkeit gewesen sein. „Sehe ich hier nicht die Figuren Becketts, seine Bühnenbilder, seine Requisiten? Sind das nicht seine Visionen vom Warten, Verzweifeln, Verlassensein, Verweigern?“», fragte Siegfried Unseld, der Beckett ein letztes Mal im Altersheim ‚Tiers Temps’ besucht hatte, in seinem Nachruf. „Haben diese Visionen ihn hier oder hat er sie in diesem Haus eingeholt?“ Vielleicht hatte Beckett gerade deshalb so vehement auf der Trennung von Leben und Werk bestanden, weil es sie nicht gab. Das Sein aber ist nicht „Verweigerung“ wie für Heidegger, sondern Überschuss, Orgie. Es zeigt sich im Spiel. Der wahre Spieler nun will nicht gewinnen, sondern sich selbst aufs Spiel setzen. Er kennt nur einen Willen, den Willen zur Ohnmacht. Wer die Würfel wirft, bejaht mit diesem Wurf den Zufall, wird vom mächtigen Werfer zum ohnmächtigen Würfel – und wie Bataille schreibt: „Der Spieltisch ist diese Sternennacht, in die ich falle, als wäre ich ein Würfel, der über das Feld der flüchtigen Möglichkeiten rollt.“

"Wenn wir den Mund aufmachen, reden immer schon zehntausend Tote mit." (Hugo von Hofmannsthal) — Wie hätte es anders sein können? Müssen nicht die Texte eines Autors, dem das Vervielfältigen der Identitäten am Herzen liegt, vom Strudel der Strukturen, Formen und Klänge gepackt werden? Müssen nicht Welt und Form wie endlos sich spiegelnde Spiegelbilder aufeinander bezogen sein? Muß nicht die Beziehung eines Manns zu einer Frau beispielsweise die philosophische Dimension der Geschlechterbeziehung, die Krise der europäischen Kultur und der Virilität, die Abhängigkeit zwischen Okzident und Orient, die mögliche Umkehr der Machtbeziehungen spiegeln? Und muß nicht ein ironisches, humoristisches, poetisches Spiel mit den Signifikanten getrieben, die Gestalt der Wörter entgrenzt, ihr Sinn durch Analogien, Paradoxien, Anspielungen und spielerische Übertreibungen vervielfältigt werden? Auch bei Fernando Pessoa macht sich eine Dispersion des Wesens bemerkbar (in Alberto Caeiro, z.B.). „Meinungen haben“, notiert Pessoa, „heißt sich an sich selbst verkaufen. Keine Meinungen haben heißt existieren. Alle Meinungen haben heißt Dichter sein.“ Der Dichter, kann man daraus schließen, liebt die intellektuelle Freiheit. Nur eines könnte er nicht: sich Meinungen zulegen, denn Meinungen, so sieht er es, sind der Vorhof des Ideologischen, schränken das Denken ein, setzen schlimmstenfalls den Verstand außer Kraft. Gerade darum aber kann und darf es in der Zeit, in der Soares alias Pessoa lebte, nicht gehen. „Ich für meinen Teil habe niemals Überzeugungen gehabt“, erklärt der Dichter darum an anderer Stelle. „Immer nur Eindrücke.“ Und was ist mit Don Quijote? Wie viele Seelen leben in ihm? Wie seelenlos - Faust? Wie viele labyrinthische Grillen bei Kafka? — Freiheit, das ist einerseits – und mit Rousseau – die Emanzipation des homme naturel aus den Ketten und Funktionen einer Gesellschaft der Zwänge und Stände. Doch Freiheit, das ist anderseits – und mit Kant – nichts Grenzenloses und schon gar nicht die Entäußerung der Willkür. Wenn Kant von der Autonomie spricht, so zielt der Begriff auch auf den Nomos; auf jene Ordnung, die sich das Subjekt selbst und kraft der Vernunft zu setzen vermag – und von der es dann annehmen können soll, daß sie zum allgemeinen Prinzip erhoben werde. Hier die Balance zu finden – zwischen einer Selbstbestimmung, die aus dem freien Willen schöpft, und einer Moral, die intersubjektiv zur Geltung gelangt, ist das große Anliegen Mir geht es um geht es um die Frage nach der Erkennbarkeit von Welt und der Möglichkeit, sie in Worte zu fassen. Gedenken ist nichts, was feststeht, was sicher zu haben wäre. Daher das fortgesetzte Wiederaufgreifen von Motiven, daher die Sätze, die sich mühelos Seiten hinziehen können. Wie in Zeitlupe dehnen sich Augenblicke. Ich bin fasziniert von Ruinen, von Zeugnissen des Untergehens und Verschwindens und ängstige mich vor dem, was Nietzsche einmal die Melancholie alles Fertigen nannte. Auf den Radierungen des verehrten Giovanni Battista Piranesis erkenne ich, daß jedes Ganze den Keim des Verendens in sich birgt. Spuren hinterlassen, die nicht mehr eindeutig zu deuten sind, das ist es, was mich an der Literatur interessiert, lavierend zwischen Bedeutung und Präsenz, wie es Derrida beschrieb. „Der Dichter fingiert“, heißt eine von Pessoas berühmtesten Zeilen, und wenn seine Fiktionen durchaus auch Wirkung entfalten können, so ist ihr Reich doch das des Worts – das man sich in diesem Fall streng geschieden von der Wirklichkeit denken mag. Die Spur als die Selbstauslöschung, die Auslöschung ihrer eigenen Präsenz. Was mich nie geängstigt hat, ist das Problem der Vanitas, der Vergänglichkeit. Es ist der Tod, der alles in Bewegung setzt. Die Geschichte der Literatur ist vergesslich, und damit mag es am Ende sogar sein Bewenden haben. Die Menschheit kann und will sich nicht alles merken. F. Scott Fitzgerald bemerkte, der Prüfstein für eine erstrangige Intelligenz sei "die Fähigkeit, zwei entgegengesetzte Ideen gleichzeitig im Kopf zu haben und doch weiter in Funktion zu bleiben". Die Menschen hätten von Beginn an Mythen geschaffen, denn sie sind ein therapeutisches Mittel gegen die Angst vor dem Tod. Erzähler wie Homer, Hesiod, Ovid und Mythographen wie Apollodor: Sie alle haben facettenreich die alten Mythen mitgestaltet und weiter ausgesponnen. Parallel zum mythischen Geschehen läuft eine andere, autobiografisch geprägte Geschichte über Schwere und Schwerkraft ab. Die Bürde der Autoren ist nicht das Schicksal der ganzen Welt, sondern das eigene, samt der Ablehnung, Entfremdung und Einsamkeit, die ein Adoptivkind schrulliger Eltern erfährt. Die ersehnte Befreiung von dieser Last kann durch ständiges Neuerzählen erreicht werden. Benjamin und Sartre haben in unterschiedlicher Weise darauf aufmerksam gemacht, daß traditionales Erzählen ein Wissen vom Ende des erzählten Geschehens voraussetzt. Das ist eine Perspektive, die wir unserm eigenen Leben gegenüber niemals einnehmen können. Um mit Benjamin zu sprechen: „Traditionales Erzählen nimmt seine Autorität vom Tode her.“ Indem wir den Tod aus der Lebenswelt verbannen, verschwindet zwar nicht, wie Benjamin annahm, das traditionale Erzählen, wohl aber lässt sich von daher die Bemühung verstehen, dieses als unwahr, weil vom Abschluss her konzipiert, zu entlarven. Hinter der Polemik gegen traditionales Erzählen dürfte daher letztlich die für die Moderne charakteristische Verleugnung des Todes stecken. Statt als Erzähler und als Leser die Sicht vom Ende her zuzulassen, die wir auf unser eigenes Leben niemals haben können, jagen der modernistische Erzähler und sein Leser dem Phantom einer stets unabgeschlossen bleibenden Gegenwart nach, weil sie das Ende nicht sehen wollen, das auch ihnen droht. Der Chor, dem Conrad Ferdinand Meyer seine Stimme geliehen hat, ruft aus dem vorletzten Jahrhundert noch immer hörbar zu uns herüber: „Wir Toten, wir Toten sind größere Heere / Als ihr auf der Erde, als ihr auf dem Meere!“

Der Schriftsteller steckt per se in der Verwertungslogik. Den Künstlertitanen, dem alles scheißegal ist, den gibt es nicht mehr. Es dreht sich heutzutage alles um das Funktionieren. Dieses Phänomen der Massenkommunikation ist greifbar. Walter Benjamin hätte gesagt, daß wohnen heiße, Spuren zu hinterlassen, im Netz könne man aber nicht wohnen, und, gemessen an den Spuren des Lebens, seien digitale Spuren, ipod statt CD, Google Books statt Hardcover, gar nichts. Die Bewegung im Netz folgt einer Logik des Epidemischen, die von Mediaunternehmern als „Schwarmintelligenz“ beschrieben wird. Der Schwarm schwimmt einfach nur in die Richtung, in die alle anderen auch schwimmen beziehungsweise klicken. Dennoch ist damit etwas Richtiges benannt: Die Art und Weise, wie Internet–Inhalte sich verbreiten, folgt keinem steuernden Subjekt. Die hinter der Schwarmintelligenz steckende Idee suggeriert, es müssten nur möglichst viele Leute das Gleiche tun, und schon käme etwas Tolles raus. In Wahrheit sind es immer Individuen oder kleine Gruppen, die Kreatives hervorbringen. Das einzig Positive am Internet in diesem Zusammenhang besteht darin, daß es möglichst viele kreative Individuen schnell und unkompliziert zusammenbringen kann. Aber dann müssen die Leute außerdem noch eine gute Idee haben und anschließend hart arbeiten, um die Idee zu einem marktfähigen Produkt oder gar zu einer für den Menschen tatsächlich hilfreichen Organisation aufzubauen. Und genau das passiert viel zu selten. Was stattfindet, ist dissémination: eine Zerstreuung des Sinns in alle Winde oder Wasser oder Kanäle – vor dem, was das Netz ist, versagt jede Metapher. Das Netz ist ein demokratisches, partizipatives, kooperatives Utopia. Jeder kann sein Ding machen. Das Netzwerk ist das Symbol des 21. Jahrhunderts: Netzwerke bilden die neue soziale Morphologie unserer Gesellschaften. Die Netzmaschine durchdringt unsere Leben bis zu einem Grad, der für unsere Identität prägend wird. Das Internet ist nicht nur Technologie, nicht bloß Server, Rechner, Glasfaserkabel und Software – es ist auch eine große Utopie. In den Reden über Technologie kommt zum Ausdruck, wie wir uns die soziale Realität vorstellen, welche Art von Gesellschaft wir uns wünschen – oder welche wir fürchten. Auf großartige Ideen werden immer neue gestülpt. Die schlimmste ist der Glaube an die so genannte Weisheit der Massen, die im Internet ihre Vollendung findet. Die Vorstellung wird immer populärer, das Kollektiv könne nicht nur Zahlenwerte wie einen Marktpreis ermitteln, sondern verfüge als eine höhere Intelligenz über eigene Ideen, sogar über eine überlegene Meinung. Eine solche Denkweise hat in der Geschichte schon mehrfach zu sozialen und politischen Verheerungen geführt. Mir bereitet die Vision Sorgen, nur das große Ganze, das Kollektiv sei real und wichtig, nicht aber der einzelne Mensch. Das war der Fehler in allen totalitären Ideologien, vom Nazi–Regime über den real existierenden Sozialismus bis zu den Islamisten. Der Glaube an ein Netzwerk ist eine neue Religion. Diese Menschen glauben an etwas Ewiges, Unsterbliches. Sie haben ihre Rituale, ihre Überzeugungen, ihre Heiligen. Solange dieses Menschenbild zu einer Subkultur gehört, mag sich das niedlich anhören. Computer haben jedoch mit jedem Jahr mehr Einfluss darauf, wie wir miteinander in Kontakt treten und wie wir unser Leben denken. Und mit den Computern werden auch die Ideen der Freaks immer mehr Teil des kulturellen Mainstreams. Digitale Strukturen durchlaufen, im Gegensatz zur menschlichen Kultur, keine Evolution. Sie werden gleichsam eingeschlossen. Wer glaubt, die Realität sei eigentlich nur ein gigantischer Computer und die Aufgabe sei es, seine Software zu verbessern, dem ist alles Menschliche abhold. Das Netz wird sich erst dann ändern, wenn man mit Inhalten Geld einnehmen kann. Das wäre für viele Menschen der Anreiz, anspruchsvolle Dinge im Internet zu veranstalten und zu veröffentlichen. Sofort würde es eine Fülle unterschiedlichster ernstzunehmender Stimmen geben – und dem Kollektivismus wäre die Grundlage entzogen. Das Netz ist eine große "Diskursmaschine". Etablierte, die ihre Position halten wollen, müssen auch im Netz präsent sein. Die alten Medien müssen sich den neuen Medien anpassen, in der Zeichensprache, in ihrer narrativen Struktur. Oder sie werden ganz anders werden müssen, um sich vom Netzangebot ausreichend zu unterscheiden. Einfluss hat, wer Aufmerksamkeit auf sich zu lenken vermag. Ohnmächtig ist, wer im Netz nicht repräsentiert ist. Wer nicht online ist, der bleibt auch in sozialer Hinsicht ohne Stimme. Der Prozess ist reine Dynamik, er kreist um eine leere Mitte.

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Matze
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4. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 25.11.2007 um 18:04 Uhr

Es ist eine Art künstlerischer Unschuld, die ich um jeden Preis vor dem Literatur-Betrieb schützen will, vor wechselnden Meinungen und Moden. Eine Wahrheit, die sich in Worte fassen lässt, hat ihre Unschuld schon verloren. Eine Wahrnehmung, die sich in Begriffe fassen lässt, ist schon vergewaltigt worden. Was wir nicht brauchen, ist eine Literatur, die den errungenen Zuständen, dem lebbaren Augenblick, huldigt; eine Literatur, das sich selbst und ihre Umgebung und die Zeit beweihräuchert. Das haben wir in anderen Medien zur Genüge. Diese Verdoppelung des Jetzt müssen wir nicht noch einmal doppeln. Wir haben uns um eine ständige Hinterfragung der Gegenwart zu kümmern, nicht um ihre Bejahung. Es ist ein absurdes System, Gedanken, die ursprünglich sehr privat sind, tausendfach hinauszuschießen. Daran Gefallen zu finden und diese Privatheit herauszuballern. Das Private ist dann nicht mehr privat, es löst sich von mir und geht seine eigenen Wege, die ich wiederum als Individuum aus der Distanz betrachten kann. Das ist für mich eine ganz schlüssige Autorenposition. Die Situation ist absurd, also reagiere ich auch absurd. Das ist für mich ein schlüssiges Verhalten. Meine, wenn man so will, negative Anthropologie, läuft auf den Zweifel hinaus, die große Unbewegtheit, die Ununterscheidbarkeit von leerem und vollem Bewusstsein. Die Symptomatik einer Entprivatisierung von Gedanken, Empfindungen, Träumen usw. manifestiert sich spätestens seit Gutenbergs Revolution. Ob Buch oder elektronisches Werk, die Massenkommunikation hat sozusagen immer stattgefunden, nur die Zahlen derer, die potentiell daraus speisen, haben sich vermehrt - durch weniger Analphabeten, Globalisierung des Internets etc. Man assistiert an ein ausgeprägtes Bedürfnis des Einsamen, Isolierten, Enthemmten aus Not, sich in fremden Stories wieder zu finden, um seine eigene verdauen zu können, oder aus uns Voyeure seiner eigenen Story zu machen. Der Einsame tritt intensiver und einfacher in Dialog mit einem anderen Einsamen ein, der ursprünglich er selbst war. Das Monodrama könnte die Nochmöglichkeit der Kommunikation bedeuten, die Rettungschance der Autisten, was utopisch, aber weniger absurd wäre. In einer expansiven Hyperrealität, werden Kommunikator und Adressat zu Hyperpersonnagen, daher die schrumpfende Intimität. Die heutige Literatur dynamisiert nicht die Formen der Kommunikation, sondern provoziert sie durch die Brüskierung der Inhalte. Es gibt Kunstwerke, die sind nur ein Gerücht. Es gibt Künstler, die nicht existieren und deren Werke gleichwohl heiße Ware sind. Es gibt Galerien, die stellen nichts aus und bringen dennoch die kommenden Stars der Kunstszene hervor – mitunter sind es die Besitzer dieser fiktiven Galerie höchstselbst. Es gibt Kunst–Kollektive, die bestehen aus einer Person, und einzelne Künstler, die als Gruppe auftreten oder auch gleich als Romanfigur, geschaffen von einem anderen Kunst–Kollektiv. Es gibt Autoren, die nichts als eine Fußnote in der Bibliothek zu Babel sind, verlegt in einem Seitenarm der Gutenberggalaxis. Im Dschungel des Menschlichen gibt es keine Wegweiser. Wer sich hineinbegibt, kann darin umkommen, nicht selten ist er dann in der Wahl seines Weges nicht mehr frei. Denn das entfesselte, von Konventionen befreite Denken stößt von selber vor ins Niemandsland des Denkbaren. Nicht nur die Gedanken sind frei, auch ihre Veröffentlichung ist es, darauf muß man bestehen, weil sonst die Gesinnungspolizei freie Bahn hätte. Es soll sich beim Lesen meiner Essays im Kopf des Betrachter der Gedanke an ein Gedicht von Borges einstellen, in diesem erbittet sich der vor Gott stehende Shakespeare ein eigenes Ich. Der Schöpfer antwortet, er habe seine Welt geträumt wie Shakespeare sein Werk – und unter seinen Traumgestalten sei Shakespeare: einer, der wie er, der Allmächtige selbst, gleichzeitig viele und keiner sei. Daß Literatur Lüge – vornehmer: Fiktion – ist, daraus habe ich nie ein Hehl gemacht. Im Gegenteil: Man muß es verstanden, aus dieser Tatsache Kapital zu schlagen. In meinen Essays geht es um den Konflikt zwischen der Welt des Tatsächlichen und der Welt des Auch–Möglichen. Das Ersonnene ist deshalb ernst zu nehmen, weil es der schöpferischen Phantasie eines Individuums – des Autors, aber auch des Lesers – entspringt und so Wahrheiten hervorbringen kann, die zur absoluten Wahrheit in Beziehung stehen. Essays sind demzufolge jene Art von Lüge, die es möglich macht, der Wahrheit näherzukommen. Allerdings kann der fabulierende Essayist bei der Suche nach Wahrheit nur mittelbar behilflich sein; der Leser muß sich schon selbst darum bemühen. Es ist mein tiefes Bedürfnis, zu kommunizieren und Information zu teilen –es sind die Möglichkeitsformen der Existenz, die man ausloten muß. Verwandlungen sind Forschungsreisen durch verschiedene Identitäten. Das Publikum muß nicht die Meinung einer Kritik teilen. Nie. Es soll Kritik vielmehr als Leitplanke brauchen können. Als Gehhilfe auf dem Weg der eigenen Gedankenbildung. Als Meinungsführerschaft im Sinn von Guidance und nicht von Leadership.

Von der Trias: Lust, Fleisch und Geist, über den Titus Andronicus hinaus in den Alp der Metropolen, dieser Weg müßte im 21. Jahrhundert weitergegangen werden. Ich bin ein sehr introvertierter Mensch. Wenn ich mich selber beobachte, dann nehme ich mich als expressiv wahr. Aber das ist nicht meine Natur. Ich bin nicht gerne ständig in Gesellschaft. Immer soll man humorvoll sein, intelligent und witzig. Aber das bringt mich als Mensch nicht weiter. Gleichzeitig ist es manchmal genauso schwer auszuhalten, wenn andere mich langweilig finden. Da bleibe ich lieber zu Hause. Und lese. Das Rheinland ist tief in meinem Herzen, und davon werde ich nie loskommen. Aber ich bin ein Stadtmensch geworden und könnte nicht mehr in der Provinz leben. Ich gehe gern ins Theater und ins Kino, und obwohl ich sie in diesem Film glorifiziere, mag ich die Vorstellung nicht, in einer engen Gemeinschaft zu leben, wo jeder alles von allen weiß. Ich schätze meine Anonymität im Ruhrgebiet.

Jeder kurvt allein durchs Leben, ein Auffahrunfall ist unvermeidbar. Kunst bietet keine kritische oder utopische Alternative zum defizienten Leben mehr. Die Lösung besteht darin, daß man ein Stück Leben ästhetisiert, ins Museum oder auf die Bühne setzt und als Kunst akzeptiert. Dieser ästhetische Hunger nach Wirklichkeit entspricht einer eher distanzierten Haltung zur Realität. Das Verhältnis von Realität und Repräsentation bleibt immer ein prekäres. Das lässt sich am Beispiel von Lacan und Derrida erörtern, die mit Begriffsassoziationen wie "résistance" und "reste" auf das Widerständige des Realen hingewiesen hätten. Das Reale geht weder in seiner Erkenntnis auf, noch in der Wiederholung und ist doch zugleich in der raum–zeitlichen Situiertheit des Artisten schon gegenwärtig. Romantik sei, so Novalis, der Versuch, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein zu geben. Es ist ein Programm gegen die Langeweile und das, was sie im Gefolge hat: das Bewusstsein von Leere, Nichtigkeit und Nichts. Das Romantisieren ist eine Liebeserklärung an den Irrealis, eine Epiphanie des Als-Ob, wie in dem wunderbaren Mondnacht-Gedicht Eichendorffs: "Es war als hätte der Himmel/ Die Erde still geküsst / Daß sie im Blütenschimmer / Von ihr nun träumen müsst."

Dem Siegeszug der smarten Manager, und Fliessband–Literaten mit effizienter Assistentenschar zum Trotz: Eigenwilligkeit und Skurrilität haben im Literatur-Betrieb immer noch ihren Platz. Bei seiner Selbstzerbröselung hat das klassische Genie den Exzentriker übrig gelassen, den manischen Einzelgänger, der seine schöpferischen Entscheidungen zwar nicht mehr metaphysisch untermauert, aber umso entschlossener an ihnen festhält. Der Text ist immer nur ein Element von vielen in diesem Geflecht aus Zeichen und Bildern, bei dem ein Blick ein Bekenntnis ins Unrecht setzt und eine Geste ein ganzes Leben beschreibt. Die verschlüsselten Geschichten über Menschen und die Gefahren, die sie umgeben, lassen mehr erahnen als sie benennen. Die globalisierten Welten sind rätselhaft schön und verführerisch, eine Traumästhetik aus Licht und Musik, in der die Autoren mitunter nur als Silhouetten zu sehen sind und jede Körperhaltung, jeder Gang auf einen Abgrund verweist. Denn das ist das Aufregende an diesen Rätseln: daß unter der Schönheit Fallstricke lauern, jedes Wort eine Lüge, jede Stille einen Verrat verbergen kann. „Genug der Wolken, Wellen, Aquarien, Nixen und nächtlichen Düfte; wir brauchen eine Musik auf der Erde, eine Musik für alle Tage“ – die letzte Phrase, »une musique de tous les jours«, wird durch Versalien hervorgehoben. Noch bevor der Krieg zu Ende kommt, proklamiert Jean Cocteau in seiner 1918 erschienenen Broschüre «Le coq et l´arlequin« – nicht einmal ein Essay, vielmehr ein Schwall von Aphorismen – mit einer geradezu törichten Ausschließlichkeit, die Cocteaus eigenes Musikverständnis in seiner Dürftigkeit erbarmungslos bloßlegt. Erik Satie als den einzigen in Frage kommenden Komponisten der Zeit. Saties Musik, die im Vorjahr 1917 Cocteaus Zirkus–Nonsense–Ballett »Parade« zum beabsichtigten uccès de scandale mitverholfen hat, ist nun das neue zeitgemäße Ideal, für das Cocteau blumig–drollige Metaphern findet: „Musik, in der ich wie in einem Haus leben kann“; „Musik, auf der man geht“; „Musik ist manchmal auch ein Stuhl“; «Unsere Musik muß nach menschlichem Maß gebaut sein“. Worin Saties „Kunst“ – von der niemand gesprochen hat, bevor Cocteau sie erfunden hat – bestehen soll: „Satie lehrt die größte Kühnheit in unserer Zeit: schlicht (simple) zu sein.“

Cocteau, der elitäre Dichter, dachte natürlich keinesfalls an das, was Hindemith unverblümt „Verschleissmusik“ nannte. Doch genau damit befaßt sich Satie, und zwar ganz radikal und mit einem hohen Grad von Ironie: Er entwirft die Idee einer »musique d´ameublement«, einer Möblierungsmusik: „Die musique d´ameublement ersetzt die Walzer, die Opernfantasien usw. Nicht verwechseln! Das ist etwas anderes! Keine falsche Musik mehr: – musikalische Möbel! Die musique d´ameublement vervollständigt die Einrichtung (…). Sie beeinträchtigt nicht die Gewohnheiten. Sie ermüdet nicht…“ Satie hat 1917 notiert: „Seien wir Künstler, ohne es zu wollen. Die Idee kann auf die Kunst verzichten.“ Und Duchamp 1913: „Kann man Werke machen, die nicht Kunst sind?“ Seit Susan Sontag wissen wir, daß Camp keine natürliche Weise des Erlebens. Zum Camp gehören der Trick und die Übertreibung ist. Camp ist esoterisch, eine Art Geheimcode, ein Erkennungszeichen kleiner urbaner Gruppen. Camp favorisiert die Eleganz des Stils auf Kosten des Inhalts. Und die schrille Nuance anstelle der psychologischen Tiefenschärfe. Ein grandioses Kostüm, ein exorbitanter Hut, eine exquisite Pose können im Zweifel wichtiger sein als jedes Schicksal. Die Wechselbeziehung zwischen Langeweile und Camp kann kaum überschätzt werden. Es gibt keinen größeren Irrglauben als denjenigen, daß ein Essayist unter mehreren im Recht sein könnte. Es gibt bei der Beurteilung von Kunst kein Recht und kein Unrecht. Es sei denn, Grenzen der Gesetzschreibung, die man einmal vereinbart hat, werden im Namen der Kunst verletzt, Menschenrechte missachtet oder ähnliches. Aber sonst gilt: Kunst ist immer Verhandlungssache. Wie die Wissenschaft schafft künstlerische Arbeit das Wissen auf Verfahrenswegen, die zum größeren Teil noch immer in akademischen Institutionen verlaufen. Die Zeichen jedoch mehren sich, daß so etwas wie eine postakademische Wissenschaft im Entstehen begriffen ist. Es wächst das, was man als „Anwendungsdruck“ bezeichnet, der Druck, den Wirtschaft, Politik und Öffentlichkeit auf die Wissenschaften und ihre Institutionen ausüben, indem sie ökonomisch oder politisch zu Buche schlagende Nutzanwendungen wissenschaftlicher Forschungsergebnisse fordern. Diese Nützlichkeitsforderung kann zu Verschiebungen in den Forschungsmethoden führen. Es geht darum, einen Diskurs zu finden, eine Debatte, einen Austausch, das Gespür eines Publikums für eine brennende Frage zu sensibilisieren. Ein Essay darf nie nur die Kritik des ästhetischen Handwerks sein. Ein Essayist muß eine Zeitdiagnose vornehmen, muß nach der Entfaltung und Dechiffrierung von Gegenwart in einem Stück fragen. Recht hat niemand. Weder die Alten noch die Jungen. Was einen jedoch nicht davon abhalten darf, eine Leidenschaft zu entwickeln. Und zwar eine ehrliche Leidenschaft. Ebenso eine ehrliche Abneigung. Es ist ein alter Traum von Schreibenden, im „Undeutigen“ anzukommen und möglichst darin heimisch zu werden – vielleicht, um den Eigensinn der Worte herauszufordern und zu betrachten, in welche Zustände die Sprache verfällt, wenn man sie vom Diktat der ordnenden Vernunft befreit. So wäre der Autor schreibend weniger bei sich als bei der Sprache selbst.

Paul Valéry brachte das Kunststück fertig, in einem kleinen Artikel höchst eloquent über Proust zu reden, ohne ihn wirklich gelesen zu haben. Und Proust selbst hielt das Lesen, sofern es nicht zu eigener Produktion führte – zu Produktion und Entzifferung des «livre intérieur», das wir alle in uns tragen –, für eine rein «passive», sterile («livresque») und also sinnlose Tätigkeit. Wir müssen lernen, was selbstverständlich sein sollte: selbstbewusst mit der Welt der Ideen und der Bücher umzugehen. Als Leser habe ich das Recht, den Büchern gegenüber seinen Eigensinn zu behaupten, diese gegebenenfalls nur als Steinbrüche zu besichtigen und/oder auszubeuten. Denn im Zweifel gilt auch hier Kants Maxime, man habe sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Manchmal fühle ich mich als Molotowcocktail der Verletzlichkeit und der Aggression und werde vom Opfer zum Sieger. Ein Autor schreibt, indem er sich an der individuellen und kollektiven Erinnerung abarbeitet. Zur Phantasie habe ich ein skeptisches Verhältnis und versuche erstens, meine Phantasien auf Reales zu beziehen, auch Politisches, und meine Phantasien in Vernunft zu überführen und nicht eine wie auch immer geartete Phantansieüberschwemmung aus meinen Essays herausquellen zu lassen. Manchmal habe ich das Gefühl, daß Phantasie nichts anderes als ein besonders gutes Gedächtnis ist. In Büchern reise viel in eine utopische Weite, indem ich die real existierende Welt zu einem von mir gedachten Besseren hin zu verändern hoffte. Ich versuche mit Leselust in den Büchern zu prüfen, wie sehr ich überhaupt noch lebe. Der Literatur gelingt es, die schrecklichsten Sachen zu verwandeln in einen Schmerz, der nicht mehr schmerzt, und das führt dazu, daß der Schreiber, der gerade einen Tod oder einen Suizid oder eine andere Schrecklichkeit beschreibt, in seinem Schreibgefühl eine große Freude hat. Der schreckliche Tod von Anna Karenina ist erhebend; im wirklichen Leben wäre er nur entsetzlich. Alle Dichter kämpfen gegen den Tod, und es muß doch eine Möglichkeit geben, ihm ein Schnippchen zu schlagen. Ich habe den Trick noch nicht gefunden. „Ein neuer Rayon fängt an wie ein Schritt ins Leere; als sei man auf eine tiefe Stufe getreten, die man nicht sah.“, schreibt Walter Benjamins in seinem Passagen–Werk, das ist nicht nur ein Bild des städtischen Flaneurs, sondern auch des Todes. Jeder Blick in die Leere fordert die Fähigkeit, das nichtige Nichts bloßer Gags, intellektueller Selbstläufigkeit oder auch depressionsbedingter Ödnis von jenem Nichts zu unterscheiden, in dem sich das Denken von jeglichem Etwas – von Gegenständen, Formen, Relationen, Kontrasten – lösen kann und so im Überschreiten seiner eigenen Grenzen auf einen Grund der Fülle trifft. Eine Rose ist keine Rose ist keine Rose, und selbstverständlich gibt es keine schwarze Milch. Oder es gibt sie doch, jedenfalls als Metapher, man nennt das: Oxymoron.

Matthias Hagedorn

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