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Literaturforum: Alfred Döblin - Reise in Polen


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Forum > Rezensionen II > Alfred Döblin - Reise in Polen
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 Thema: Alfred Döblin - Reise in Polen
LX.C
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Eröffnungsbeitrag Abgeschickt am: 10.09.2008 um 12:33 Uhr

Nach zuletzt hundertdreiundzwanzig Jahren Fremdbestimmung und mehreren gescheiterten Aufständen konnte sich Polen im Zuge des Ersten Weltkrieges von seinen Besatzungsmächten Deutschland, Österreich und Russland befreien. Im Dezember 1918 hatte sich von Posen aus der Großpolnische Aufstand (Powstanie Wielkopolskie) formiert, der die Großmächte im Versailler Vertrag (1919) zur Anerkennung des polnischen Staates zwang.
Nur wenige Jahre später, 1924, bereist Alfred Döblin (1878-1957), Nervenarzt in einem Arbeiterviertel Berlins und Schriftsteller, für mehrere Monate das unabhängige Land, welches mittlerweile im Krieg gegen russische Bolschewiken und ukrainische Bauerntruppen seine Ostgrenze festigen konnte, und sich über Teile Litauens, Russlands bis in die westliche Ukraine erstreckt.
Döblins Stationen sind: Warschau, Wilno, Lublin, Lemberg, Boryslaw und Tustanowice (im Naptharevier), Krakau, Zakopane und Lodz, die Rückreise endet im deutsch/polnisch verwalteten Danzig.

Was findet er vor? Ein Land, das heterogener kaum sein könnte, ein Land, das polarisiert; von konservativ fromm bis aufgeschlossen klerikal, von europäisch modern bis übersensibel nationalistisch, von reich bis arm. Die Unterschiede zwischen litauischen, ukrainischen Gebieten, aber auch innerhalb des traditionellen Territoriums um Groß-, Kongresspolen und Krakau selbst sind eklatant.

„Und wie ich am Morgen in Lemberg durch die große Straße gehe [...] bleibe ich in einem ruhigen Atmen. Die Verstummung ist vorbei [...] Mein Herz geht auf. Schauerlich war Lublin: diese Armut, Enge, der Schmutz.“ (183)

Wieder einmal zeigt sich, wie wenig die Menschen aus der Historie zu lernen imstande sind. Kaum der Okkupation und Unterdrückung entronnen, handelt die Staatsmacht des junge Polens nicht anders, als es das selbst über Jahrhunderte erdulden musste. Völker werden unter Zwang zusammengehalten, die nicht zusammengehören. Wie ein Kind, das geschlagen wurde und sich später nicht anders zu helfen weiß, als mit Gewalt. In der Ukraine werden eigene Universitäten unterbunden, Zeitungen zensiert, politisch aktive Ukrainer inhaftiert. Die Lage in Lemberg, das in seiner Lebensart Wien näher steht als Warschau, ist gespannt.

„So leben die drei Völker in Lemberg zusammen, nebeneinander: Polen, die Stadt beherrschend, aufmerksam, lebendig, die Besitzer, - Juden, vielspältig, versunken und abweisend, oder mißtrauisch, sich wehrend, rege, zum Leben erwacht, - Ukrainer, unsichtbar, lautlos hier und dort, zurückhaltend, jähzornig, gefährlich, trauernd, die Spannung von Verschwörern und Aufrührern um sich.“ (205)

Von diesen politischen Wirren, um territorialer Machterhaltung und Machtbegehren einzelner Interessengruppen hat der Autor längst die Nase voll. Als freche Hochmut bezeichnet er das, was man als nationale Gemeinschaft an die Spitze aller stellt; ein Körper mit schlechtem Blut. Wichtig ist ihm, ganz Döblin eigen: der Einzelmensch, der in diesem Körper existieren muss, der Blick auf die Ärmsten der Armen und auf den jüdischen Mitbürger, ein Blick, der dieses Werk so entscheidend prägt und lebendig macht. Sein Bekenntnis:

„Der Mann mit dem Kneifer an meinem Tisch legt seine Zeitung hin, zählt Geldbündel [...] Mein Gott, ich mag diese nicht. Es ist nichts mit ihnen. Bei den Armen der Peripherie [...] bin ich.“ (188)

So zieht es ihn geradezu wie ein Magnet in die Slums der Städte, die er besucht, um schrecklichste Zustände kenntlich zu machen. Erdrückend scheint die Armut des damaligen Polens, kotige Straßen, zusammengefallene Häuser, Kriegsschäden. Auf Marktplätzen, in Armenvierteln, vor Gotteshäusern vegetieren die Bettler in Scharen.

„Alles in Lehm und Unrat von Stroh, Schutt, Abfällen versinkend. [...] Gebückte Alte in entsetzlich zerrissenen Kaftanen, schmierig, mit lumpigen Hosen, aufgeplatzten Stiefeln suchen am Boden in dem Unrat mit Stöcken.“ (230)

Auffällig häufig gehören diese Menschen dem jüdischen Volk an, das Döblin fasziniert und auf das er immer wieder zurückkommt - zurückkommen muss, denn auch die Juden sind von ganz unterschiedlichem Schlag. Was als eigenständiges Volk innerhalb einer Nation gilt, stellt sich als ebenso unhomogen heraus, wie die Nation selbst. Döblin nimmt an ihren Ritualen und Zeremonien teil, wandert an Festtagen den pilgernden Massen hinterher, besucht Rabbis, versucht sich ein differenziertes Bild von dem polnischen Judentum zu machen. Und auch hier führen ihn seine gesunde Neugierde und die Suche nach dem Authentischen bis hin zur ganz großen Ernüchterung:

„Was die aufgeklärten Herren, die jüdischen Aufklärer sagen werden, weiß ich. Sie lachen über ‚die dummen rückständigen’ Leute ihres eigenen Volkes, schämen sich ihrer.“ (250)

Dabei beginnt die Reise ganz euphorisch, man hat den Eindruck von lockeren Stilübungen für den 1929 folgenden Roman „Berlin Alexanderplatz“. Das bietet sich generell an, angesichts der Konzentration auf die Großstädte. So finden sich auch die typischsten Merkmale des modernen Großstadtromans immer wieder; Massen, Gedränge, Marktplätze, die Elektrische, und eine latente Einsamkeit und Verlorenheit, die auch ein Biberkopf in Berlin erfahren wird. Zunehmend gewinnt mit dem Ernst der Lage jedoch das dokumentarisch deskriptive überhand, wenngleich mit expressionistischen Einschlägen. Insbesondere wenn Döblin in Menschmassen eintaucht, löst sich die normative Sprachlogik auf und zersprengt in eine kurze, abgehackte und telegraphische Sprache der Überreizung und Ohnmacht. Das Werk lebt von Kontrasten, es schockiert, es rührt und es bringt große Lesefreude, denn an Ironie und witzigen Anekdoten lässt es der Autor trotz aller Umstände nicht fehlen.

Nach allem sollte nun klar sein: „Reise in Polen“ ist keine Anregung ein Land touristisch zu erschließen; hierfür wendet man sich lieber an den Baedeker. Dieses Werk ist eine Bestandsaufnahme, eine Quelle über das bunte Treiben in einem jungen Staat, der mit dem Ausrottungsfeldzug Hitlers 1939 sein abruptes und grausames Ende fand.
Neben der politischen Landschaft, der gesellschaftlichen Struktur und Kultur, rücken insbesondere die jüdischen Mitbürger immer wieder in den Vordergrund der Betrachtung. Dabei wird deutlich, dass das Leben des jüdischen Volkes kein homogenes war, sondern so facettenreich wie das Land selbst.
Wer sich für Polen oder das Judentum interessiert, wird an diesem einzigartigen Werk nicht vorbeikommen. Alle Übrigen sollten sich einen Ruck geben, denn „Reise in Polen“ schließt eine klaffende Lücke im historischen Polenbild des bundesdeutschen Zeitgenossen.

(Zitate entnommen aus: Döblin, Alfred: Reise in Polen, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1987, 4. Aufl. 2006.)


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ArnoAbendschoen
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1. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 03.02.2015 um 21:45 Uhr

O wie interessant, besonders die Absätze 4 und 5 ... So etwas weitet den Blick auf die Geschichte statt ihn zu verengen, wie so oft jetzt.

(Ich kam über das Stichwort Polen zu dieser alten Rezension, habe gerade den sehr lohnenden polnischen Film "Im Namen des ..." gesehen; so viel zur Erklärung.)

Arno Abendschön

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Kenon
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2. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 03.02.2015 um 23:06 Uhr

Ja, Lviv / Lwów / Lemberg / Leopolis ist gewiss eine der schönsten Städte Europas. Den Sowjetmief hat sie in den letzten Jahren mit einiger Mühe abgestreift, viel steinernes erinnert noch an die lange dunkle Zeit, kann ja nicht von heute auf morgen verschwinden. Natürlich: Ohne die Polen würde es diese Stadt nicht geben, aber die Ukrainer von heute erweisen sich ihrer mehr als würdig. In ein paar Jahren werden die internationalen Touristen dorthin genauso selbstverständlich strömen wie nach Prag oder Krakau - was auf gewisse Weise auch zu bedauern sein wird.

Schön, dass Du diese alte Rezension wieder hervorgeholt hast. Ein Grund, dieses Döblinsche Buch mal genauer anzuschauen.

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ArnoAbendschoen
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3. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 03.02.2015 um 23:41 Uhr

Ja, Kenon, ist im Hinterkopf vorgemerkt. Döblins Werk und Ostmitteleuropa sind fesselnde Gegenstände. (Bei mir gerade wenig Zeit aufgrund bevorstehendem Komplettumzug nach Berlin.)

Bei der Gelegenheit danke für die Vorstellung von Clarks "Die Schlafwandler". Habe eben im Netz dazu recherchiert, div. Rezensionen und Interviews mit dem Autor gelesen bzw. gehört. Seine Auffassungen bez. WK I teile ich weitgehend. Allerdings kannst du dich in Sachen Ukraine-Krieg kaum auf Clark berufen. Im Verlauf des letzten Jahres hat er sich wiederholt eher in meinem Sinn geäußert, z.B. in dem Interview mit dem Wiener Standard vom 11.6.14 (Video im Netz).

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön

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Kenon
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4. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 04.02.2015 um 00:01 Uhr

In Bezug auf die Ukraine habe ich mich auch nicht auf Clark berufen wollen. Die Welt hat da ja z.B. folgendes zu geschrieben: http://www.welt.de/geschichte/article128662349/Historiker-Clark-vergleicht-E U-Politik-mit-1914.html
Mir ging es mehr um die Betonung der Rolle Russlands bei der Herbeiführung des 1. Weltkrieges. Aber lassen wir das Thema lieber. Polen ist auf jeden Fall immer eine Reise wert, und das wirklich erst nach dem Zusammenbruch des Kommunismus. Erstaunlich, was diese Nation im letzten Vierteljahrhundert geleistet hat! Von Ostdeutschland (PDS + Pegida) kann man das leider nicht behaupten.

Zu Döblin: Der Alexanderplatz - jenseits jeder Beschreibung. Mit Werken wie "Berge Meere und Giganten" kann ich leider gar nichts anfangen.

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Itzikuo_Peng
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5. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 12.03.2015 um 16:57 Uhr

Zitat:

Zu Döblin: Der Alexanderplatz - jenseits jeder Beschreibung. Mit Werken wie "Berge Meere und Giganten" kann ich leider gar nichts anfangen.

Zustimmung zum Alexanderplatz. Ich habe von Döblin das Taschenbuch Die drei Sprünge des Wang-lun seit 1980 mit Lesezeichen auf Seite 48 im Regal stehen ... schwanke immer wieder zwischen Altpapiersack und Heb´s-dir-auf-fürs Rentnerdasein, nie weitergekommen mit dem Klopper. Lesen ging (noch) nicht, wegwerfen auch nicht, ich warte mal noch eine Weile.

Ah ja, das Lesezeichen ... von einer Buchhandlung, die es nicht mehr gibt, werbend für: 1975 - Das Thomas-Mann-Jahr. Was man so alles wieder findet.


Miau
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Itzikuo_Peng
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6. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 12.03.2015 um 17:41 Uhr

Wär das jetzt hier facebook, lüde ich ein Bild meines Lesezeichens hoch; und dann gucken, wie viele "Gefällt mir" anklicken ...


Miau
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Kenon
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7. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 13.03.2015 um 21:40 Uhr

Zurück zur "Reise in Polen":

Dass Literatur eine Ware ist, sieht man gut an diesem Buch. Derzeit ist es vergriffen, man kann sich aber ab EUR 44,- aufwärts eine gut erhaltene Taschenbuchausgabe kaufen... Verfügbarkeit und Nachfrage bestimmen den Preis. Neu war das Buch viel billiger. Ich werde mich also bis zum 22. Oktober 2015 gedulden müssen, da kommt die Neuauflage als Ebook für EUR 9,99, als Taschenbuch für EUR 11,99.

Angelesen von Döblin stehen hier noch Berge Meere und Giganten. Unlesbar. Die Ermordung einer Butterblume ging noch.

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ArnoAbendschoen
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8. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 14.03.2015 um 11:48 Uhr

Von Döblin las ich vor langer Zeit auch "November 1918" (knapp 2000 Seiten) und war relativ enttäuscht: viel interessantes zeitgeschichtliches Material ausgebreitet, aber nicht in eine literarisch überzeugende Form gebracht. Ich musste an Dos Passos´ "USA-Trilogie" denken, in der (z.T. parallele - Welkrieg I) Zeitgeschichte mit den Mitteln moderner Literatur vorzüglich aufbereitet wird.

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