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Literaturforum: Albert Weisgerber - Ich male wie ein Wilder


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 Thema: Albert Weisgerber - Ich male wie ein Wilder
ArnoAbendschoen
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Eröffnungsbeitrag Abgeschickt am: 06.08.2011 um 11:52 Uhr

Wer sich im Herbst 2009 dem Landesmuseum in Hannover näherte, entdeckte an der Fassade die überdimensionale Reproduktion eines männlichen Porträtbildes. Es war ein Ausschnitt aus dem Selbstbildnis des Malers Albert Weisgerber (1878 – 1915) aus dem Jahr 1908. Mit ihm wurde – auch auf Plakaten und als Titelbild in Druckschriften - für eine Ausstellung geworben: „That’s me! – Das Portrait von der Antike bis zur Gegenwart“ (13.11.09 – 28.02.10). Weisgerber überhöht sich auf diesem Bild als souveränen Künstler und behält zugleich Züge von Verletzlichkeit. Dieser Doppelcharakter verleiht dem Werk eine Strahlkraft, die Ausstellungsbesucher anlocken sollte.

Ähnlich stark und zwiespältig war auf mich der Eindruck des ersten Bildes, das ich von Weisgerber sah: Selbstbildnis mit nacktem Oberkörper von 1911 (Pfalzgalerie Kaiserslautern). Ich notierte mir: scheu und aufreizend … verströmt unausgesprochene Autoerotik … Ausdruck einer Versenkung in sich selbst, fordert jedoch keinesfalls auf, sich zu nähern … Später las ich dazu die klugen Sätze in Bernd Apkes Buch „Blicke wie Pfeile – Selbstporträts und Sebastiansdarstellungen“ und fand dort kompetent dargelegt, was ich schon beim ersten Betrachten empfunden hatte.

Ich sah viele Bilder von ihm und begann mich auch für den Menschen zu interessieren. Als Fundgrube erwies sich der 2006 von Gerhard Sauder herausgegebene Band „Ich male wie ein Wilder – Albert Weisgerber in Briefen und Dokumenten“. Aufschlussreich ist schon das darin enthaltene Klassenfoto: Weisgerber im Zentrum, alle Schüler um ihn angeordnet, der Lehrer unter ihm. Als Einziger legt Weisgerber einen Arm auf die Schulter seines Nachbarn und die herabhängende Hand des späteren Malers kommt bedeutungsvoll ins Bild.

Mit seiner Schulbildung in St. Ingbert scheint es nicht weit her gewesen zu sein. Noch in München ist sein Briefstil überaus schlicht und voller Rechtschreibfehler. Er schreibt, wie er spricht, z.B. "läntlisch". Nur aufgrund seines großen Talentes ist er zum Kunststudium zugelassen worden. Die Bildungsdefizite verschwinden im Lauf der Zeit. Die Geldnöte begleiten ihn durch die Jahre. Er finanziert seine Ausbildung zum großen Teil durch Arbeit als Illustrator und Karikaturist. Geschenke nach Hause müssen schon mal verschoben werden. Er hat Erfolg, macht sich früh einen Namen und bleibt meist mit dem Erreichten unzufrieden. Er beklagt Zeit- und Geldmangel und spricht sogar von „Kunstprostitution“.

Beim Todeskampf der Mutter ist er dabei und sieht in Kunstwerken nach diesem Erlebnis nur noch „Glassteine unter Diamanten“. Über der Heimatstadt liegt vor allem „Dunst“, nicht nur im wörtlichen Sinn. Die Zeit in Paris wird ein „einziger moralischer Kater“. Er schreibt von einer „Affaire“ – ist auch damit der Schock gemeint, den dort die neueste Malerei bei ihm auslöst? Oder er berichtet von der Seine: „Wir nahmen 2 Cocotten mit und erfreuten uns am Spiel ihrer lesbischen Liebe. So was sah ich in meinem Leben noch nicht, es war wirklich schön. Gar nicht unästhetisch …“

Wenig später heiratet er eine Jüdin aus Prag. Sie kommt aus großbürgerlichem Haus, ist viel intellektueller als er und malt auch. Es scheint keine konventionelle Ehe gewesen zu sein. Sauder schreibt: „Allem Anschein nach haben sich Weisgerber und Grete Pohl von vornherein eine gewisse Lizenz für weitere erotische Kontakte eingeräumt.“ Die Briefe des Malers an seine Frau beweisen Achtung, Wertschätzung, viel Zuneigung. Als sie ihm einmal Fotos von sich geschickt hat, antwortet er: „Dein Blick traf mich ein bisschen wie ein Vorwurf, ich sollte so sein wie Du.“ Gelegentlich hat die Gattin Briefstellen von ihm unkenntlich gemacht, auch ganze Briefe von ihm vernichtet. Das Bild ihrer Beziehung bleibt undeutlich.

Das Ehepaar war lange mit dem Maler Eugen von Kahler befreundet. Er war ein entfernter Verwandter von ihr, bewunderte sie als Frau und ihn als Maler. Tuberkulös und todkrank will er 1911 endlich seine erste Bilderausstellung haben. Albert Weisgerber wird sie ihm wenige Wochen vor seinem Tod im Herbst noch verschaffen. Im Mai aber ist Kahler unzufrieden. Er beklagt sich, dass Weisgerber ihm nicht antworte, und fährt fort: „Von mir wirst du alles wissen durch Grete, und meine Briefe an sie sind immer auch für Dich, mit Ausnahme der Stellen, wo ich ihr den Hof mache und welche in Folge des § 175 nur an Deine Frau gerichtet sein können. Hoffentlich zerstört das keinerlei süße Hoffnungen bei Dir …“ Es soll nur ein Scherz sein – oder doch eine freundschaftliche Erpressung? Weisgerbers engster Malerfreund, Gino von Finetti, berichtet lange danach: „In jener Zeit und auch wohl später wurde W. von einer Gruppe neidischer Kollegen mit allen Mitteln bekämpft. Man wollte unbedingt einen Skandal provozieren …“ Wir erfahren keine Details. Gino von Finetti stellt 1918 für die erste Weisgerber-Biographie nur gekürzte Abschriften von Briefen des Malers an ihn zur Verfügung – und vernichtet danach die Originale.

Unaufgehellt bleibt auch, warum Weisgerber überhaupt in den Krieg zog. Er scheint anfangs vom Chauvinismus angesteckt gewesen zu sein, doch das verfliegt weitgehend nach dem ersten Fronteinsatz. Und schon an seinem letzten Abend in München sah man ihn sehr bedrückt. Nachdem er gefallen ist, setzt sogleich die Debatte ein, ob sein Verlust nicht zu vermeiden gewesen wäre. Der große Adolph von Hildebrand schreibt an den bayrischen Kronprinzen, vor der Reichsgründung seien Künstler von Wert vom Kriegsdienst verschont geblieben. Infamerweise führt er jetzt Weisgerbers Kriegsteilnahme auf eine sozialdemokratische Zeitströmung zurück. Ein Schulfreund von Weisgerber, der Maler Rudolf Schwarz, klärt uns Leser von heute auf: Die Möglichkeit der Befreiung gab es in Bayern auch 1914 noch, er selbst habe von ihr Gebrauch gemacht. Schwarz vermutet Eheprobleme im Hintergrund.

Weisgerber malt im Krieg nicht mehr. Er macht eine neue Karriere, bekommt das Eiserne Kreuz, führt eine Kompanie. Seine kurzen Berichte nach Hause sind ungeschminkt, vermitteln das Grauen des Krieges. Allein schon diese Dokumente machen das Buch lesenswert. Er teilt furchtbare Opferzahlen mit. Zu Weihnachten 1914 kommen die Gegner aus den Schützengräben und beschenken sich, bis die Oberen das Fraternisieren verbieten. Am 6. Mai 1915 schildert Weisgerber seiner Frau, wie Männer seiner Kompanie vier Engländer auf vorgeschobenem Posten überraschten. Sie wollten sich ergeben, doch die Deutschen erschossen sie unter dem Vorwand, sie nicht verstanden zu haben. Vier Tage später durchdringt eine englische Kugel Weisgerbers Schläfe. Er ist sofort tot. Bei der Bestattung tags darauf erklingt Beethovens Trauermarsch. Die Grabrede könnte so für Prousts Saint Loup gehalten worden sein. Die Zeremonie wird sogar von einem Zeichner im Bild festgehalten – bevor sie abgebrochen werden muss: Die heftigen Kämpfe sind wieder aufgeflammt.

Später ist das Buch ausgelesen und ich lege es mit gemischten Gefühlen zur Seite: so viel erfahren und doch kein wirkliches Bild gewonnen. Zensur und Selbstzensur haben, scheint mir, ihre Ziele weitgehend erreicht. Es bleiben im Dunkeln die Grundmuster von Weisgerbers Verhalten innerhalb von Beziehungen und in deren Krisen. Die große Biographie des Malers ist noch nicht geschrieben, sie nachzuholen vielleicht unmöglich. Ich sehe mich auf seine Werke zurückverwiesen.

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