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-- Rezensionen II
--- Friedrich Glauser - Matto regiert

Kroni - 24.10.2006 um 22:29 Uhr

"Wie fängt ein Mathematiker einen Löwen ? - Ganz einfach: der Mathematiker schlägt vor sich den Einheitskreis, und schaut, ob der Löwe drinnen ist. Ist das nicht der Fall, dann stellt er sich in den Einheitskreis und spiegelt an der Kreislinie das Innere und das Äussere des Kreises - dann ist der Löwe drin, und der Mathematiker draussen."

Dieser alter Akademikerwitz kann einem zu denken geben - die Kreislinie, an der das Innere und das Äussere gespiegelt wird: das ist das Thema in der Literatur, an dem der Autor sein Inneres nach Aussen spiegelt, und das Äussere, die Welt in sein Innerstes, immer wieder, ein fortlaufender Prozeß.

In Friedrich Glauser´s 1936 erstmalig erschienenen Kriminalroman "Matto regiert" ist die Mauer einer Irrenanstalt jene Kreislinie, an der das Innere und das Äussere hinein und wieder herausgespiegelt werden - und wieder retour.
Wachtmeister Studer, ein ehemaliger Kommisar, der in einem Fall von Wirtschaftskriminalität einem zu hohen Tier auf die Zehen getreten hatte, und derethalben wieder zum Wachtmeister degradiert ist, wird in eine Irrenanstalt geschickt. Ein Kindsmörder und der Anstaltsdirektor verschwinden fast gleichzeitig, gegen Ende einer Art Erntedankfeier. Der stellvertretende Leiter hat wohl Angst, und bittet um "behördliche Deckung" in Gestalt des Wachtmeisters Studer.
Dieser, Archetyp des bedächtigen und behäbigen Berners, ein eidgenössischer Maigret, setzt sich in Marsch, und ab der zweiten, dritten Seite bleibt die Handlung innerhalb jener Anstaltsmauern eingesperrt - und der Leser mit ihm: Willkommen im Irrenhaus ! Friedrich Glauser kannte sie sehr gut, diese Welt - er hat längere Zeit seines Lebens in solchen Anstalten verbracht, entmündigt bis zu seinem Tode wegen Alkoholismus, Drogengeschichten, trotz beginnenden Erfolges als Autor. Den Maigret seines glücklicheren Zeitgenossen Simenon nannte er - dem Klappentext meiner Diogenes-Ausgabe zur Folge - als explizites Vorbild. Nur eben auf Schweizerisch, in ungewohntem, allemanisch gefärbten Deutsch: das "Anken" der allemanische Ausdruck für Butter ist, erschließt sich allmählich, aber einer der vielen rätselhaften Gegenstände dort ist ein Sandsack der ausschaut, wie ein "riesiger Schübling" - man weiss es bis zum Ende nicht, was ein ´Schübling´ sein soll, doch das ist noch das harmloseste Rätsel dieser Geschichte.

Der Schweizer Wachtmeister im Irrenhause also, freundlich empfangen von jenem Stellvertreter, der ihn im Gästezimmer seiner Dienstwohnung einquartiert, sieht sich um, und bewegt sich teils vorsichtig, teils sich treiben lassend, manchmal auch forsch tastet er sich durch jene fremdartige Welt der Irren und Pfleger, Portiers, Krankenschwestern, Nachtwächter, Küchenmädchen, Ärzte und Verwaltungspersonal, und taumelt dabei von einer grotesken Begegnung zur nächsten. Unterwegs, fast beiläufig, findet er den Direktor im Heizungsraum - tot natürlich. Und ebenso tastend ermittelt er dialogisch - in Gesprächen mit den Bewohnern jenes engen und doch unendlich weiten Bezirkes, in dem Matto regiert - der König des Wahnsinns, wie ihn ein Patient poetisch beschreibt. Er entdeckt, daß es neben der strengen offiziellen Hierarchie auch noch andere Strukturen gibt in jener Anstalt, in der sich erstaunliches abspielt, was eigentlich doch nur sehr menschlich ist - am Rande des Absurden spiegelt sich der ganz normale Wahnsinn. Einmal träumt der Wachtmeister, die Anstalt sei garnicht so fest abgeschlossen von der Welt, sondern sie ziehe wie eine Spinne ihre Fäden durchs ganze Land, und gegen Ende der Geschichte ist im Radio, daß im Hintergrund Marschmusik spielte, eine fremde Stimme zu hören: "Sie war eindringlich, aber von einer unangenehmen Eindringlichkeit." Es ist die Stimme Adolf Hitlers - aus einer seiner frühen Reden wird wörtlich zitiert, an ohnehin unheimlicher Stelle der Erzählung.

Es ist das spezifische Dilemma des Krimi-Rezensenten, daß er die Pointe, die Auflösung nicht verraten darf, damit dem Leser die Spannung erhalten bleibe - so jedenfalls lautet die Regel, wie die Regel, daß am Ende des Krimis die Auflösung des Rätsels zu kommen hat, die Katharsis eintrete wie in der antiken Tragödie. Friedrich Glauser indessen schert sich um diese Regel nicht sehr viel. Wie in Agatha Christie´s "Mord im Orientexpress" gibt es zwei Versionen der Lösung: eine für die Polizei, und eine Wirkliche. Der Leser, der dort Hercule Poirreau über die Schulter geschaut hat, kennt die Wirklichkeit, und stimmt in solidem Gerechtigkeitsempfinden dem Betrug an der yugoslavischen Polizei zu. In Glausers Geschichte indessen gibt es keine solche klare Aufklärung darüber, wie der Direktor zu Tode gekommen ist, und durch wen: beide Varianten sind gleichermassen unsympathisch, und das Grübeln darüber kann ein schmerzhaftes Kopfzerbrechen bereiten, an dessen Ende doch nur die Frage steht, die spätestens seit dem Führer im Radio als das Grundthema des Romans wie ein Menetekel an die Wand gemeisselt ist:

"Wo hört Mattos Reich auf, Studer ?" fragte der Arzt leise."




KlausMattes - 29.09.2014 um 15:34 Uhr

"alemannisch" schreibt sich mit zwei n, dafür einem l.
"jugoslawisch" üblicherweise mit j und w im Deutschen. Aber war es überhaupt Jugoslawien, war es nicht Bulgarien? Auf jeden Fall ist es Monsieur Hercule Poirot gewesen.

Wahrscheinlich sorgen solche Schreibfehler und der zu lange Einleitungsteil über etwas, das mit dem Buch kaum zu tun hat, dafür, dass die an sich eigentlich gar nicht schlechte Buchbesprechung wohl eher etwas mau bewertet wurde.

Dass "Anke" Butter ist - und zwar DER Butter - weiß man immerhin sofort, wenn man in diesem Dialekt aufgewachsen ist. Wie alle Deutschschweizer. Und die Glauser-Bücher machen den Eindruck, als wären sie nur für dieses Land gedacht gewesen. Aber der Verweis auf Hitler deutet ja schon an, wieso das so war. Man kann deshalb dem potenziellen Leser ruhig sagen, dass er in den fünf Romanen ein paar Sätze schlicht nie verstehen wird, weil sie in einer ihm unbekannten Fremdsprache gehalten sind. Dieser Hinweis ist durchaus angebracht. Ein "Schübling" ist eine Bratwurst, eine vergleichsweise helle und dünne. Sie wird ebenso angekokelt verzehrt wie die vergleichsweiswe rote und dicke, welche Cervelat heißt. Vielleicht mit Zibele, Senf und Bürli dazu.

Ich habe in letzter Zeit zwei andere Studers gelesen (die ich vielleicht hier besprechen werde, wenn ich erst mal "etabliert" bin). Davon ausgehend würde ich auch für "Matto regiert" fragen - und vermisse eine Antwort in der Rezension -, ob die Plotverwicklungen und ihre Auflösung ebenso jeglicher Wahrscheinlichkeit spotten wie dort. Man müsste das vielleicht auch mal ganz deutlich aussprechen: Wer lebensechte Kriminalgeschichten sucht, ist bei Glauser sicher falsch. Wer eine Art ins Krimifach geschleuderten Literaten, Dichter, Romantiker kennen lernen will, ist richtig.




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