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--- Das Meer

MrsDalloway - 20.06.2008 um 21:41 Uhr

Das Meer

Der Wind streifte die Gesichter wie zarte Strömungen an Weisheiten, an Gedanken, die aufschienen, kurz aufbrausten und wieder verebbten, sanft in andere Gedanken fließend. Die Wolken hatten sich zusammengezogen, zu dicken, grauen Ballen, ein Erhaschen des Anblicks des blauen, reinen Himmels unmöglich machend. Eine junge Frau stieß an eine ältere. Sie taumelte. War das Leben vielleicht tatsächlich eine Reihe von Niederlagen? Doch – dort – der Spatz, der nach Krümeln pickt, unbeschwert, ohne Ahnung. Beiläufig, von weiter Ferne warf sie ihm mehr zu. Der Ozean auf einem Bild in einem Fenster. Wie gefährlich es war zu leben, nur diesen einen Moment zu überdauern, wie auf einem Steg zu balancieren, den Abgrund unter sich, immer die Gefahr zu stürzen, in ein Meer der Ungewissheit, einen Strudel, der hinabzerrte, zum Grund der Verzweiflung. Kein Halt war zu ertasten. Ein Turm gleich neben dem Ozean – welcher? War es möglich sich zu binden an das Leben, sich über die Verzweiflung dauerhaft erhebend, über den Kummer der ewigen Bedeutungslosigkeit? Sie stand und die Menschen streiften sie wie kraftvolle Wellen, ihr neue Augenblicke zutragend und wieder mit sich nehmend, scheinbar richtungslos, ohne Ziel, ohne Antworten, der Antrieb nicht offenbar – so nah und doch ohne erkennbare Verbindung, sterile Nähe herstellend. Sie eilten, den Himmel im Auge, nicht die anderen. War es nur das Grollen, das sie in die Flucht schlug? Oder floh man nicht ständig, andauernd, die Leere mit Vergänglichem füllend? Eine Fahrradklingel – sie schubste den Gedanken fort, mit ihm die Gefahr. Sie trat zu Seite.
Waren Gedanken zu Ende zu denken? Sie entronnen der Entscheidung und gingen ihrer eigenen Wege, mäanderten und kehrten manchmal zurück, manchmal nie wieder.
Ein Tropfen schlug auf ihre Stirn, ein zweiter, ein dritter. Die Straße wurde ertränkt, rasch und plötzlich. Die Sinne wurden geflutet mit tausenderlei frischen Reizen. War das die Realität, dieses Gefühl auf der Haut, dieses Rauschen, dieses Verschwimmen der Sicht, oder war das etwa nur ihre eigene Realität, in der nichts existierte außer ihren Eindrücken? Fühlten, hörten, sahen andere Menschen das gleiche? War es überhaupt möglich zu teilen, gleiches zu empfinden, wenn jeder andere Geist so fern und unbekannt bleiben musste? Kühle rann ihre Wangen hinab, Prasseln trommelte in ihrem Geist, doch nur beiläufig, im Hintergrund von Labyrinthen aus Grübeleien.
Ja, die Menschen? War das Leben Alleinsein, schließlich und endlich? Gesichter schwebten vorbei, verschwommen, in immer rascher werdenden Strömen, in ihr Bewusstsein und entschwanden diesem, bevor sie aus der Sicht glitten. Kapuzen wurden hinauf gezogen, Schirme geöffnet, die Sicht auf Köpfe versperrend, diese ersetzend durch große Kugeln jeglicher Farbe, tief gesenkte Gesichter abschirmend. Die Menschen, wie fern sie waren, wie unstetig, wie wenig gekannt, unmöglich Halt zu geben, diesen enttäuschend, sobald sich die Gelegenheit bot. Ein Fahrrad klapperte spritzend vorbei, ein Kind schrie. Wie gefährlich es war, mit anderen zu sein, sich zu binden und plötzlich abgerissen zu werden, gestoßen zu werden, ob beabsichtigt oder nicht. Der Donner einer Hupe brachte die Gefahr des Lebens zurück, der Geruch des frischen Regens versetzt mit dem Duft der Blumen vom Laden an der Ecke durch das strömende Nass die Schönheit der Welt. Wollte sie sterben? Nicht mehr leben? Die Erde war schön, voll Erheiterungen der Düfte, Klänge, Worte, Bilder, Bewegungen, Ströme. Die Wahrheit aber war nicht zu finden, nirgendwo in diesem verschwommenen Ozean, der niemals Beständigkeit bot, niemals Sicherheit. Er riss sie stetig mit sich, die Bedeutung, schwemmte sie in den Gully. Aber die Hoffnung? Und die Menschen? Wie wahr: Zu viele Fragen, die einfach stehen gelassen werden müssen. Der einzige Ausweg war, ohne Antworten zu leben, die Ungewissheit zu vergessen, doch Gedanken gingen ihrer eigenen Wege, ewig quälend.
Scheußlich kalt rann es im Nacken hinab.
Ohne sich umzublicken trat sie auf die Straße.




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