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--- Gedanken zu Kleists Michael Kohlhaas

ArnoAbendschoen - 06.05.2013 um 22:16 Uhr

Kleists berühmte Novelle hat nicht nur Zustimmung und Bewunderung hervorgerufen. Schon im 19. Jahrhundert gab es mancherlei Kritik. Fontane z. B. hat sich über das Werk recht abfällig geäußert. Kleists allzu freier Umgang mit der Geographie wurde bemängelt. Dabei sind die historischen Ungenauigkeiten bei weitem gravierender. Um nicht missverstanden zu werden: Selbstverständlich durfte der Autor aus dem historischen Cöllner Kaufmann Hans Kohlhase (hingerichtet 1540) einen havelländischen Pferdehändler Michael Kohlhaas machen. Befremdlich ist allerdings, wenn er sich auf Daten der allgemeinen Geschichte bezieht und diese dann in Widerspruch zu ihrem tatsächlichen Ablauf geraten. Kleists Kohlhaas hat so Kontakt zum Reformator Martin Luther, gestorben 1546, und er greift die Stadt Wittenberg an, äschert dort Häuser ein, woraufhin die Oberen sich hilfesuchend an den sächsischen Kurfürsten in Dresden wenden. Der kurfürstlich-sächsische Hof befand sich zu Luthers Lebzeiten jedoch keineswegs in Dresden. Kleist unterschlägt einfach die Teilung Sachsens seit 1485. Kurfürsten waren seitdem die Ernestiner, die teils in Wittenberg, teils in Torgau residierten. Erst nach der Schlacht von Mühlberg 1547 ging die Kurfürstenwürde mit dem Gebiet um Wittenberg an den bisherigen – albertinischen - Herzog von Sachsen über, wurde Dresden kurfürstliche Residenz.

Hat Kleist die Historie nur als oberflächliche Staffage benutzt? Obwohl Luther in seinem Text eine nicht unerhebliche Rolle spielt, kommen die Reformation selbst bis auf eine dürre Randnotiz und die konfessionellen Kämpfe im „Michael Kohlhaas“ nicht vor. Die bis heute vorherrschende Interpretation des Werks geht mehr oder weniger stillschweigend davon aus, Kleist habe sich bei der Niederschrift eben nicht für die historische Wahrheit interessiert, sondern einen allgemeinen rechtsphilosophischen Stoff gestalten wollen. Die Germanistik tendiert also dahin, sich auf ein etwaiges zeitloses Problem hinter dem Text zu konzentrieren. Aber wie zeitlos ist Kleists Kohlhaas wirklich? Er ist ein wohlhabender Bürger des 16. Jahrhunderts, der zu dem Mittel der Privatfehde greift, als er sein Recht bei der staatlichen Gewalt nicht findet. Damit ist Kohlhaas eine eminent historische, nämlich anachronistische Figur. Die Fehde galt im Mittelalter im Prinzip als legitimes Mittel und die Staatsgewalt versuchte jahrhundertelang, mit dem Ausrufen des Landfriedens die Auswüchse zu bekämpfen. Erst seit dem Ende des 15. Jahrhunderts gelang es weitgehend, das staatliche Gewaltmonopol auf Dauer durchzusetzen und die Fehde als Rechtsinstitut bedeutungslos werden zu lassen. Kohlhaas, der sich der alten Tradition dennoch bedient, ist also ein Zuspätgekommener und nicht etwa Partei in einem zeitlosen Interessenkonflikt. Zeitlos mag sein verletztes „Rechtsgefühl“ sein, die Art und Weise, ihm Geltung verschaffen zu wollen, ist es nicht. Und gerade der Psychologie des Helden gibt der Text insgesamt wenig Raum, umso breiter sind die vordergründige Handlung und die Ränke der Instanzen dargestellt.

Worin mag Kleists innere Motivation bei der Bearbeitung des Stoffes bestanden haben? Vielleicht gibt uns die Verteilung von Sympathien und Antipathien, bezogen auf die Kurfürstentümer Sachsen und Brandenburg, einen Fingerzeig. Alles, was im Text negativ ist – ob schwankend, unberechenbar, willkürlich, unaufrichtig oder betrügerisch -, es geht von Sachsen aus, spielt sich auf dessen Boden ab oder wirkt von dort ins brandenburgische Territorium hinein. Die korrupte sächsische Tronka-Sippe zieht nicht nur am Dresdner Hof die Fäden, ihr Vertreter in Berlin verhindert zunächst auch, dass sich in Brandenburg Gerechtigkeit durchsetzen kann. Mit Brandenburg und seinen Bewohnern verbinden sich dagegen im Übrigen nur Solidität, gute Nachbarschaft, weise Obrigkeit. Man muss diese Schwarz-Weiß-Malerei vor dem politischen Hintergrund gegen 1810 sehen. Preußen lag nach dem für ihn bis dahin unglücklichen Verlauf der Napoleonischen Kriege am Boden, Sachsen dagegen war innerhalb des Rheinbundes einer der wichtigsten Vasallen Bonapartes und profitierte bis zu einem gewissen Grad von der Kontinentalsperre. Der Preuße Kleist wünschte dringend einen Umsturz dieser Verhältnisse und schrieb nun einen Text, in dem der Untergang des wettinischen Reiches vorhergesagt wird. Die Weissagung der Zigeunerin in Jüterbog ist das zentrale Motiv im letzten Viertel der Novelle, auf sie hin ist die gesamte Novelle konstruiert. Indem Kohlhaas den Zettel mit den Daten des Untergangs verschluckt, geht der Kelch nicht am Haus Wettin vorüber – nur der Zeitpunkt seines dynastischen Endes bleibt offen. Ironischerweise hat der Erzähler Kleist posthum mit der Neuordnung Europas auf dem Wiener Kongress als Prophet Recht bekommen, Sachsen wurde amputiert und als Machtfaktor auf Dauer ausgeschaltet.

Die Bereitwilligkeit, mit der die herkömmliche Interpretation überwiegend vom historischen Hintergrund des Stoffes wie der Textentstehung absah und sich auf die Schiene eines zeitlosen Rechtsproblems setzen ließ, ist bezeichnend für die lange Zeit so unpolitische Tradition der Germanistik. Und zu bedauern sind die Generationen von Schülern, die das Weltfremde dieser Deutung und die verborgene Problematik des Textes wohl spürten, in der Regel aber noch zu wenig über die Hintergründe wussten, als dass sie Kritik hätten üben können. „Michael Kohlhaas“ hat vor allem mit der Zeit zu tun, in der die Novelle geschrieben wurde, und maskiert sich zur Tarnung mehr schlecht als recht als historischer Stoff aus einem früheren Jahrhundert.




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