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-- Literaturgeschichte & -theorie
--- Flauberts Briefe, kein Roman seines Lebens

ArnoAbendschoen - 13.11.2015 um 21:27 Uhr

Von Gustave Flaubert (1821 – 1880) sind einige Tausend Briefe erhalten und veröffentlicht. Der mir vorliegende Auswahlband (Diogenes-Taschenbuchausgabe von 1977) umfasst gut 700 Seiten Briefe. Der früheste darin datiert vom 31.12.1830, der letzte vom 3.5.1880, fünf Tage vor seinem Tod. In dieser Auswahl ist ab 1837 durchgehend jedes Kalenderjahr vertreten, zumeist mit zweistelliger Zahl an Episteln. Die Anzahl der Empfänger ist sehr groß, unter ihnen fast jeder von einiger Bedeutung, der Flauberts Lebensweg gekreuzt hat. Flaubert schrieb auch Briefe an viele literarische Größen seiner Zeit, darunter Baudelaire, die Goncourts, Sainte-Beuve, Taine, Turgenjew, Zola, Maupassant. Wir können nachvollziehen, wie sein Leben verlaufen ist, wo er sich wann aufgehalten und mit wem in Verbindung gestanden hat. Da stellt sich leicht die Phrase vom „Roman seines Lebens“ ein, den diese Korrespondenz darstellen könnte. Sie tut es indessen nicht. Flaubert verstand sich selbst nicht als Privatmensch mit Anspruch auf individuelle Selbstverwirklichung. Für ihn ging es fast ausschließlich um Kunst, der zu dienen, der sich aufzuopfern war. Die Vorstellung von Glück hielt er für illusionär, das Streben danach für schädlich.

Wohl gibt es eine Reihe von Freundesgestalten, die regelmäßig Briefe empfangen. Darin geht es jedoch vor allem um Flauberts eigene laufende Arbeit oder um Nachfrage nach den Projekten der anderen oder um Kritik an beendeten Werken. So bleiben die Briefe trotz oft großer Gefühlsbetontheit eigentümlich unpersönlich. Der Jugendfreund Ernest Chevalier ist als Bezugsperson wie Briefpartner abgetan, nachdem er als Beamter installiert ist. Im Verhältnis zu Maxime du Camp, Autor wie Flaubert, gibt es ein Auf und Ab, das zu verfolgen lohnend sein könnte, wenn nicht beide ihre Korrespondenz nach Absprache zum größten Teil vernichtet hätten. War dieser Inhalt zu persönlich? Die erhaltenen Briefe zwischen ihnen lassen große Differenzen nur bezüglich von Rolle und Ethos eines Schriftstellers erkennen. In den ausführlichen Briefen an seine langjährige Partnerin Louise Colet – der Höhepunkt der Auswahl schlechthin – geht es wiederum primär um Literatur. Außerdem zieht er immer wieder Grenzen, bezeichnet sich als unfähig für eine normale Liebesbeziehung, weist ihr in seinem Leben die zweite Geige nach der Literatur zu. Die Krisen zwischen ihnen finden ihren Ausdruck darin, dass er sie abwechselnd duzt und siezt. Bei den späteren Hauptbriefpartnern Ernest Feydeau, Louis Bouilhet und George Sand geht es dann fast nur noch ums Schreiben. Je mehr Erfolg er hat, umso flacher werden seine Briefe. Das Niveau derjenigen an Louise Colet wird nie mehr erreicht. Beteuerungen der höchsten Wertschätzung erscheinen nun nicht immer ganz aufrichtig – Flaubert äußert sich gelegentlich in Briefen an andere herablassend über die Wertgeschätzten. Er hat jetzt nur noch wenig Zeit und Energie übrig für diese Korrespondenz. Seine Arbeitstage, zwölf bis vierzehn Stunden lang, werden fast ganz von den eigenen großen Werken und der sie begleitenden Lektüre beansprucht.

Momente von außen treten dazwischen: der Tod so vieler Bezugspersonen, in seinem letzten Lebensabschnitt die gefährdete materielle Absicherung. Das erschüttert ihn und vor allem: Es macht ihn vorübergehend arbeits-, d.h. schreibunfähig. Mit den historischen Zeitumständen ist es ähnlich. Sie sind vor allem Störfaktoren. Flaubert hatte ihnen gegenüber Einstellungen, Urteile – politische Bindungen nicht. Er zog sich auf eine Art Mandarinismus zurück: Alles würde viel besser gehen, wenn nur die Besten die unverbesserliche Masse regierten und die Elite zu diesem Zweck gründlich genug erzogen würde. Flaubert durchlebte sechs Stadien der französischen Geschichte: die bourbonische Restauration, das bourgeoise Bürgerkönigtum, die Turbulenzen um das Jahr 1848, das autoritäre, dennoch nach der Volksmeinung schielende Regiment Napoleons III., den Krieg von 1870/71 mit der Pariser Kommune und die Dritte Republik – gemocht hat er keines der Systeme, keinen ihrer Repräsentanten.

Für Flaubert geriet zeitlebens fast alles zur Irritation, die persönlichen Beziehungen wie die Zeitgeschichte, die eigene Gesundheit wie die Aufnahme seiner Werke … Irritation war für ihn nicht nur unterbrechender Störfaktor, sondern ein konstitutiver Akt seines Schaffens. Oft genug drückt er in seinen Briefen diesen unermesslichen Hass auf die Mitwelt aus und kennzeichnet ihn als Hauptantrieb für seine Produktion. L’art pour l’art ist für ihn persönlich schicksalhafte Bestimmung, nicht Liebhaberei oder Spleen – es ist der notwendige Ausgleich für eine insgesamt verfehlte Schöpfung. Kunst ist die einzig mögliche Rettung. Wenn es um Kunst, um große Literatur geht, ist er der Zuwendung zu anderen in hohem Maß fähig. Er kritisiert nicht nur, er entwickelt auch Verständnis, unterstützt lebhaft, z.B. Zola und vor allem Maupassant, dessen Anfänge als Schriftsteller er noch miterlebt und nachhaltig fördert.

Flauberts Briefe sind in ihrer Gesamtheit kein Roman seines Lebens, eher ein Roman seiner Werke und zum kleineren Teil auch derjenigen anderer. Dem Literaturkenner mögen die Briefe kein grundsätzlich neues Flaubertbild verschaffen – doch ist das Panorama einer vom Kunstwillen derart beherrschten Biographie für ihren Leser gewiss ein eindrucksvolles Erlebnis.




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