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--- Deutschland – Traum und Fiktion

Kenon - 22.11.2021 um 21:37 Uhr

Ich habe Thilo Sarrazin nie anders als auszugsweise gelesen, mir aber doch den einen oder anderen Gedanken zu seiner Person und seinen Thesen gemacht. Den meisten ist er wohl noch bekannt durch seinen Kassenschlager “Deutschland schafft sich ab”, der im Jahr 2010 erschien. Schon der Titel hat mich damals nicht angesprochen: Deutschland schafft sich doch nicht ab, es hat sich längst abgeschafft, nämlich vor allem in den Jahren 1933 bis 1945, als es den industriellen Massenmord am Menschen perfektionierte, die Intelligenz zum Schweigen brachte, aus dem Land trieb oder physisch vernichtete, als es im Zweiten Weltkrieg nicht nur seine Würde und Ehre, sondern ebenfalls einen Großteil seiner historischen Bausubstanz und einen wesentlichen Teil seiner Ländereien verlor, damit auch viel von seiner Kultur – denken wir allein an die östlichen Lebensarten und Dialekte. Wer weiß denn noch, was für ein Deutsch die Danziger, Schlesier oder Ostpreußen geredet haben, wie ihre Küche aussah? Nach 1945 verblieb die heute als Ostdeutschland bekannte Mitte Deutschlands für Jahrzehnte in einem totalitären System, im Westen verdrängte man die Gräuel der vergangenen Jahre durch Arbeit und noch mehr Arbeit. Deutschland ist also im Zweiten Weltkrieg und den Jahren davor untergegangen. Was sich heute Deutschland nennt, ist nur noch Knochen ohne Fleisch – ein Gerippe. Von daher verstehe ich einen Grünen-Politiker wie Robert Habeck, der im Wahljahr 2021 sagte: “Ich wusste mit Deutschland noch nie etwas anzufangen und weiß es bis heute nicht”. Ich verstehe ihn und stimme ihm gewisserweise auch zu. Deutschland ist eine Fiktion, zu der man als positiver Mensch nur schwer einen positiven Bezug haben kann. Es gibt sicherlich einige, die bei der Deutschlandfahne an das Hambacher Fest, an “Einigkeit und Recht und Freiheit” denken – ich kann mich auch irgendwie dazu zwingen; aufgrund meiner persönlichen Erfahrungen im Ostdeutschland der frühen 1990er Jahre verbinde ich die Deutschlandfahne aber eher – und das sicher bis an mein Lebensende – mit marodierenden Nazi-Skinheads, die ein paar Jährchen zuvor noch brave Pioniere und FDJler waren und nun rechten Terror verbreiteten. Vom Kommunismus zum Faschismus brauchte es nur einen Trippelschritt in Springerstiefeln – so schnell kann man vom einen Ende zum anderen Ende des Hufeisens kommen; der Übergang von Faschismus zu Kommunismus vollzog sich nach 1945 ja auch schon recht geschmeidig …

An Deutschland liebe ich vielleicht neben seinen wenigen Naturschutzgebieten nur seine Kultur, die deutsche Sprache, welche bereits über seine Landesgrenzen hinausweist, die Werke, die in ihr verfasst worden sind. Ich denke an große Namen wie Friedrich Hölderlin und Nietzsche, Fichte, Herder und Hegel, Georg Trakl, Stefan George, Franz Kafka und Joseph Roth. Die möchte ich in meinem Leben nicht missen, ohne sie wäre es bis hierher ein wesentlich ärmeres gewesen. Aber das alles ist Vergangenheit. Nach Thomas Bernhard, der immerhin schon 1989 starb, hat mich kein Buch mehr berührt, das originär auf Deutsch verfasst worden ist. Die von Verlagen gedruckte deutschsprachige Literatur hat sich – zumindest in meinen Augen – also auch schon abgeschafft. Ohne es hier weiter auszuführen, hat die Entwicklung der Sprache, die einiges zu diesem Zustand beigetragen haben mag, natürlich sehr viel mit den neuen Medien, mit unserer ganzen digitalen Kommunikation zu tun. Man vergleiche nur eine Tageszeitung von heute mit einer von vor hundert Jahren … Verwahrlosung in der Bildung und schlecht integrierte Sprachneulinge wirken von unten auf die Sprache, Sprachmaoisten wirken auf sie von oben; viele Angehörige der gebildeteren Schichten, die in Lohn und Brot stehen, kommunizieren ohnehin den halben Tag nur auf Englisch. Abseits der Wirtschaft ist in diesem Land nicht viel los – in anderen Ländern mag es ähnlich sein, aber die sind nicht Thema dieses Textes. Ich bleibe also bei meiner Hyperbel: Deutschland hat sich längst abgeschafft, nur für ein paar Millionen Träumer steht Deutschland-Kaltland noch für den Traum vom besseren Leben – vielleicht, weil sie es lediglich aus ihren Träumen kennen?

Sarrazin habe ich vor einigen Jahren eines Sonntags beim Spazieren im Historischen Hafen von Berlin gesehen; er war offenbar in Begleitung seiner Familie oder enger gleichaltriger Freunde. Irgendwie habe ich ihn verachtet, als ich ihn erkannte: Ein Mensch, der soetwas geschrieben hat ... Das war natürlich dumm und unnötig. Für einen Politiker kann Thilo Sarrazin immerhin einigermaßen gut und außerordentlich erfolgreich schreiben – im Gegensatz zu anderen Politikern, die ihre Bücher gar nicht selber verfassen und am Ende vielleicht sogar vom Markt nehmen müssen, um weiteren Schaden von sich abzuwenden. Ob man ihm im einzelnen zustimmt oder nicht: Sarrazin ist jemand, der den Finger in real-existierende Wunden legt und Themen behandelt, die offenbar viele Menschen bewegen. Natürlich wäre ein Leben ganz ohne gesellschaftliche Probleme und Wünsche schöner, aber das wird es nie geben.

Sarrazin verfasste im Jahr 2014 mit “Der neue Tugendterror” ein Buch, in dem er seine Erfahrungen, die er im Anschluss an sein Deutschland-Buch machte, auswertet. Es ist in diesem Jahr (2021) mit einem frischen Vorwort neu aufgelegt worden und für mich das wesentlich interessantere, gerade weil die sogenannte Identitätspolitik, deren maßgebliches Mittel ja der Tugendterror ist, das Leben in diesem Land, nenne man es Deutschland oder wie auch immer, zunehmend zum weniger guten hin verändert. In der Einleitung von 2014 zitiert Sarrazin den Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen und bezieht dessen Worte auch auf das, was ihm selbst widerfahren ist:

Zitat:

Moralische Empörung suggeriert ein Ad-hoc-Verstehen, liefert die Möglichkeit, sich über den anderen zu erheben und im Moment der kollektiven Wut Gemeinschaft zu finden. Sie kommt dem allgemein menschlichen Bedürfnis nach Einfachheit, der Orientierung am Konkreten, Punktuellen und Personalisierbaren entgegen, bedient sich der Sehnsucht nach Eindeutigkeit, dem Sofort-Urteil und der Instant-Entlarvung.

Für dieses Zitat bin ich dem ehemaligen SPD-Mitglied auf jeden Fall dankbar.




ArnoAbendschoen - 23.11.2021 um 17:32 Uhr

In mir streiten jetzt zwei Impulse: zuzustimmen und zu widersprechen. Ja, die Substanz des Landes ist durch die Verwüstungen des 20. Jahrhunderts arg mitgenommen worden. Die Schäden sind zumeist irreparabel, ähnlich den Ewigkeitslasten im Steinkohlenbergbau. Aber es gibt das Land in der platten Realität noch immer, es wurstelt sich so eben durch. Wenn mir auch manche der ablaufenden Veränderungen missfallen, so werde ich mir doch nicht als Fluchtpunkt ein ideales, fast möchte ich sagen, metaphysisches Deutschland konstruieren.

Mit Verlaub, ich finde deinen Blick zurück und den historischen Vergleich ein wenig idealistisch. Wir sollten uns vor Augen halten, dass die Zeitgenossen der zwei Weltkriege, gerade auch Verantwortliche wie Mitläufer, Menschen waren, die überwiegend vor 1900 sozialisiert wurden. Die Barbarei des 20. Jahrhunderts war angelegt im Geist des vorangehenden. Wir sollten uns daher nicht aus Glanzpunkten der kulturellen Vergangenheit ein besseres Land vorspiegeln und es gegen das heutige, höchst mittelmäßige ausspielen.

Was du im Einzelnen anführst, überzeugt mich auch nicht immer. Da werden zum Teil Phänomene angeführt, die jedes andere entwickelte Land in ähnlicher Weise berühren und verändern (z.B. Mediennutzung, Tugendterror). Schafft die halbe Welt sich ab? Bei der deutschen Sprache speziell ist es nicht mein Eindruck, dass sie verfällt. Die Qualität veröffentlichter Texte scheint mir über Generationen hinweg nicht abgenommen zu haben. Man muss dazu Quellen heranziehen, die auf vergleichbarem Level angesiedelt sind oder waren. Dass sich die Bedingungen für Textproduktion und -verbreitung wie -rezeption massiv verändert haben, ist nicht auf die deutsche Sprache beschränkt. Fakt ist allerdings auch, dass ihre relative weltweite Bedeutung stark abgenommen hat und noch weiter abnimmt, allein schon da deutsche Muttersprachler einen gegenüber früher viel geringeren Teil der Weltbevölkerung ausmachen.

Fazit: Ich sehe nicht schwarz, nur vorwiegend grau, und zwar im Rundblick auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.




Kenon - 23.11.2021 um 18:55 Uhr

Ich weiß selber noch nicht recht, was ich von meinem Text halte – in einer Redaktion hätte sicherlich jemand vor der Veröffentlichung drübergeschaut und ein paar Hinweise gegeben, damit man dann punktuell nachschärfen und/oder abschwächen kann – dass er komplett missraten ist, glaube ich nicht, liegt aber im Bereich des Möglichen; Widerspruch ist für mich hier deswegen auf jeden Fall gewinnbringender als Zustimmung – durch bloße Zustimmung bewegt man sich in der Regel auch nicht weiter: weder als Leser noch als Autor. Ich bin mir jedenfalls bewusst, dass ich etliche Punkte exklusiv für mich haben werde, was für mich jedoch kein Problem darstellt; allerdings ging es mir gar nicht darum, zu sagen, dass vor den Nationalsozialisten alles besser gewesen wäre, auch nicht um einen Vergleich mit anderen Ländern, obwohl ich einige Länder sehe, deren aktuelle literarische Produktion mich tatsächlich noch bewegt. Das heutige Deutschland interessiert mich einfach nicht und Metaphysik lehne ich – sehr euphemistisch gesagt – nicht kategorisch ab, mache aber nicht den Fehler, sie für mehr zu halten als sie ist: Eine potentiell schöne Beschäftigung des Geistes. Aus Deutschlands kultureller Vergangenheit nehme ich mir einfach und sehr dankbar die Früchte, die mir am besten munden.



Kenon - 03.12.2021 um 23:39 Uhr

Zitat:

Er [d.i. Bakunin in den 1840er Jahren] kannte Goethe, Schiller, Fichte, Hegel, E. T. A. Hoffmann: Sie bedeuteten eine Welt von Schönheit und Freiheit für ihn, in die er sich aus der Welt der Alltäglichkeit und des Zwanges, die ihn umgab, gerettet hatte. Es schien ihm selbstverständlich, daß er den Gehalt dieser deutschen Dichtung im deutschen Leben finden würde; anstatt dessen sah er zahme, vorsichtige Menschen in sauber gepflegter, hübsch verzierter Umgebung, irgendwelchen vorgeschriebenen Beschäftigungen oder einem geordneten, unschädlichen Müßiggang ergeben; vor einer pedantischen, uniformierten, leicht gereizten und knurrenden Regierung sich duckend.

Ricarda Huch – Michael Bakunin und die Anarchie




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