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-- Rezensionen
--- Alfred Döblin - Berlin Alexanderplatz

Kenon - 11.01.2002 um 15:20 Uhr

Nach langer Zeit der Abstinenz habe ich die freien Tage zum Jahresende einigermaßen sinnvoll genutzt und ein Buch gelesen. Meine Wahl fiel auf "Berlin Alexanderplatz" von Alfred Döblin (1878-1957), der Begründer der wichtigen expressionistischen Zeitschrift "Der Sturm" war.

"Berlin Alexanderplatz" gilt als der erste deutsche Großstadtroman und steht in der Literaturgeschichte aus inhaltlicher Sicht neben James Joyces "Ulysses" und John Dos Passos´ "Manhattan Transfer".
Döblin erzählt die Geschichte des ehemaligen Transportarbeiters Franz Biberkopf, der 1928 aus dem Gefängnis entlassen wird, wo er eine Haftstrafe wegen eher versehentlichen Totschlags seiner früheren Lebensgefährtin verbüßte.

"Biberkopf hat geschworen, er will anständig sein, und ihr habt gesehen, wie er wochenlang anständig ist, aber das war gewissermaßen nur eine Gnadenfrist. Das Leben findet das auf die Dauer zu fein und stellt ihm hinterlistig ein Bein."

"Berlin Alexanderplatz" erscheint als ein beeindruckendes Abbild des Berlins der 20er Jahre. Durch den Einsatz der Berliner Mundart, die sich zuweilen sehr witzig liest, gewinnt dieses Epos an Authenzität. Auch in der sprachlichen und kompositorischen Gestaltung hat sich Alfred Döblin sehr kreativ gezeigt. Er arbeitet mit wiederkehrenden, leicht variierenden Motiven, benutzt zwischendurch die Reimform, wenn es ihm passend erscheint, verleiht seinem Werk Intensität durch schwere Metaphern, wie z.B. der Schilderung des Schlachthofgeschehens.

Die belehrenden Elemente in "Berlin Alexanderplatz" sind glücklicherweise sehr zurückhaltend gestreut, so dass sich der Leser ein überwiegend eigenes, unbelastetes Urteil über die Schilderungen in dem Roman bilden kann.

Besonders beeindruckend, das möchte ich abschliessend noch erwähnen, ist die zum Teil sehr nihilistische "irgendwie-ist-ja-doch-alles-egal"-Grundhaltung des Protagonisten, die sich eigentlich eher als fröhliche Gleichgültigkeit gegenüber dem eigenen Leben offenbart.

[ Dieser Beitrag wurde von admin am 11.01.2002 editiert. ]




Jasmin - 06.12.2004 um 21:34 Uhr

Ich habe das Buch noch nicht gelesen, wurde aber durch die "Sieben Wegbereiter" von MRR darauf aufmerksam, vor allem auf die Person Döblins. Mich hat besonders intrigiert, dass Döblin auf den Geschmack des Publikums keine Rücksicht genommen haben soll und dennoch zu Ruhm, Ehre und Anerkennung fand. MRR schreibt:

Alfred Döblin hat noch die geringste Rücksichtnahme verpönt. Stets glaubte er, seine Freunde brüskieren, seine Leser verärgern, seine Verleger schockieren und seine Kritiker verletzen zu müssen. Thomas Manns Urbanität war ihm so fremd wie Hofmannsthals Diplomatie oder Brechts List. Eigensinnig und selbstvergessen suchte er seinen Weg, ein wahrer Amokläufer unter den Schriftstellern unseres Jahrhunderts. Ob Döblin es wollte oder nicht, er musste sein ganzes Leben lang an dem Ast sägen, auf dem er saß. Konsequent landete er stets dort, wo es am unbequemsten war: Zwischen allen Stühlen.




Kenon - 06.12.2004 um 22:11 Uhr

So viel Eigensinn ist bewundernswert, wobei man sich bei dieser Bemerkung vielleicht fragen sollte, warum das Wort Eigensinn in unserem Sprachgebrauch eigentlich so eine negative Note hat.

Schade ist, dass Döblin auf seine alten Tage in den Schoß des Katholizismus zurückgestürzt ist, aus dessen modrigem Gefängnis er sich zuvor so konsequent befreit hatte.




Jasmin - 06.12.2004 um 22:31 Uhr

Zitat:

Schade ist, dass Döblin auf seine alten Tage in den Schoß des Katholizismus zurückgestürzt ist, aus dessen modrigem Gefängnis er sich zuvor so konsequent befreit hatte.

Befreit? Er war doch Jude und hat sich heimlich zum Katholizismus konvertieren lassen. Und dann ging es hin und her. Er lebte seine eigene Version der katholischen Lehre. Ich glaube, er ist kein Bilderbuchkatholik gewesen...Wer weiß, was für Dämonen ihn in die Arme des katholischen Glaubens getrieben haben...

Eigensinn ist wahrscheinlich negativ besetzt, weil es mit Sturheit und Dickköpfigkeit in Verbindung gebracht wird. Gerade fällt mir der Begriff Common Sense ein. Ob dieser das Gegenstück zum Eigensinn bildet?




LX.C - 21.10.2007 um 00:29 Uhr

[Quote]Der Koffer ist geöffnet, in dem Mieze lag. Sie war die Tochter eines Straßenbahnschaffners aus Bernau. Sie waren drei Kinder zu Hause, die Mutter ging dem Mann durch und ging aus dem Haus, warum, weiß man nicht. Mieze saß da allein und hatte alles zu tun. Abends fuhr sie manchmal nach Berlin und ging in Tanzlokale, zu Lestmann und gegenüber, und paarmal nahm sie einer mit ins Hotel, dann war es zu spät, dann traute sie sich nicht nach Haus, dann blieb sie in Berlin, und dann traf sie Evan und es ging weiter. Sie waren auf dem Revier an der Stettiner Bahn. Ein freundliches Leben fing für Mieze an, die sich erst Sonja nannte, sie hatte viele Bekannte und manchen Freund, aber nachher blieb sie immer mit einem vereint, das war ein einarmiger starker Mann, den Mieze auf einen Blicke lieb gewann und ist ihm gut geblieben bis an ihr Ende. Ein schlimmes Ende, ein trauriges Ende, das Mieze am Ende traf. Warum, warum, was hat sie verbrochen, sie kam aus Bernau in den Strudel von Berlin[/Quote]

Quelle: Döblin, Alfred: Berlin Alexanderplatz, Artemis & Winkler, Düsseldorf und Zürich 2003, S. 416-417.

Immer tragischer wird’s, wie eine Leiter, die man erklimmt. Man muss sich eine ganze Weile einlesen in das Buch, aber dann lässt es einen nicht mehr los. Vor Monaten noch abgetan, revidiere ich nun ein Mal mehr mein Urteil. Große Literatur! Vom Stil her vermutlich sogar einzigartig.

Und der Spruch, lesen bildet, ist auch noch zutreffend :-)

[Quote]Wie schützt sich die Pflanze gegen Kälte? Viele Gewächse können selbst einem leichten Frost keinen Widerstand entgegensetzen. Andere sind imstande, in ihren Zellen Schutzmittel gegen Kälte zu bilden, die chemischer Natur sind. Der wichtigste Schutz ist Umwandlung der in den Zellen enthaltenen Stärke in Zucken. Die Verwendbarkeit mancher Nutzpflanzen wird allerdings durch diese Zuckerbildung nicht sehr erhöht, wofür sie durch Erfrieren süß werdenden Kartoffeln den besten Beweis liefern. Es gibt aber auch Fälle, wo der durch die Frostwirkung hervorgerufene Zuckergehalt einer Pflanze oder Frucht diese erst verwendungsfähig macht, wie zum Beispiel die Wildfrüchte. Läßt man diese Früchte solange am Strauch, bis leichte Fröste eintreten, so bilden sie alsbald so viel Zucker, daß ihr Geschmack verändert und wesentlich verbessert wird. Dasselbe gilt für die Hagebutte.[/Quote]

Quelle: Döblin, Alfred: Berlin Alexanderplatz, Artemis & Winkler, Düsseldorf und Zürich 2003, S. 398.

Kann diese Ausgabe übrigens nur empfehlen. Die Schrift ist nicht so furchtbar klein wie bei anderen Ausgaben dieses Romans, sondern in einer leserfreundlichen Größe. Und es schließen sich zudem viele interessante Nachbetrachtungen, Anmerkungen und eine Zeittafel an (ca. 80 Seiten).




LX.C - 21.10.2007 um 00:33 Uhr

Warum ich Werbung mache? Weil ich ewig nach einer Ausgabe mit angemessener Schriftgröße gesucht habe. Vielleicht geht es anderen ja ähnlich.



Hermes - 21.10.2007 um 01:45 Uhr

Dieses Buch steht bei mir schon seit so langer Zeit auf dem Programm. Warum nur habe ich es bisher nicht angefangen?



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