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Im Führerhaus
Autor: zellhaufen · Rubrik:
Kurzgeschichten

Der Qualm im Führerhaus wurde immer dichter, dabei war der Tank schon seit fast fünfzig Kilometern völlig leer. Die Nadel der Tankanzeige hatte sich schon vor Stunden niedergelegt und war auch nicht mehr aufgestanden. Es war unbegreiflich, dass dieses Stück deutscher Ingenieurskunst immer noch wie an einer Schnur gezogen über die Straße raste. Eine kilometerlange Rauchfahne durch die Einöde hinter sich ziehend. Wie ein fliehendes, brennendes Schwein. Es hatte vor ein paar Minuten sogar zu quieken begonnen. Ein bis ins Mark gehendes Quietschen, das das Trommelfell zerkratzte. Vermutlich war es das Getriebe oder eines der anderen mechanischen Organe, von denen Adam keine Ahnung hatte. In ihm keimte die Gewissheit, dass der Wagen selbst, und keines seiner einzelnen Teile, diesen Ton produzierte. Genauso, wie etwas anderes das Benzin als Antriebsmittel abgelöst hatte. Adam ahnte, dass es die Todesangst sein könnte, die auch ihn als einziges noch am Leben hielt.
Als er durch die Windschutzscheibe kaum noch etwas erkennen konnte, schaltete er in seiner Aufregung die Scheibenwischer ein und kam erst dann, als er verwundert die Nutzlosigkeit registrierte, auf die Idee, das Fenster runter zu kurbeln. Ein Großteil des Rauches zog nach draußen ab und sorgte dafür, dass die Fahne hinter dem alten Camper noch dicker wurde. Adam atmete erleichtert auf, steckte sich aber umgehend eine Zigarette zwischen die Lippen. Er drückte auf den Zigarettenanzünder, doch der Knopf sprang sofort, ohne heiß zu werden, wieder heraus. Adam versuchte es nochmal. Und nochmal. Sein Kopf wurde hochrot, wie immer wenn er wütend wurde. Er riss den Anzünder raus und hielt ihn sich an die Zigarette. Er zog und zog, obwohl er wusste, dass der Anzünder kein bisschen heiß sein konnte. Ebenso hätte er es mit seiner eigenen Hand versuchen können. Durch das offene Fenster schleuderte er das nutzlose Ding auf die Straße, behielt die Kippe aber verkrampft zwischen den Lippen. Kurz darauf machte ihn sein Gehirn glauben, die Zigarette würde brennen, schließlich qualmte es ja. Er zog und inhalierte den imaginären Rauch einer realen Zigarette. Sein Gehirn produzierte die richtigen Hormone, Abgasgifte strömten in seine Lungen. Er bemerkte erst, dass sie überhaupt nicht gebrannt hatte, als er sie - im Glauben sie sei bereits bis zum Filter abgebrannt - aus dem Fenster werfen wollte.
Ein Blick in den Rückspiegel. Was immer ihm und seinem Wagen folgte, war direkt hinter dem Horizont. Er konnte förmlich einen heißen, fauligen Atem spüren, der die Haare in seinem Nacken zum Kräuseln brachte.
Bis auf die längliche Abgaswolke hinter ihm, sah es vorne wie hinten identisch aus. Vorne wie hinten ging die Straße auf der er fuhr, nur in eine Richtung. Geradeaus. Der Rest war eine flache, nichtssagende Landschaft ohne Fixpunkte. Von weit entfernten Bergketten auf beiden Seiten einmal abgesehen. Adam wurde den Gedanken nicht los, dass er, sobald er den entferntesten Punkt am Horizont vor sich erreichen würde, wieder am entferntesten Punkt hinter sich auftauchen würde. Und es würde wieder von vorne losgehen. Wie lange würde dieses mechanische Pferd, in dessen Eingeweiden er saß und sich zunehmend gefangen vorkam, noch galoppieren? Er traute sich nicht einmal eine Antwort zu denken, denn schon vor Stunden wäre seine Antwort auf die Frage „höchstens noch fünf Minuten“ gewesen. So lange sah er sich selbst schon mitsamt dem Camper in Flammen aufgehen, wie die Supernova eines sterbenden Sterns. Jeden Moment rechnete er mit einem letzten, lauten Knall.
Anhalten kam nicht in Frage. In der Bewegungslosigkeit lauert der Tod. Adam wusste es sicher: Kommt der Wagen zum Stehen, ist alles aus. Der Horizont war weit entfernt und was ihm folgte war schnell. Schneller als sein Herzschlag.

Die Luft im Führerhaus war noch schlechter geworden und die Welt außerhalb der Seitenscheiben schien den Rauch lieber innerhalb des Wagens haben zu wollen, als in sich selbst. Adam hustete und begann zu schwitzen. Er kurbelte auch das andere Seitenfenster runter und kam dabei fast von der Straße ab. Als überschlagender Feuerball im Graben zu landen, erschien ihm gar keine so üble Idee mehr. Alles schien ihm besser zu sein als zu ersticken, oder von dem, was sich hinter ihm die Erdkrümmung entlang schlängelte und in seinen Horizont zu kriechen drohte, eingeholt zu werden. Er trat das Gas zum ersten Mal seit der Camper zu qualmen begonnen hatte, voll durch. Das dröhnende Quietschen wurde lauter und ertönte in einem schnelleren Rhythmus. Die Landschaft zur Linken und zur Rechten schien Mühe zu haben, mit dem Wagen mitzuhalten. Vor seinem inneren Auge erschien eine Maschine, die er vor Jahren einmal gesehen hatte. Eine Art Kunstobjekt. Es war ein kleiner, grauer Kasten mit einem An/Aus-Hebel an der Seite. Wenn man ihn auf An stellte, kam oben eine mechanische Hand heraus, griff nach dem Hebel und stellte ihn wieder auf Aus. Das war der einzige Sinn der Maschine. Mit Blick auf die endlos wirkende Straße vor sich, kam Adam selbst sich nun vor wie die biologische Version dieses Gerätes. Nur hatte diese Version vergessen, wo der Schalter zu finden war und fuchtelte ziellos mit der einen Hand in der Luft herum, ohne auch nur in seine Nähe zu kommen.
Ein Scheppern riss ihn aus den Gedanken, in denen er schon seine eigene Hand aus der grauen Maschine kommen sah, wie sie verzweifelt versuchte, den Ausschalter gepackt zu bekommen, ihn aber jedes Mal knapp verfehlte, weil der Arm einfach zu kurz war. Er sah durch die Seitenspiegel nach hinten, überzeugt sein Verfolger hätte aufgeholt. Aber er sah nur Staub und Qualm und etwas Metallisches, das auf der Straße glänzte. Es war schon fast im Rauch untergegangen. Adam mutmaßte, dass es die Stoßstange oder sogar der Auspuff des Campers sei. Trotzdem fuhr der Wagen weiter. Schreiend und den Flammen nahe, aber ohne zu bocken oder ins Schlingern zu geraten. Er schaute auf das Tacho, um sich zu vergewissern, dass er tatsächlich so schnell fuhr, wie es sich anfühlte. Doch die Tachonadel war tot, ebenso wie die der Tankanzeige. Sämtliche Blinklichter, die vorhin noch das nahende Ende der Verfolgungsjagd angemahnt hatten, waren erloschen oder hatten ihre Arbeit einfach eingestellt, als ihnen die Zwecklosigkeit ihres Tuns bewusst geworden war. Sogar sie können es, dachte Adam. Sogar sie können das kleine bisschen Leben, dass die Menschen ihnen eingehaucht haben, einfach auspusten wenn sie es möchten. Alles schien diese Wahl zu haben, selbst leblose Gegenstände, nur er selbst war gezwungen immer weiter zu fahren. Von Horizont zu Horizont. Weil ihm der Stillstand unvorstellbar schien, seine Vorstellung aber ausreichte, sich vorzustellen, was ihn verfolgte.
Noch etwas krachte hinter ihm. Ein weiteres Teil hatte sich gelöst und Adam machte sich nicht einmal die Mühe zu schauen, welches es gewesen sein könnte. Es machte keinen Unterschied mehr. Dieser letzte Horizont vor ihm - redete er sich ein - würde der letzte sein. Würde er ihn erreichen, wäre es endlich geschafft. Dann wäre er in Sicherheit. Er betete, dass das Auto ihn noch so lange tragen würde und griff mit der rechten Hand nach der kleinen Christopherus-Figur, die über dem Radio hing. Adam hatte sich oft gefragt, wohin sein Glauben verschwunden war, nun wusste er es. Er hatte sich beleidigt in die Todesangst zurückgezogen und dort auf ihn gewartet. Nun war er wieder da. Zwar nur als verdrehte, egoistische Mutation des Glaubens, den er als kleiner Junge besessen hatte, aber beruhigender als nichts. Er umklammerte die Holzfigur so fest, dass seine Handfläche aufplatzte. Mit lauter Stimme betete er nun zu einem Gott, der in seiner Vorstellung immer noch der Gott war, den er sich als Kind vorgestellt hatte. Ein väterlicher Wunschbrunnen, ein Kindergott. Er bat, er bettelte, er verhandelte mit ihm. Er versprach dem Kindergott alles, was ihm in diesem Moment einfiel, möge er nur dafür sorgen, dass der Wagen noch ein paar Kilometer weiterlief.
Kaum waren all die Versprechungen ausgesprochen, wurde der Qualm im Führerhaus noch ein bisschen dunkler und der Wagen stieß neue, unheilvolle Töne aus, die sich nahtlos in den Chor seines Todesgesangs einreihten. Adam nahm den Fuß leicht vom Gas und schaltete einen Gang runter, um zu sehen ob sich der Wagen dann besser anhören würde, da hatte er plötzlich und ohne Vorahnung den ganzen Schaltknüppel in der Hand. Er stöhnte und warf ihn durch das Fenster nach draußen. Dann trat er das Gas wieder voll durch. Nach einem kurzen Zögern warf er nun auch die kleine Heiligenfigur aus dem Wagen. Dieses Kapitel war nun endgültig abgeschlossen. So wie es aussah, würde er ohnehin bald erfahren, welche seiner beiden Versionen Recht gehabt hatte. Das optimistisch gläubige Kind, das er einmal gewesen war, oder der zynische Pessimist, der diesem Kind schließlich entwuchs.

Adam versuchte gleichzeitig nach vorne und in die Rückspiegel zu schauen, während der schrottreife Camper sich weiter über die Straße schleppte, wie ein schwer verwundetes Warzenschwein, rasend vor Schmerzen und Angst. Durch den Rauch konnte er nicht mehr viel sehen, seine Augen fühlten sich an, als hätte man die Tränenflüssigkeit durch hochprozentigen Stroh-Rum ersetzt. Doch trotzdem war er sich nach ein paar Minuten sicher: Weder die Berge vor ihm, noch die Berge hinter ihm entfernten sich. Als würde er nicht mit geschätzten hundert Sachen über die Straße rasen. Seine Hoffnung jemals irgendwo anzukommen schwand. Er würde auf diesem Highway zur Hölle gefangen bleiben, bis sein Verfolger zu ihm aufschließen würde, um alles zu beenden. Das Metall, das ihn umgab, würde sein Sarg werden.

Er kniff die Augen zusammen, umklammerte das Lenkrad mit beiden Händen und trat noch fester auf das Gas. So fest, dass sein Fußgelenk hörbar knackte. Aussichtslosigkeit ist manchmal, wie ein Luftbild, nur aus einer erhöhten Position heraus sichtbar. Adam erahnte sie zwar, konnte und wollte sie aber nicht sehen.

Dann, plötzlich, als Adams Hirn schon abgeschaltet hatte und nur noch auf Sparflamme köchelte, verschwanden die dicken Abgaswolken um ihn herum. Die Luft wurde kühler und klarer. Adam öffnete die Augen (er war minutenlang völlig blind gefahren) und war erschrocken über so viel ungeahnte Klarheit. Er hielt das Steuer noch immer krampfhaft mit den Händen umklammert. Doch das Führerhaus, und alles was um ihn herum gewesen war, war fort und brannte bereits einige hundert Meter hinter ihm auf der Straße. Adam hatte endlich geschafft loszulassen. Wie ein zerknülltes und verbranntes Taschentuch lag der Camper hinter ihm. Mit dem Lenkrad, das er als einziges nicht loslassen konnte, flog er über die Straße, sein Hintern nur einen knappen halben Meter vom Asphalt entfernt. Dem Horizont entgegen, der sich nun endlich näherte und bereit war, ihn in sich aufzunehmen. Und in seinen letzten Gedanken sah er seine eigene Hand aus einer grauen Maschine kommen und den Ausschalter drücken.


Einstell-Datum: 2010-12-13

Hinweis: Dieser Artikel spiegelt die Meinung seines Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung der Betreiber von versalia.de übereinstimmen.

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