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Mein erster Tag als Berlinizer
Autor: Karsten Rube · Rubrik:
Humor & Satire

Im heißen Sommer 2006 hieß es im Fußballwunderland Deutschland: "Liebe Gäste. Her mit der Welt". Deshalb startete die Stadt Berlin eine neue Kampagne, die die Welt einlud, den Berliner als das zu sehen, was er ist: freundlich, weltoffen, zugänglich und kompetent. Zugegeben, nicht jeder kann das so zeigen und eigentlich ist das auch nicht der Ruf, den der Berliner im Rest der Republik oder den Reiseführern der Welt besitzt. Vielleicht war deshalb diese Kampagne nötig, die eigentlich nichts anderes sagen will, als: "Ick werd dich nich anquatschen, Alta, aber wenn de wat wissen willst, frach mich doch mal." Wer so denkt, darf Berlinizer werden.

Bisher hatte ich eine Berlinizer-Plakette nicht nötig. Ich war schon immer einer, denn egal wo, wenn ein Tourist oder ein anderer Weltenwanderer in meiner Nähe nicht Bescheid wusste, dann kam er zu mir. Das liegt sicher auch daran, dass ich als Einheimischer gut zu erkennen bin, weil ich meist mit dem Rad fahre. In Berlin überlebt man auf dem Rad nur, wenn man sich im zähen Kampf über Jahre hinweg kontinuierlich durchsetzt, Verkehrsregeln gelegentlich genauso außer Kraft setzt, wie physikalische Gesetzmäßigkeiten, sich einen Schädelknochen wachsen lässt, der Helme überflüssig macht und ein Selbstbewusstsein entwickelt, welches den übelsten Schmähungen sich behindert fühlender Autofahrer trotzt. Daran erkennt man den Einheimischen. Er fährt Rad und er lebt trotzdem noch. Also, frag einen Radfahrer, das ist sicher ein Berlinizer.

Wer ein offizieller Berlinizer sein will, muss vier Fragen richtig beantworten können, die mit Berlin zu tun haben. Dann kann er sich ein gelbes Plakettchen abholen und darf offiziell angequatscht werden. Doch reicht es nicht zu wissen, das Berlin an der Spree liegt. Die Realität ist, dass fremde Menschen nicht wissen, wo sie hin wollen und fragen, warum bestimmte Dinge in Berlin so aussehen, wie sie aussehen.

Angequatscht zu werden, das geschieht mir regelmäßig. Halte ich am Brandenburger Tor, um Fußgänger passieren zu lassen, fragt man mich ganz selbstverständlich auf Englisch, wo den hier die Mauer lang ging. Letztens hielt ich kurz vor dem Potsdamer Platz auf dem Gehweg, weil mein Schuh offen war. Ich wollte mich gerade bücken, da kam auch schon die erste Frage, wie denn das große rote Gebäude hieße und wo den hier der Abflugplatz für den Heißluftballon sei. Nach der Erklärung bückte ich mich erneut und jemand wollte wissen, ob die U2 nach Ruhleben fahren würde. Als ich erneut begann, den offenen Schuh zu verarzten, hielt mir eine junge Frau mir einen Zettel unter die Nase. Darauf war die Frage formuliert, wo es zum Checkpoint Charly ginge. Sie unterstrich dass mit einer Geste, dass sie nicht reden konnte. Ich malte ihr den Weg auf und wies ihr den richtigen Weg. Dann endlich durfte ich mich wieder dem Schuh widmen. Vielleicht war das der Grund, warum Trinity im dritten Matrix-Film den zitatschweren Satz aufsagte: "Ich habe zehn Minuten gebraucht, um mir die Schuhe zuzubinden". Die wurde ständig nach dem richtigen Weg gefragt.

Ich bin ein frisch ernannter Berlinizer. Die Pakette liegt noch im Kampagnenbüro. Ich mache mich auf den Weg, sie zu holen, verbinde das aber mit einem kleinen Spaziergang, durchs Nikolaiviertel, wo mich sofort die harte Realität erwischt, der sich der Berlinizer tagtäglich aussetzt.
Ich stehe auf der Mühlendammbrücke. Ich weiß, dass hier einst eine schmale Furt war, durch die man die Spree bequem durchwaten konnte. Das war vor ca. 800 Jahren. Damals bauten ein paar Kaufleute eine Handelsstation an dieser Stelle. Auch eine Kirche musste her, denn der siedelnde Mensch benötigte göttlichen Beistand. So wurde ein Gotteshaus gebaut, deren Fundamente heute noch im Bereich der Nikolaikirche zu bewundern sind. Hier steht die Wiege Berlins. Dieses Wissen im Gepäck laufe ich durchs Viertel. Vor dem kleinen Laden mit den iberischen Spezialitäten bleibe ich ein bisschen sitzen, kaufe mir ein kaltes portugiesisches Bier und betrachte das gemütliche, schlendernde Treiben der Touristen, denen ich bald den richtigen Weg weisen darf. Hier laufen einige der Menschen durch, die vom roten Rathaus kommend auf die Türme der Nikolaikirche zusteuern. Eiskleckernde Amerikaner, elegant betuchte Württemberger, Japaner, die die Welt durch ihr Display betrachten, sportliche Spanier mit Kinderwagen und WM-Ball und weltreisende Senioren, die, woher sie auch kommen, immer gleich entspannt aussehen. Ich folge ihnen zur Kirche.
Vor der Nikolaikirche begrabbeln ein paar Amerikaner einen fast lebensgroßen Braunbären der Marke Steiff, den der Laden, der sich selbst "Teddys" nennt auf der Straße ausgestellt hat. Er ist umgeben, von zwei Puppenwagen, auf die er aufpassen soll, sieht bereits etwas ausgeblichen und zerzaust aus. Einer der Besucher blättert in seinem Reiseführer und versucht den anderen zu erklären, was das mit dem Bären auf sich hat, kommt aber zu keinem Ergebnis. Er schaut von seiner Lektüre auf, sieht mich und fragt.

Ich bin gern bereit eine plausible Erklärung zu geben, auch wenn gerade ein professioneller Nikolaiviertelführer samt Reisegruppe um die Ecke biegt. Etwas misslaunig bemerkt er, wie sich seine Gruppe der meinen hinzugesellt und lauscht.

"Zur Zeit der Besiedlung vor knapp tausend Jahren, befand sich hier sehr viel Wald und in diesem Wald tollten auch etliche Bären herum. Als dann der Ort hier gegründet wurde, und man so ordentlich am Wälder roden war, wussten die Bären nicht wohin. Aber eine Siedlung beinhaltete ja viel leckeres. Die Siedler versuchten die Bären zu verjagen und zu töten. Es wurde schwer. Die Bären waren mächtig und es wurde sogar erwogen die Siedlung wieder aufzugeben. Doch schließlich gelang es die meisten Bären davon zu überzeugen, dass mit den Menschen nicht gut Kirschen essen sei. Sie verschwanden oder wurden erlegt. Nur einer der Bären begriff das nicht und entzog sich regelmäßig dem Zugriff der Jäger. Immer wieder schlich er sich in die Vorratskammern, klaute Obst und Gemüse oder auch mal eine Ziege und stellte gelegentlich auch kleinen Mädchen nach. Der Bär wurde zu einem echten Problem. Erst ein eingewanderter bayrischer Jäger namens Edmund der Barbarische konnte das Tier zur Strecke bringen. Seit dieser Zeit nannte man den Ort Bärlin und trägt das Tier im Wappen. Zur Erinnerung daran, dass die Siedlung nur deshalb entstanden und geblieben ist, weil es gelang die Bären zu verjagen."
"And what was the name of that bear" fragt einer der Anwesenden.
"That Bear called Bruno" sage ich und freue mich über den aufbrausenden Applaus der Zuhörer. Nur der offizielle Reiseleiter guckt finster.

Jetzt habe ich mir ein gutes deftiges berlinizer Essen verdient, denke ich und nehme im nächsten Biergarten Platz.
Die Gaststätte zum Nussbaum liegt im Schatten der Kirche und die Tische im Hof im Schatten eines noch nicht sehr alten Nussbaumes. Der wurde gepflanzt, als man das ganze Viertel in den Achtziger Jahren renovierte, umgestaltete und zum kulturhistorischen Flecken erklärte. Die Gaststätte selbst gilt als eine der ältesten in Berlin, doch da wo sie steht, stand sie nicht immer. Sie ist nachgebaut und sie stellt die Idee des historischen Nussbaums dar, ohne es zu sein. Die Bedienung scheint jedoch recht original zu sein, zumindest ist sie authentisch.
"Wat soll´s denn sein, junger Mann." Wenn ich mit vierzig von einer an vielen Stellen nachgebesserten Wirtshausmatrone als junger Mann bezeichnet werde, frage ich mich unwillkürlich, wie alt diese ist. Das ist nicht ganz unwichtig, denn wenn ich schlecht behandelt werde, verlange ich gern das Gästebuch, um bei der zu beanstanden Person in der Beschreibung der selben noch zehn Jahre draufzuschlagen. Als Pendant zum Trinkgeld. Man will ja schließlich auch seinen Spaß haben.
"N Bier. Jroß und dunkel. Und dann...nen Strammem Max."
"Jet klaa Meester." Sie zischt ab.

Ein Strammer Max ist ein recht simples Gericht aus Brot, Schinken und Spiegelei. Das Brot wird mit Butter bestrichen oder in Butter angeröstet. Darauf kommt Schinkenspeck und ein Spiegelei. Fertig. Der Berliner mag seinen Schinken gern angebraten und das ausgelassene Fett sollte für die Spiegeleier verwendet werden. Es ist kein original Berliner Gericht, denn auch in Sachsen findet man diese einfache Kost. Dort kommt übrigens auch der Name her, denn man war der Meinung, dass dieses Gericht eine besonders kräftigende Wirkung auf den "Strammen Maxen" hätte, mit dem der Pabba der Muddi ne Freude macht.
Der Stramme Max, den mir die Matrone vor die Brust setzt, besitzt die Eigenschaften nicht. Das Brot ist trocken, der Schinkenspeck kalt und das Spiegelei labbrig. Es ist eine deftige Enttäuschung. Das Spiegelei verzehre ich unwillig, der Schinkenspeck darunter ist maschinell vorgewürfelt und kommt direkt aus der Verpackung, wie ich sie noch am Vormittag bei Plus im Regal gesehen habe. Folie auf und rauf aus Brot. Ich schiebe den Teller angewidert weg.

Am Zaun vor dem Restaurant diskutieren zwei Fremdenführer den Tag durch und landen empört bei meiner Performance. Ich sitze geschützt hinter dem Nussbaum und höre sie lamentieren.
"Wahrscheinlich so ein Berlinizer. Selbsternannter Stadtauskenner ohne IHK-Zertifikat."
"Der trug aber keine Plakette."
"Egal, die Eingeboren denken doch alle, die wüssten was über die Stadtgeschichte. Die halten sich doch jetzt alle für Berlinizer. Und dafür habe ich nun Kunstgeschichte studiert."
"Trotzdem, der hatte keine Plakette."
"Da hat uns der Wowereit ja wieder was Tolles eingebrockt."
Was hat denn unser Wowibärchen damit zu tun, frage ich mich. Der hat doch diese Kampagne gar nicht ausgeheckt sondern Beschirmherrt sie doch nur. Und überhaupt,warum muss ich eine Plakette tragen, um Auskunft geben zu dürfen. Naja. Typisch. Da will man mal nett sein und seinen Gästen was Gutes tun und schon fühlen sich die Berufsauskenner auf den Schlips getreten.
"Hat jeschmeckt" fragt die Kellnerin und greift sich meinen verabscheuten Teller.
"Na Weltmeister werden se damit nich," antworte ich.
"Wieso denn. Iss doch allet wie et sein soll. Brot vom Bäcker, Schinken frisch aufjemacht. Und det Ei ist och noch nich soo alt."
"Ich hab schon Strammen Max jejessen. Der hier war allet andere als stramm."
"Se komm wohl nich von hier, wa. Det ist Berliner Küche."
"Det is weder Berlin, noch Küche. Det is nur eklichst zusammen jeschludert."
"Sie wolln zahl´n, nich wa?"
"Muss ick wohl, auch wenn ick nich weiß warum."
Ich schiebe ihr die exakte Summe rüber, fliehe aus diesem Etablissement und begebe mich auf den Weg, meine Berlinizer-Plakette zu holen. Dann sehe ich etwas offizieller aus und werde auch an den wichtigen Stellen als Einheimischer erkannt.


Einstell-Datum: 2006-08-25

Hinweis: Dieser Artikel spiegelt die Meinung seines Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung der Betreiber von versalia.de übereinstimmen.

Bewertung: 333 (1 Stimme)

 

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