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Literaturforum: irgendwie feige


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 Thema: irgendwie feige
Matze
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40. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 14.06.2008 um 17:56 Uhr

Zitat:

Dabei gilt meine Bewunderung auch Matzes langen und nie langweiligen kenntnisreichen Abhandlungen über die Literaturkritik an sich sowie seine Kritik an der Kritik.l

Das ist wirklich nicht alles. Es kann natürlich sein, daß man im Literaturbetrieb besonders eifrig das macht, was Autoren gern machen: einen Berg von Sprachgeröll und Handlungswust vor sich aufzubauen, nur damit sie ihn dann mühsam wieder abtragen können. Literatur als Baggerarbeit. Für die Poesie hat man dann natürlich keine Kraft mehr. Die Krise der Intelligenz ist auch eine Krise des Buches, und es stelle sich die Frage, ob das Buch seinen alten Platz als Träger der Erkenntnis behaupten wird. Auch jene, deren Publikation unbehindert geblieben ist, erreichen nur einen kleinen Teil der Leser, für die sie bestimmt und die ihnen bestimmt sind.

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1943Karl
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41. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 15.06.2008 um 19:05 Uhr

Lieber Matze,
die ursprüngliche Funktion des Buches als Erkenntnistträger wird auch nach meiner Wahrnehmung heute nur noch selten von Autor/inn/en genutzt. Ja, ich habe sogar den Eindruck, dass manche für sich einen Kunstbegriff entwickelten, der Erkenntnis als verpönt betrachet.
Allerdings gibt es und gab auch immer Bücher, deren Erkenntniswert sich nicht umgehend erschließt. Manche Bücher brauchen Jahrzehnte und länger ...
Und Poesie finde ich auch immer seltener...
Obwohl ich meine, dass wir als Ausgleich zu unserem von naturwissenschaftlichen und betriebswirtschaftlichen Erkenntnissen überfrachteten Wissen kaum etwas dringender benötigen als Poesie.
Herzliche Grüße
Karl


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Matze
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42. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 16.06.2008 um 00:19 Uhr

Diese Nachricht wurde von Matze um 00:21:24 am 16.06.2008 editiert

Zitat:

Allerdings gibt es und gab auch immer Bücher, deren Erkenntniswert sich nicht umgehend erschließt.l

Gut gebrüllt, Löwe. Wenn man registriert, was auf dem Buchmarkt ´geht´ und was nicht, muß man konstatieren, daß das Lesen als Kulturtechnik überschätzt wird. Allein in den vergangenen 50 Jahren sind mehr Bücher publiziert worden, als in den 5000 davor, seit Erfindung der Schrift durch die Sumerer. Nur die wenigsten Bücherhaben das Zeug zu Longsellern wie die Bibel. Die Situation des Buches hat sich derart zugespitzt, daß es fraglich zu werden beginnt, ob das Buch seinen alten Platz als Träger wissenschaftlicher Erkenntnis behauptet. Hinzukommt, daß der gedachte Notstand durchaus nicht mit einer Abnahme Literatur zusammenfällt; vielmehr wird der qualitative Ausfall in vielen Ländern begleitet von einer Überproduktion zweifelhaftester Art. Die meisten Bücher entspringen heute dem allgemeinen Konsensdenken. Statistisch gesehen erscheint in Deutschland jede Stunde ein Buch, etwa zwanzig Bücher pro Tag, Nachauflagen nicht mitgerechnet. Da kann nicht in jedem etwas Neues stehen. Den meisten Büchern genügt als Daseinsbehauptung die Gewißheit, daß vor ihnen andere Bücher erschienen sind und nach ihnen andere kommen werden. Bücher stoßen sich welpengleich gegenseitig in die Welt. Ihre Verfallsfristen unterliegen einem rasanten Verkürzungsprozess. Heutige Autoren leben in der Regel etwas länger als ihre Bücher. Verlage haben das erkannt. In Zeiten schwindender Erlöse fühlen Verlage sich in Zugzwang. In diesen Zeiten nehmen sie das, was ihnen am Teuersten ist, und versilbern es: Kompetenz und Glaubwürdigkeit ihrer Redaktionen. Der Literatur–Betrieb, eine Welt im Kleinen, ein Makrokosmos, in dem die große sich spiegelt, abbildet, überprüft und wiederfindet. Beispiele für Autor–Aggressionen sind Legion, von Goethes Ausruf "Schlagt ihn tot! Er ist ein Rezensent!" bis Martin Walsers Roman "Tod eines Kritikers". Es war 1968 auf der Veranstaltung "Autoren diskutieren mit ihren Kritikern" in Köln, als der damals 28–jährige Autor Rolf Dieter Brinkmann aufstand und an den Kritiker Marcel Reich–Ranicki gerichtet rief: "Ich sollte überhaupt nicht mit ihnen reden, ich sollte ein Maschinengewehr haben, und Sie niederschießen!" Der Kursverfall der Literaturkritik ist offenbar. Opposition wider die Zeitläufte ruft beim Publikum nur mehr Schulterzucken hervor, Gesellschaftsanalysen provozieren verhaltenes Gähnen. Die Pluralisierung der Lebensstile hat auch die Autorität des Kritikers erfaßt – sein Standort gilt bloß noch als einer unter vielen. Das Genre der Kritik ist nicht erneuerungsfähig. Es ist eine Königsdisziplin, weil man hier im gleichen Medium arbeitet, im besten Fall fast semi–literarisch, Sprache reagiert auf Sprache, Text auf Text. Literaturkritik sollte nicht in erster Linie ein PR–Instrument, sondern ein Vehikel sein, um ein Gespräch über Literatur im Umfeld einer Zeitgenossenschaft in Gang zu bringen und zu halten. Der Platz für die Literaturkritik schrumpft auf eine Schwundstufe des ästhetischen Urteils. Und der wenige, der übrig bleibt, soll verstärkt "Service–Charakter" (siehe die Ratgeberliteratur a la "Feuchtgebiete") haben, also weniger intellektuelle Reflexion beinhalten, sondern mehr "nützliche Information" für den Leser. Eine Rückbesinnung der Literaturwissenschaft auf das Biographische ist zu beobachten, auch wenn in diesem "Biographismus" die bewährten Erkenntnisse, allem voran der Psychoanalyse, der Medientheorie und des "New Historicism" vergessen werden. Die Biografie ist zur tragenden Säule des Buchmarkts geworden; sie unterwandert die Literatur und resümiert das Beste, was die Sachbücher zu bieten haben. Es ist, als ob das Publikum von einem masslosen Hunger nach geschriebenem Leben befallen sei, einer Art literarischem Kannibalismus. Diskretion und Angemessenheit sind Kategorien, die einer solchen Herangehensweise, die sich "leidenschaftlich" nennt, die "begeistert" sein will, nicht zu Gebote stehen. Stattdessen wird behauptet und geschwärmt. Es ist eine schwierige Kunst, literarische Texte in ihrem Gelingen oder Scheitern nachzuvollziehen und so darzustellen, daß es eine Einladung zum Mit-Denken und Mit-Lesen ist. Aber selbst in den altehrwürdigen Literaturressorts ist eine Tendenz zu beobachten, die Analyse durch Superlative, durch Ranschmeissen zu ersetzen. Schriftstellernähe und Literaturferne gehen dabei paradoxerweise ein Bündnis ein. Ein Kritiker von Rang lebt von seiner Rätselhaftigkeit, seinen Überraschungen, seiner Unbestechlichkeit. Er reduziert Kultur nicht auf den Wohlfühlfaktor.

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1943Karl
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43. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 16.06.2008 um 21:12 Uhr

Lieber Matze,
es ist erstaunlich, was du nach Mitternacht alles noch so in die Tastatur tippst.
Allerdings glaube ich, es ist doch ein wenig unfair, heutige Bücher an der Bibel - dem Buch der Bücher - messen zu wollen. Heutige Bücher mit einer immer kürzeren Halbwertzeit sind ganz gewiss keine heilige Schrift mehr, die ewige Wahrheiten zu verbreiten vogibt.
Der Biografismus nervt mich auch sehr und geht offenbar zu Ungunsten der Kreativität.

Und das, was du am Ende über den Kritiker von Rang schreibst, hat meines Erachtens auch für einen Schriftsteller von Rang zu gelten.
Gruß
Karl


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Matze
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44. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 16.06.2008 um 23:37 Uhr

[quoteAllerdings glaube ich, es ist doch ein wenig unfair, heutige Bücher an der Bibel - dem Buch der Bücher - messen zu wollen.
Der "Glaube" in einer säkularen Gesellschaft. Eine Zuspitzung: Literatur ist der Katholizismus der Intellektuellen. Der Katholik glaubt an das Jenseits, und der Schriftsteller und Intellektuelle glaubt an das Jenseits des Werks. Leider täuschen sich beide. Es ist modern, kritische Literatur zu machen. Wenn es aber darum geht, daß nicht nur die Kunst, sondern auch der Autor kritisch sein sollte, ist von kaum jemandem etwas zu vernehmen. Die meisten wollen es sich mit niemandem verderben und meinen, sie seien nur die wehrlosen Opfer des Marktes. Literatur hat sich dem Druck des Marktes ergeben, hat sich ebenfalls in die Marketing–Abteilungen outsourcen laßen und funktioniert dort prächtig. Solange sie nicht wehtut, solange sie schöne Fluchtbedürfnisse in einer kalten Welt bedient. Geschichten werden einem bei jedem Kommerzsender angeboten. Inhalt jedoch heißt erst einmal Stoff und dessen Durchdringung. ‚Aufarbeiteten’ ist als Devise zur Mode geworden. Dabei sind die Dichter, die auf– und umgearbeitet werden, nicht so heruntergekommen wie die verschlissene Garderobe einer armen Familie. Zerschnitten aber werden sie; bleibt nur die Frage, wie viel vom alten Stoff gebraucht und wie gut die Maßschneiderei dem Bewußtsein des Publikums angepaßt wird. Daß die Stoffe auf der Straße liegen, ist blanker Unsinn. Der Stoff liegt nicht auf der Straße, vielmehr hat jeder Autor zu einer bestimmten Zeit einen bestimmten Stoff. Und genau diesen Punkt der stärksten Affinität, der inneren Notwendigkeit, mit dem richtigen Zeitpunkt zu treffen, darum geht es. Das bringt erst den Erzählton hervor. Der Status–Roman gefällt sich als Zumutung und straft jene Leser, die das unvergleichlich schwierige Kunststück nicht zu schätzen wissen, mit Verachtung. Der Kontrakt–Roman hingegen behandelt den Leser und seine Bedürfnisse deshalb mit Respekt, weil er ihn nicht dafür bestrafen will, diesmal nicht ins Kino gegangen zu sein. Die Literatur hat sich aufgespalten in ein zeitgeistiges Element der Wohlfühlkultur und die Sinnsuche der alten Wahrhaftigkeit. Damit ist sie ein Spiegelbild der aktuellen geistigen und politischen Zerrissenheit. Wenn man von Anfang bis Ende nur vom Glück erzählt, würde man sich zu Tode langweilen. Geschichten leben von Kontrasten. Am Ende läuft es doch darauf hinaus, daß der Künstler nicht selbst leiden muß, um Leiden zeigen zu können. Man muß das Leid verstehen und die Geschichten, die daraus entspringen. Das nennt sich atma, das Selbst, ein Ozean des reinen Bewusstseins. Es heißt, erkenne dich selbst, das ist das Feld, das ist es, wo alles herkommt, uns eingeschlossen, das ist unsere Heimat. Man ist hier und genießt es und versteht immer mehr, und man wird ganz verrückt und steht frühmorgens schon auf mit einem Kopf voller Ideen, und alles, was einen bis dahin gequält hat, hebt sich wie ein Gewicht von dir. Die Propheten des neuen Irrationalismus überleben innerhalb des von immer wechselhaften modischen Strömungen unterwanderten Literaturbetriebs vermutlich nur, wenn sie sich stilistisch eine gewisse Souveränität bewahren. Der Literaturbetrieb funktioniert sehr gut, wenn es um Karrieren geht; er funktioniert weniger gut, wenn es um Kreativität geht. Als die literarische Vereinigung Gruppe 61 gründete, war der Niedergang des Steinkohlenbergbaus bereits in vollem Gange. Das Problem kannten auch die Vertreter des Bitterfelder Weges in der DDR Anfang der 1960-er Jahre. Die Grenze zwischen schreibendem Arbeiter und arbeitendem Schriftsteller ließ sich durch Kommuniqués oder guten Willen nicht aufheben. Die alten Begriffe von Arbeit in der Literatur taugen nicht mehr. Heute faßt der Begriff des Prekariats, der, in Analogie zum Proletariat, die schlecht abgesicherten, hoch flexiblen, meist gut ausgebildeten, aber kaum organisierten Freiberufler zusammen. Man kann Literatur jedoch nicht konsensuell machen. Dann ist man dumm. Oder feige oder zynisch.

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1943Karl
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45. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 17.06.2008 um 19:11 Uhr

Lieber Matze,
deiner Analyse habe ich nichts hinzuzusetzen. Ich hätte sicherlich andere Wörter und Vergleiche benutzt und mir wäre es bestimmt nicht gelungen, es so gekonnt auf den Punkt zu bringen.
Meine Schreiberei fasse ich genauso auf. Leider ist mein literarisches Talente eherb begrenzt. Dennoch werde ich mich weiterhin bemühen.
Herzlichen Gruß
Karl


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Matze
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46. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 18.06.2008 um 01:43 Uhr

Zitat:

Ich hätte sicherlich andere Wörter und Vergleiche benutzt und mir wäre es bestimmt nicht gelungen, es so gekonnt auf den Punkt zu bringen.

Tschulligunck, wenn ich da widersprechen muß, auf´n Punkt geht nix. Nach den Anstrengungen der Orthodoxie, welche kein richtiges Leben im falschen zulaßen wollte, hat man es sich im Relativismus gemütlich gemacht. Als Zeugnis ihrer Weltferne passen sie nicht mehr die Theorie der Wirklichkeit an, sondern, umgekehrt, die Wirklichkeit den vorhandenen Denkmustern. Etliche Autoren haben die eigentlichen Ursachen des französischen winter of discontent verfehlt. Die Unruhe beweist, daß eine ganze Generation um Perspektiven gebracht ist. Konkrete soziale Verwerfungen, kulturelle Fehlentwicklungen, gesellschaftlicher Ausschluß von Minderheiten – all dies wird nicht einmal mehr erwähnt, geschweige denn beharrlich analysiert wie zu Zeiten der misère du monde. Anstatt durch Denken zu brillieren, ziehen sie es vor, den Gegner unter Ideologieverdacht zu stellen und die Arbeit am Text moralisch zu überwachen. Kritiker wie Elke Heidenreich und der so genannte Literaturpapst Marcel Reich–Ranicki stehen wie einst Waldorf and Stadler in der Muppets–Show auf dem Balkon und gießen ihren Spott auf das Geschehen hinab. Zynisch kommentieren sie den Weltenlauf, uneigentlich wie die Verhältnisse selbst. Gnostiker wie Hubert Winkels erringen lediglich einen Pyrrhussieg der Germanistik. Diese Form der Literaturkritik ist das Aschenputtel der Denkgeschichte. Sie betreibt nicht Denken des Einen, sondern Erforschung des Vielen. Sie konstruiert nicht eine einheitliche Position des Denkens; sie beschreibt dessen Konflikte. Sie hat keine antimoderne Abzweckung und sucht nicht nach Vorläufern. Die intellektuelle Debatte in der neuen Deutschland findet nicht mehr in den Literaturhäusern statt, sondern in vollautomatischen Fernsehstudios der Privat– und Nischensender. Sie ist dort eine Talkshow unter anderen, in der sich inszeniert, wer die Welt nicht mehr zu verändern, sondern von ihren Defekten zu profitieren hofft. Das einzige Engagement des Betriebs besteht darin, sich die letzten Reste an Aufmerksamkeit zu ergattern; die Mittel zu diesem Zweck werden immer beliebiger. Es wird viel geredet. Auch oder gerade, weil man nichts mehr zu sagen hat. Ein wirklicher Schriftsteller wird inzwischen fast als störend empfunden, denn heute ist ein Buch die Quersumme von Verlagspolitik, Business und Marketing. Leidtragender ist letztlich der Leser. Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels ist ein einzigartiger Verein. Er ist so organisiert und strukturiert, daß er im Grunde genommen gar nicht funktionieren dürfte. Gemessen daran funktioniert er aber ganz gut, was nicht heißt, daß er immer gut funktioniert. Der Börsenverein ist der weltweit einzige Verband, der als Interessensvertreter von drei Handelsstufen gleichzeitig auftritt: Produktion, Vertrieb und Verkauf; Verlage, Zwischenbuchhändler und Sortimentsbuchhändler. Das führt naturgemäß zu Schwierigkeiten weil es sich bei der vertriebenen Ware nicht um Stahlblech oder Plastiktüten handelt, sondern um Bücher, also um ein Kulturgut. Da gelten besondere Gesetzmäßigkeiten, Befindlichkeiten, Eitelkeiten. Es gibt hervorragende und spannende zeitgenössische Autoren. Doch die Flut von Büchern, die harmlos sind oder mit Gebrauchszynismus provozieren wollen, bleibt in der Wahrnehmung hängen. Die Inflation von austauschbaren Publikationen maskiert die zunehmende Uniformität des Angebots. Die Buchhandelslandschaft in Deutschland steht mitten in einem Transformationsprozess. Obwohl es Buch– und Medienkonzerne gibt, ist die Verlagsbranche mittelständisch strukturiert. Die Lage der Verlage gibt aber kein einheitliches Bild ab, weil die konjunkturellen Rahmenbedingungen unterschiedliche Auswirkungen auf die jeweiligen Markt– und Programmsegmente haben. Die Konzentration im Buchhandel ist ein Anlaß zur Sorge. Nicht etwa, weil die großen Buchhandelsketten ihr Geschäft nicht verstünden. Aber für spezialisierte Bücher und auch für neue literarische Namen ist die Markteintrittsschwelle höher geworden. Außerdem verhandeln Buchhandelsketten und Verlage nicht auf Augenhöhe. Die unabhängigen Buchhandels werden durch die Buchketten lahmgelegt, in deren Gefolge wird dem Publikum ein fantasieloser Einheitsbrei vorgesetzt. Selbstbewußte Buchhändler sind eine bewundernswerte Mischung aus Wissen und Engagement. Und Buchhandlungen, deren Selbstverständnis sich nicht in der Rolle des Gehilfen beim Stapeln von Konfektionsschreiberei oder dem Auffüllen von Bestseller–Schütten erschöpft, haben eine Zukunft. Sie erfüllen nämlich eine notwendige Funktion der Vermittlung. Am Ende führt ein solcher Umbruch der Verlagslandschaft unausweichlich dazu, daß außergewöhnliche Neuheiten, die nicht den zum Zeitpunkt ihrer Entstehung geltenden Kriterien entsprechen, jeder Chance beraubt werden, gelesen und also publiziert zu werden. Aber wer bemerkt schon das Fehlen eines unbekannten Autors?

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LX.C
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47. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 18.06.2008 um 13:18 Uhr

Da hat sich ja einiges aufgestaut. Arbeitest du schon länger daran oder entspringen die Worte spontan deiner Tatstatur? Wirklich sehr interessant.


.
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1943Karl
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48. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 18.06.2008 um 19:37 Uhr

Lieber Matze,
ja, ich habe mich ungenau ausgedrückt und eine Floskel benutzt. Dennoch bewundere ich deine klare Ausdrucksweise, die mir sehr einsichtig ist. Ich wollte damit deutlich machen, dass du nicht um den heissen Brei herum schreibst (und gebe gleichzeitig zu, dass diese Metapher und der Stelle nicht sonderlich gelungen ist.)
Herzlichst
Karl


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Matze
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49. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 18.06.2008 um 21:58 Uhr

[quoteDennoch bewundere ich deine klare Ausdrucksweise, die mir sehr einsichtig ist.
Schön, wenn das so wirkt. Für mich sind das eher tastende Bewegungen ins Unvordenkliche. Adornos Diktum, daß es nach Auschwitz barbarisch sei, ein Gedicht zu schreiben, ist der Satz eines Juden, der das Todeslager nie von innen sah. Ich kann nicht nachvollziehen, daß ein Geist wie Adorno annehmen kann, die Kunst würde auf die Darstellung des größten Traumas des 20. Jahrhunderts verzichten. Sein Diktum hat wahrscheinlich damit zu tun, daß Adorno auch vor Auschwitz kein Gedicht schreiben konnte. Die Autoren damals die Avantgarde der Literatur waren, sind heute im Begriff, ihre eigenen Biografien zu überleben. Der Raum, den sich der gute Leser bei der Lektüre erschließt, ist nicht der zwischen Text und Autor, sondern der zwischen dem Text und ihm selbst. Es kann nicht nur darum gehen, mit den Worten zu spielen und dabei den Hintersinn aus ihnen hervorzutreiben und das Spiel um seiner selbst willen spielen; auch Fundstücke der Antike möblieren nurmehr einen eitlen Showroom. Erforscht man den Zusammenhang zwischen Satzbau und Städtebau, so stellt man fest, daß unser Wissen von der Kulturgeschichte, avant la lettre, der Lektüre entspringt. Deren an Texten entwickeltes Vermögen zur Entzifferung läßt sich auf die Signaturen anderer Hinterlaßenschaften übertragen: neben dem Archiv schriftlich überlieferten Wissens auch auf bildliche und ikonographische Darstellungen, auf Topographien, Photos und Überreste. Betrachtung des Daseins als Schrift heißt: Beerbung philologischer Methoden, Analyse der Figurativität, Ikonographik und Medialität von Darstellungen sowie Aufmerksamkeit für die Bilder und Worte, die den Begriffen vorausgehen und diese erst ermöglichen. In der Poesie muß die Moral eine ästhetische sein, nicht behaupten, belegen oder erläutern, sondern in ihrer Evidenz prismatische aufscheinen laßen. Dem Dichterwort geht der Gegenstand voraus. Verwandelt in Sprache wächst er über sich selbst hinaus, wird zu etwas anderem. Die Evidenz der Poesie und der in ihr dargestellten Dinge kann nur in ihr und durch sie selbst erbracht werden. Die außersprachliche Wirklichkeit kann ihr keine Krücke sein – und gleichwohl kann sie des Widerlagers in einer anderen als der eigenen, sprachlich verfassten Welt nicht entbehren. Die Poesie entwickelt ebenso viel Eigendynamik, wie es als seismisches Instrument die feinen Erschütterungen unserer Zeit abbildet, sie agiert nicht vollends eigenmächtig, sondern reagiert auch als subtiler Reflex auf Veränderungen in der Welt. Wer die Poesie auf künstlerisches Neuland führen will, fällt oft hinter das vermeintlich Alte zurück und stellt sich die Frage: Wann hat es zuletzt eine ästhetische Debatte, eine Auseinandersetzung um poetische Formen gegeben?

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