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Literaturforum: E.M. Forster, Maurice - Themen und Motive


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 Thema: E.M. Forster, Maurice - Themen und Motive
ArnoAbendschoen
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Eröffnungsbeitrag Abgeschickt am: 03.03.2011 um 14:20 Uhr

1. Maurice zwischen den Klassen

Im Eingangskapitel soll der vorpubertäre Maurice von seinem Lehrer über die Wunder menschlicher Fortpflanzung aufgeklärt werden. Der Pädagoge fragt zunächst, ob der Junge erwachsene Männer in seiner Umgebung hat. „Mutter hat einen Kutscher und George für den Garten, aber Sie meinen natürlich Gentlemen …“ (S. 13) Maurice weiß also schon, wer gesellschaftlich für ihn in Frage kommt. Dass es aber gerade der heranwachsende George ist, der ihn am meisten anzieht, erfahren wir im 2. Kapitel. Nur ist George gerade auf Betreiben des Kutschers entlassen worden. (Als zeitweilig-faktisches Familienoberhaupt wird Maurice sich dafür später an ihm rächen.) Maurice’ Schwestern sind sich auch bewusst, was sie ihrer Stellung schuldig sind: „(Sie) nahmen ihm seinen Überzieher ab und ließen ihn für die Dienstboten auf den Boden der Eingangshalle fallen.“ (S. 18).

Die Halls gehören der oberen Mittelschicht an. Maurice` jüngst verstorbener Vater war Börsenmakler, der Großvater mütterlicherseits ist reich. Sie wohnen in einem Londoner Vorort, der bereits um 1900 die charakteristischen Merkmale westlicher "suburbia" voll ausgebildet hat: Komfort in zersiedelter Gegend, Distanz zu den Entwicklungen im Stadtzentrum, unterkühlte soziale Kontakte – „eine Gegend … wo ein Unterschied zwischen Erfolg und Scheitern nicht zu erkennen war.“ (S. 18) Der engste Vertraute, der Arzt „Dr. Barry … interessierte sich nur in Maßen für sie, wie auch sonst niemand ein wirkliches Interesse für die Halls aufbringen konnte.“ (S. 21)

In Glaubenssachen herrscht in dieser Welt die gleiche komfortable Unverbindlichkeit. Kapitel 7 enthält en passant Forsters Abrechnung mit einem Christentum, das nur noch aus Fassade besteht. „Glaube … trat nicht in Erscheinung, bis er auf eine Gegenkraft stieß, erst dann schmerzte er wie ein nutzloser Nerv.“ (S. 54) Die Schmerzgeplagten organisieren sich in der „Gesellschaft zur Verteidigung der Religion“. Als Student in Cambridge scheitert Maurice kläglich bei dem Versuch, gegenüber dem Hellenen Clive für seine christlichen Überzeugungen einzutreten. Es sind weniger Clives Argumente, die zersetzend auf jene dürftigen Überbleibsel von Religion wirken, als vielmehr Clives überlegener Geist an sich und seine privilegierte Stellung als junger Landadliger.

Maurice legt im Roman einen langen Weg zurück, der ihn vom Gärtnerburschen George zum Wildhüter Alec, seinem Geliebten, führen wird. Dabei nimmt er diesen weiten Umweg über Clive Durham – Durham, der ihn aus einem schlechten Christen in einen wenig begabten Platoniker verwandelt, bis er Maurice nicht mehr nötig hat. So wie George der Vorläufer von Alec ist, hat auch Clive einen, der den Weg zu ihm bereitet: der junge Risley, auch adlig, Verwandter des Dekans, "sophisticated" und leicht als Homosexueller zu erkennen. Diese Abfolge von Vorläufer und Hauptperson zeigt bereits ein wesentliches Strukturmerkmal in Forsters Romankunst auf - die Entsprechung.

Maurice achtet die Gesellschaftsordnung, doch ist er kein Snob. Gerade das lässt ihn bei den Durhams Erfolg haben. „Sie konnten lediglich diejenigen Leute nicht ausstehen, die sich zu sehr um sie bemühten … da Dankbarkeit für sie, merkwürdigerweise, ein Zeichen von schlechter Erziehung war.“ (S. 113) Für diese Gutsherren ist Religion nur noch ein Mittel, die soziale Ordnung aufrechtzuerhalten. Dass Clive kein Christ ist, lässt seine Mutter kalt – dass er das vor der Dorfgemeinde offenbart, indem er zu Weihnachten nicht am Abendmahl teilnimmt, ist ein Skandal und rüttelt an den Grundfesten der Ordnung. (Kap. 7) Als es später darum geht, dem liberalen Abgeordneten den Parlamentssitz abzujagen, ist Clive allerdings wieder an der Seite der konservativen Tradition, Christentum hin, Platonismus her.

Maurice’ Klassenbewusstsein ist stabiler gegründet als seine christliche Pseudoreligion und überdauert auch seinen Hellenismus – gäbe es da nur nicht die sexuellen Präferenzen. Er macht sich nach Clives Rückzug von ihm Vorwürfe: „Ein Gefühl, das einen Gentleman zu einer Person niederen Standes treibt, verurteilt sich selbst.“ (S. 179) Er engagiert sich durchaus – „er unterstützte sogar die Sozialarbeit der Kirche“. (S. 170). Man sieht ihn in den Slums mit den Jugendlichen Fußball spielen, er bringt ihnen Rechnen und Boxen bei – und urteilt über die soziale Frage so hart wie ein Marktliberaler von heute: „Die Armen wollen kein Mitleid … Sie fühlen anders als wir. Sie leiden nicht, wie wir es an ihrer Stelle täten.“ (S. 198)

Nur allmählich, im Zusammenhang mit seiner eigenen Krise, in dem Maß, wie er sich der Sexualmoral der Gesellschaft entfremdet, ändert sich seine Einstellung. Er spekuliert über die Thebaische Legion und hält, bezogen auf sie, Männerliebe für den Kitt zwischen den verschiedenen sozialen Klassen. Dazu sein Psychiater: „Eine interessante Theorie.“ (S. 251) Doch kurz darauf beklagt Maurice ihm gegenüber sein Unglück: „ … wie konnte ein Bursche vom Lande so viel über mich wissen? Warum ist er ausgerechnet in der Nacht über mich gekommen, als ich am schwächsten war? Ich hätte ihm nie erlaubt, mich anzufassen, wenn mein Freund (d.h. Durham) im Haus gewesen wäre, denn ich bin schließlich, verdammt noch mal, mehr oder weniger ein Gentleman – Internat, Universität und so weiter. Ich kann immer noch nicht glauben, dass ich ausgerechnet mit ihm zusammen war.“ (S. 254)

Auf dem Heimweg vom Arzt setzt sich der Erosionsprozess fort. Maurice begegnet zu Fuß dem König und der Königin in ihrem Wagen und „verabscheute sie in dem Moment, als er seinen Kopf entblößte.“ (S. 254) Zu Hause lässt er gegenüber seiner Tante die für sie unfassbare Bemerkung fallen, „Dienstboten seien vielleicht auch aus Fleisch und Blut.“ (S. 256) Noch schlimmer: Nachdem er, der Broker, das Wesen der Geldanleger durchschaut zu haben glaubt, „ fing (er) an, über die Moral seines Berufes wie ein neunmalkluger Student im ersten Semester zu diskutieren, aber die Leute in seinem Eisenbahnabteil nahmen ihn nicht ernst.“ (S. 260)

Ganz frei geworden von Clive und dessen Hellenismus, durchschaut er am Ende aus eigener Verstandeskraft die verborgenen Mechanismen kirchlicher Machtausübung: „ … jetzt erkannte er, dass kein menschliches Geheimnis existiert, das von orthodoxem Denken nicht unter einem verkehrten Gesichtspunkt ausgespäht wird, dass Religion weitaus scharfsinniger ist als Wissenschaft und dass es das Großartigste auf der Welt wäre, wenn sie der Einsicht auch ein entsprechendes Urteil folgen lassen würde.“ (S. 282) Mr. Borenius, der Pfarrer des Gutsbezirks, sieht ebenso klar und durchschaut Maurice: „… ehe nicht alle sexuellen Vergehen – und nicht wenige von ihnen sind strafbar – ausgemerzt sind, wird die Kirche England niemals zurückerobern.“ (S. 283) Wie aktuell das klingt: Rückbesinnung auf traditionelle Werte! Glaubensfragen sind auch Machtfragen, und Eros kann ebenso Störenfried wie Erkenntnisstifter sein.


2. Clives Verwandlung

Lange nachdem er Forsters Roman verfilmt hatte, äußerte sich James Ivory öffentlich über ein zentrales Element der Handlung des Buches so: Die Verwandlung Clive Durhams in einen Heterosexuellen sei für den Leser frustrierend, Forster habe das nicht genügend herausgearbeitet. Ihnen selbst, den Filmleuten, sei es übrigens nicht besser gelungen. Ivory lässt Clive vom Pfad nach Sodom abbiegen, als er miterleben muss, wie Risley in einem Prozess à la Oscar Wilde zugrunde gerichtet wird. Bei Forster bleibt Risley unbehelligt, wir begegnen ihm zuletzt in einem Sinfoniekonzert.

Tatsächlich reibt sich der Leser die Augen – Clive, der sich früh als homosexuell empfand und auf platonische Liebe beschränkte, macht als junger Anwalt eine Grippe durch und danach richtet sich sein Begehren nur noch auf Frauen. Er ist nicht etwa bisexuell geworden, er schreibt Maurice ausgerechnet aus Griechenland nur die zwei Sätze: „Ich bin gegen meinen Willen normal geworden. Ich kann es nicht ändern.“ (S. 138) Ivory gibt vor der Kamera dazu etwas gequält zu verstehen, solche seltenen Einzelfälle kämen eben vor.

Der Text enthält indessen verschiedene Hinweise auf Clives allgemein problematischen Charakter. So ist bei ihm Mutterhass unübersehbar. Seine engere Beziehung zu Maurice in Cambridge beginnt mit einem langen Gespräch, in dem er gesteht: „Ich habe meine Mutter satt bis hier. Das ist mein eigentliches Problem, und dabei würde ich gerne Ihre Hilfe in Anspruch nehmen.“ (S. 52) Der Kälte gegenüber der Mutter entspricht eine generelle Bindungsschwäche, wenn nicht –unfähigkeit. Seine Kommilitonen sagen über ihn: „Durham ist in Ordnung, solange man ihn amüsiert, dann aber lässt er einen fallen …“ (S. 54) - und „er hasste es, irgend jemandem verpflichtet zu sein.“ (S. 76) Andererseits leidet er, freudianisch gesprochen, unter seinem starken Über-Ich. Er nennt das dann Hölle. Als er den familiären Anforderungen nicht entsprechen kann, beklagt er sich bei Maurice darüber: „Die absolute Hölle, das pure höllische Elend.“ (S. 52). Es scheint seine private Hölle zu sein, und Maurice billigt er in ihr kein Bürgerrecht zu: „Du hast nie etwas getan, wofür du dich schämen müsstest, du weißt also nicht, wie die Hölle wirklich beschaffen ist.“ (S. 77) Maurice bestätigt es ihm am Ende dieses Streits: „Ach, geh doch zur Hölle, das ist alles, wofür du taugst.“ (S. 78) Clives Waffen gegen sich selbst sind Selbstdisziplin und Askese. Seine Hellsichtigkeit, seine Selbsterkenntnis versagen, wenn es um Leibliches geht, er resigniert: „Geheimnisse des Körpers sind unergründlich. (S. 141) So viel glaubt er dennoch davon zu verstehen, dass er sich von Maurice unterscheidet: „Ich war nie so wie du.“ (S. 152)

Forster hat also Material ausgebreitet, das ein geschickter Psychiater oder Psychoanalytiker aufarbeiten könnte. Mag sein, dass er uns ein brauchbares Psychogramm erstellen würde. Indessen kann man noch anders vorgehen und zu einem rein finalen Erklärungsmuster gelangen. Der Roman heißt nicht „Maurice und Clive“, sondern „Maurice“. Er zeigt, wie ein junger Mittelschichtler sich aus dem Standesdenken seiner Zeit löst und dadurch sein persönliches Glück findet. Das Buch ist auch politisch zu lesen. Vergegenwärtigen wir uns, dass Forster die meiste Zeit seines Lebens das war, was man später einen Sozialliberalen nannte. Im Bündnis von Intelligenz und Mittelschicht mit den unteren Klassen sah er den Schlüssel zum gesellschaftlichen Fortschritt. Maurice nimmt von seinem ersten Besuch auf dem Landsitz der Durhams an die Rückständigkeit der ländlichen Verhältnisse wahr, die Vernachlässigung der öffentlichen Einrichtungen, die ökonomische Krise des Landadels und seinen überholten Führungsanspruch. Von „Stillstand“ und „einem unwürdigen Zustand“ ist die Rede (S. 103). Beim ersten Tee auf Penge gewinnt Maurice diesen Eindruck: „Überall standen Leute herum, die den Eindruck erweckten, als seien sie etwas Außergewöhnliches oder als wären sie aus einem ganz außergewöhnlichen Grunde hier.“ (S. 104) Dementsprechend sein Empfinden, als er am Ende des Buches zu Alec zurückkehrt, der im Bootshaus von Penge auf ihn wartet: „ … es berührte ihn einmal mehr, wie heruntergekommen alles war, wie wenig geeignet, Maßstäbe zu setzen oder die Zukunft zu bestimmen.“ (S. 286)

Auf eine kurze Formel gebracht: Clive wird normal, da er aus dem Leben von Maurice verschwinden muss. So will es die Architektur des Werks.


3. Wie man ein Happy End herstellt

Dummheit, Dunkelheit und Prüderie, das sind die Fußfesseln dieses Prometheus. Von Maurice als Knaben heißt es: „Er war von Natur aus träge.“ (S. 32) Seine Erziehung ist eher geeignet, die Schwächen dieser Veranlagung zu verfestigen. Die Vorbereitungsschule entlässt ihre Zöglinge „gesund, aber geistig träge“ (S. 9) Die Oberschule wird von Forster noch sarkastischer dargestellt. Dumm, aber reproduktiv, scheint das Ziel dieser Pädagogik zu sein, das eine uneingestanden, das andere offen herausgestellt. Auf den Versuch, ihn sexuell aufzuklären, reagiert Maurice seinerseits mit Stumpfsinn, der sich mit nur scheinbarem Verständnis maskiert.

Er leidet extrem unter der kindlichen Angst vor der Dunkelheit. Er ist so empfindsam, dass er leicht weint. Sein gewöhnlicher Aufenthaltsort ist „das Tal der Schatten des Lebens“ (S. 24). Die eine wirkliche Aufklärung verhindernde Prüderie verrät sich schon im 1. Kapitel. Sein Lehrer bezeichnet die Vereinigung von Mann und Frau als „Krönung des Lebens“ und zugleich seine Darstellung davon im Sand als „furchtbare Zeichnungen“. Die Oberschule unterbindet infolge gewisser Vorkommnisse in der Vergangenheit jegliche sexuelle Aktivität ihrer Schüler, auch bloßes Reden darüber.

Er hat Träume, er hat Idole, er entdeckt – durch Raufen – den eigenen kräftigen Körper. Und dann beginnt er allmählich zu steigen, d.h. zu reifen. Wie stellt Forster das dar? Durch ein sehr einfaches Mittel. Vergegenwärtigen wir uns zunächst, dass im Verlauf der Handlung zweimal ein Mann nachts durch ein Fenster zu einem anderen Mann einsteigt. Maurice besucht auf diese einer gewissen ländlichen Komik nicht entbehrenden Weise Clive und wird später ebenso von Alec aufgesucht. Beide Ereignisse markieren einen Einschnitt, haben Konsequenzen. Im ersten Fall gerät Maurice auf einen Abweg, erst die Wiederholung führt zum befriedigenden Ergebnis. Nach diesem Muster – Lernen am Erfolg, zuerst die nicht recht geglückte Generalprobe, dann die zufrieden stellende Premiere – sind weite Teile der Handlung konstruiert. Die Wiederholung als bessere Entsprechung ist das Strukturelement schlechthin. Wir wollen uns einige Beispiele dafür ansehen.

Maurice konsultiert wegen seiner Homosexualität zwei Ärzte, Dr. Barry, der alles nur für Humbug hält, und dann den Psychiater Lasker Jones, der mittels Hypnose die Entwicklung beschleunigt und Maurice sich selbst akzeptieren lässt. Dazu sind genau zwei Sitzungen erforderlich, die erste mit unsicherem Ergebnis, die zweite mit so eindeutigem, dass sich jede weitere Behandlung erübrigt. Ähnlich Maurice’ Kontakt mit der Musik Tschaikowskys. Die "Pathétique" kommt ins Spiel, als Maurice in Risleys Zimmer die ersten Worte mit Clive wechselt. Sie erklingt bei einem öffentlichen Konzert wieder, bei dem nicht ganz zufällig Risley wieder zur Stelle ist und nun damit beginnt, den jungen Hall mit praktischen Tipps zu versehen. Unnötig zu sagen, dass Risley selbst genau zweimal persönlich auftritt, ebenso wie Mr. Ducie, der Lehrer aus der Vorbereitungsschule. Bei seinem nicht sehr erfolgreichen Aufklärungsversuch spricht er scherzhaft eine Einladung zum Essen aus – in zehn Jahren soll Maurice mit seiner Gattin zu ihm kommen. Ducie stößt nach Ablauf dieser Zeit stattdessen im British Museum auf Maurice und Alec, die gerade dabei sind, ein Paar zu werden.

Vorher passiert noch viel. Es wird zweimal vorzeitig wegen Krankheit abgereist, zweimal reist Maurice an einem Tag zwischen Penge und London, zweimal sitzt einer in einer entscheidenden Situation auf einer Stuhllehne neben dem anderen. Als es in Penge im Salon durchregnet, kommen die Dienstboten erst nach dem zweiten Klingeln, und das wird von Clives Mutter in sich selbst wiederholender Weise noch betont: „Wir mussten zweimal klingeln, zweimal klingeln …“. Und sie stellt gleich auch noch die Verbindung zu Erotik und Klassenfrage her: „ … wie haben unsere kleinen Idyllen auch im Souterrain, müssen Sie wissen.“ (S. 203) Forsters Motivarbeit funktioniert präzise wie ein Schweizer Uhrwerk. Er wendet seine Methode der Verdoppelung sogar auf Namen an. Clives Schwester heiratet einen in London ansässigen Mr. London, und die Maklerfirma, in der Maurice arbeitet, nennt sich Hill & Hall.

Weiter: Maurice ist der achte Freund, dem sich Clives Braut am Telefon vorstellt. (Ein Paar entspricht der Zahl zwei, und ihre zweifache Verdoppelung ergibt acht.) Maurice scheint darauf anzuspielen, wenn er von Alec, dem Spielführer beim Kricket Gut gegen Dorf, als achter Mann aufgestellt werden will. (Aber Alec akzeptiert es nicht, stellt ihn als fünften auf!) Clives Grippe, während der er seine Abreise nach Griechenland plant, findet ihre Entsprechung, als Maurice und Alec das Museum betreten: „Alec … nieste wie ein Löwe.“ (S. 262) Maurice zeigt ihm dort assyrische Stiere, d.h. er geht mit ihm hinter das antike Griechenland und den Platonismus zurück zu einem noch Ursprünglicheren. Als sie das Museum miteinander versöhnt verlassen, heißt es von Alec: „ … er gehörte zu jenen, die ein Gift einfach ausscheiden können.“ (S. 270) Das ist eine diskrete Anspielung darauf, dass Clive im Verlauf seiner Erkrankung von der platonischen Liebe zu Maurice „geheilt“ wurde, er hat sie gleichfalls wie einen Giftstoff ausgeschieden.

Bevor es richtig hochzeitlich wird, werden Blumen in die Handlung gestreut, es sind genau zwei Arten, zuerst die verkümmerten, von Insektenfraß entstellten Heckenrosen, dann die einen herrlichen Duft verströmenden Nachtkerzen. Zwei Nächte verbringt Maurice im Roman mit Alec, die erste führt in die Krise, die zweite aus ihr heraus. Mit dem Beginn der dritten Nacht endet der Roman. Und in diesem Zusammenhang werden die Nachtkerzen ausnahmsweise ein drittes Mal eingesetzt, wie der Schlusstusch im vierten Satz einer Sinfonie. Forster war sich seiner Mittel sehr bewusst.

Ivorys Verfilmung nimmt dieses Spiel mit der Wiederholung auf und zwar mit einem besonders symbolträchtigen Detail, das im Roman nicht vorkommt. Zu Beginn ihrer Bekanntschaft spielen Maurice und Clive auf dem Klavier eines Kommilitonen Auszüge aus der "Pathétique". Dann unterbricht sich Clive und nimmt sich, mit Billigung des Zimmerinhabers, aus dessen Obstschale einen Apfel, eine Anspielung sowohl auf Liebe wie auf Erkenntnis. Bei Alecs erstem Auftritt handelt der junge Wildhüter genauso, wenn auch hinter dem Rücken der Herrschaft.

Werfen wir abschließend noch einen Blick auf die Tatsache, dass Maurice die geglücktere Wiederholung seines Vaters zu sein scheint. Auf S. 180 sitzt „der Geist seines Vaters“ im Büro des jungen Börsenbrokers auf einem Stuhl ihm gegenüber: „Mr. Hall senior hatte weder gekämpft noch nachgedacht; es hatte nie eine Gelegenheit dazu gegeben; er hatte die Gesellschaft unterstützt und war ohne eine Krise von unerlaubter zu erlaubter Liebe übergewechselt. Jetzt, da er zu seinem Sohn hinüberblickt, packt ihn der Neid, die einzige Qual, die in der Welt der Schatten fortdauert. Denn er sieht, wie das Fleisch den Geist erzieht, so wie der seine niemals erzogen worden ist, und wie es das träge Herz und das seichte Bewusstsein gegen seinen Willen vervollkommnet.“ Das also ist das Thema dieses großen Romans: der Fortschritt infolge Erziehung des Herzens durch das Fleisch.

(Alle Zitate nach der Übersetzung von Nils-Henning von Hugo, erschienen als Taschenbuch im Fischer Taschenbuch Verlag 2005)

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