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Literaturforum: Die Baracke der Dichter - Gadda in Celle


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 Thema: Die Baracke der Dichter - Gadda in Celle
ArnoAbendschoen
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Eröffnungsbeitrag Abgeschickt am: 14.06.2016 um 00:37 Uhr

Verstörend am 1. Weltkrieg sind für Nachgeborene schon die Größenordnungen, die Menschenmassen, die verheizt wurden. Dies gilt auch für Nebenkriegsschauplätze wie die italienisch-österreichische Front. Als Italien Ende Oktober 1917 bei der Schlacht von Caporetto katastrophal unterlag, gerieten allein dabei 300.000 Soldaten in Gefangenschaft. Diese waren in Österreich-Ungarn und im Deutschen Reich in Lagern unterzubringen, zu bewachen, zu ernähren. Letzteres war im Hungerwinter 1917/18 fast unmöglich. Die Unterernährung begünstigte erst die Tuberkulose, später die Spanische Grippe. Viele Tausende überlebten die Gefangenschaft nicht. Carlo Emilio Gadda (1893 – 1973) konnte Anfang 1919 heimkehren, physisch in leidlichem Zustand, seelisch instabil – und mit einem Tagebuch aus der Zeit in Deutschland. Er veröffentlichte es 1955. Erst 2014 kam es im zu Klampen Verlag in Übersetzung heraus, zusammen mit weiteren Texten: „Die Baracke der Dichter – Carlo Emilio Gadda und Bonaventura Tecchi im Celle-Lager 1918 – Texte aus der Kriegsgefangenschaft“.

Zufällig war der junge Gadda, später einer der renommiertesten Erzähler Italiens im 20. Jahrhundert, etwa zehn Monate lang in derselben Baracke in Scheuen wie die künftigen Literaturgrößen Tecchi und Ugo Betti untergebracht. Scheuen, ein kleines Heidedorf nördlich von Celle, später eingemeindet, wies mit auf dem Höhepunkt 30.000 Gefangenen eines der großen Lager auf, unter ihnen 3.000 Italiener. Im Lager befand sich auch Francesco Nonni (1885 – 1976), erfolgreicher Maler und Zeichner seiner Zeit. Von ihm illustrieren bedrückende Zeichnungen den Band, zusammen mit Fotografien von damals. Das verdienstvolle Buch ermöglicht mit seinen Dokumenten einen realistischen Blick auf die existentiell extreme Situation jener Zeit.

Noch bedeutsamer ist das Buch für ein vertieftes Verständnis von Gaddas Person und Werk. Hier ist allerdings kritisches Lesen angebracht. Der Herausgeber Oskar Ansull rechnet sich einer „gegenläufigen Heimatliteraturgeschichtsschreibung“ zu. Sein Bestreben, jene lange verdrängten Schrecken publik zu machen, ist ehrenwert. Dabei hat er sich leider einer vorhandenen kurzschlüssigen Tendenz angeschlossen, Gadda primär aus jenem Erlebnis von Krieg und Gefangenschaft zu erklären: „Krieg und Gefangenschaft haben den Autor Gadda geformt, und es brach die Wunde ein Vierteljahrhundert später erneut auf.“ Er zitiert auch Gustav Seibt, der im Akzente-Heft von 1993 über Gadda von der „Urkatastrophe“ Krieg und Gefangenschaft spricht. Und Ansull lässt Antonio Tabucchi (1943 – 2012) mit einem nicht durchweg überzeugenden Textauszug Gaddas Tagebuch kommentieren. Tabucchi zieht Parallelen zwischen Cervantes und Gadda und den Schlachten von Lepanto und Caporetto, wobei er davon absieht, dass jene Seeschlacht im Unterschied zur Niederlage von 1917 triumphal endete. Tabucchi: „Gadda beginnt … in der Lüneburger Heide, sich und seine Lage zu durchschauen. Ein gescheiterter bürgerlicher Intellektueller, der mit zigtausend anderen voll Opferbereitschaft und Selbsthingabe in den Krieg gezogen ist, die damit politische Hoffnungen verbanden, eine moralische Erneuerung der Gesellschaft ersehnten … Beide (d.h. Gadda und Cervantes) schrieben sich in ihren Gefangenschaften – und noch lange darüber hinaus – die Enttäuschungen und Irrtümer von der Seele …“

Mit Verlaub: Das kommt pseudoprogressiver Literaturgeschichtsfälschung nahe. Gadda entwirft von sich und seinen Motiven ein anderes Bild. Noch bei der Publikation des Tagebuchs nach dem 2. Weltkrieg versichert er, er sei kein Remarque und seine Einstellung zum Krieg sei im Wesentlichen unverändert. 1918 notiert er seine „Leidenschaft für den Krieg“. Er, der Kriegsfreiwillige, weiß, dass es im Celle-Lager zwei Parteien gibt, die für und die gegen den Krieg, und zwischen beiden ist „Hass“. Für die Gegenpartei steht Savini, „eine banale, bürgerliche, schüchterne Seele: ein ruhiges Leben, Geiz, nieder mit dem Krieg, wie viel Unheil hat der schon angerichtet, etc. etc“. Italien war schon vor und bei Kriegseintritt gespalten. Es kämpfte nicht nur für die Befreiung Trients und Triests, auch für rein imperialistische Ziele, den Erwerb der Adria-Ostküste, für Kolonien rund ums Mittelmeer. Es hatte 1911/12 der Türkei in einem Raubkrieg Libyen und den Dodekanes abgejagt. Libyen war im Weltkrieg der italienischen Kontrolle entglitten und musste also nach Kriegsende noch einmal erobert werden. Gadda kann sich in Celle gut vorstellen, dass er Offizier bleibt und auch in Libyen dabei ist. (Dazu kam es nicht, vielleicht auch aufgrund des Kriegstodes des einzigen Bruders.) 1921 tritt er Mussolinis Partei bei und macht 1923 in Argentinien Propaganda für den Duce. Nach dem 2. Weltkrieg textet er Tiraden gegen Mussolini - dem er zuvor in Fachaufsätzen pflichtschuldig gehuldigt hatte. Noch Jahrzehnte nach Gaddas Tod wird in Italien die Frage diskutiert, wie lange und wie intensiv er tatsächlich als Mitläufer einzuschätzen ist.

Ohne Zweifel waren Krieg und Gefangenschaft einschneidende Erlebnisse für den jungen Gadda. Sie haben eine vorbestehende Problematik verschärft und durch ihren Verlauf den Ausweg, den er für sich sah, verhindert. Gadda empfand sich als deklassierten Außenseiter. Die väterliche Textilfabrik war perdu, die Mutter hatte nach dem frühen Tod des Vaters Lehrerin werden müssen. Gadda bezeichnet sich wiederholt als „arm“. Dazu kommt die sexuelle Differenz. Er notiert, dass er allein in der Baracke kein Frauenbild am Bett befestigt hat. Da ist eine „adrette Wirtstochter“ – nur: „Keinerlei sinnlicher Gedanke in mir, sondern, ich weiß nicht wieso, Langeweile, Eintönigkeit und gereizte Nerven.“ Eine Bahnwärtertochter küsst er „nur anstandshalber“. Ihm imponiert bei allem sonstigen Hass auf das Militär des Feindes ein deutscher Leutnant: „groß gewachsen; kurze, trockene Befehle, undurchdringliches Gesicht; Marmorkatze. Das ist mein Ideal, das, was ich in meinem Paradestil zu erreichen gesucht habe.“ Nach Fotos von Gadda aus jener Zeit hat man sich diese Marmorkatze weniger schnarrend als vielmehr – schnurrend? vorzustellen.

Der Kriegsverlauf bleibt für Gadda trotz des Sieges eine persönliche Katastrophe, da er selbst sich infolge der Schlacht von Caporetto nicht hatte bewähren können. Sein Tagebuch lässt deswegen schon im Mai 1918 deutliche Schuldgefühle erkennen. Er entwickelt kompensatorische militärische Phantasien. Er konstatiert an sich: „schwerwiegende Defekte, negative Eigenschaften“. Und hier deutet sich jener andere Ausweg für den Unverstandenen, sozial nicht Akzeptierten an: „Die einzige lebendige und korrekte Form des Ausdrucks, die mir entspricht, ist die des niedergeschriebenen Gedankens.“ Das und nichts anderes ist der Ursprung der Gaddaschen Dichtung. Tecchi, der dann lebenslang mit ihm befreundet war, formuliert es ein halbes Jahrhundert später so: „ … dass sich aus einem so merkwürdigen Gewirr … von Skrupeln und Ressentiments, von Freundlichkeit und Schroffheit, von Unterwerfung und Revolte, von Höhenflug und Erschöpfung, aus einer so komplizierten Kette nicht nur eines, sondern vieler sogenannter Minderwertigkeitsgefühle unversehens jenes blendende Überlegenheitsgefühl ergeben würde, das bei Gadda die sichere Beherrschung des Wortes ist.“ Oder so: „Gadda … trug vielleicht schon jenen Urgrund von Bitterkeit in sich, jene Anwandlung von Rebellion gegenüber dem Leben, gegenüber dem Schicksal des Einzelnen und dem Schicksal aller, der er erst viele Jahre später Ausdruck verleihen sollte.“

Wir dürfen also vermuten: Gadda wäre auch ohne Krieg und Gefangenschaft im Wesentlichen der Gadda, wie wir ihn kennen, geworden.

Abschließend ein Lesetipp: „Italienisch-Türkischer Krieg“ bei Wikipedia – Orient und Okzident, höchst fatal …

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