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Literaturforum: Andrej Kurkow - Jimi Hendrix live in Lemberg


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 Thema: Andrej Kurkow - Jimi Hendrix live in Lemberg
Kenon
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Eröffnungsbeitrag Abgeschickt am: 29.04.2022 um 18:37 Uhr

Ein Taxi fährt nachts durch die kopfsteingepflasterten Straßen von Lwiw (Lemberg), im Westen der Ukraine: durch die Lissowa, Horodotska, Lytschakiwska. Am Steuer sitzt Taras. Seine Gäste kommen größtenteils aus Polen, sie haben Nierensteine und die nächtlichen Fahrten sind so etwas wie eine medizinische Behandlung, die sie in ausländischer Währung bezahlen. Die Einnahmen tauscht Taras am Ende seiner Schichten bei einer freundlichen Frau in einer Wechselstube in heimische Hrywni um. Sie wächst ihm schließlich ans Herz.

Andrej Kurkows leicht phantastischer Roman “Jimi Hendrix live in Lemberg” spielt, wie der Titel schon sagt, größtenteils in Lwiw / Lemberg, dieser sagenhaften Stadt. Wer sie noch nicht kennt, stelle sich einfach ein ukrainisches Prag ohne Fluss vor – und wer, der die Stadt kennt, würde nicht von ihr schwärmen?! Wenn man überhaupt einen Mangel an ihr feststellen wollte, dann natürlich allein den folgenden:
Zitat:

Wem war in den Sinn gekommen, diese prächtige Stadt so weit vom Meer entfernt zu erbauen? Noch schlimmer, überhaupt weit weg vom Wasser!
Sehnsucht nach Lwiw
Kurkows Roman erschien bereits im Jahr 2012, in deutscher Übersetzung erstmalig 2014. Bei mir ruhte das Buch schon etwas länger im Regal, jetzt habe ich endlich einmal Zeit gefunden, es zu lesen. Das liegt sicherlich auch daran, dass es während des aktuellen russischen Krieges gegen die Ukraine nicht opportun ist, nach Lwiw aus touristischen Gründen zu reisen und ich schon etwas Sehnsucht nach der Stadt habe. Zuletzt war ich zur Neujahrsfeier 2021/22 in Lwiw – da gab es bereits Reisewarnungen wegen des drohenden Krieges. Der russische Aufmarsch, der im Frühjahr 2021 begonnen hatte, ließ schlimmes erahnen. Putin hatte Ende 2021 die Entscheidung für sich wahrscheinlich längst gefällt, mit seinem Militär in die Ukraine einzumarschieren, die Rhetorik im Dezember deutlich verschärft, unerfüllbare Forderungen gestellt. Aber zurück zum Buch.

Sowjetische Hippies, ein Ex-KGBler, ein trockener Friseur
Ich möchte vom Plot von Kurkows Roman nicht zu viel verraten, also eigentlich kaum mehr als eingangs erwähnt. Auf dem Buchrücken spricht man von einem “Feuerwerk von unglaublichen und skurrilen Einfällen” des Schriftstellers. Das ist von der Marketingabteilung sicherlich etwas dick aufgetragen, aber kreativ und virtuos ausgeführt ist es schon, wie Kurkow in seinem Werk verbliebene Teilnehmer des “Heiligen Gartens”, einem legendären Treffpunkt sowjetischer Hippies in Lwiw, einen “ehemaligen” KGB-Mann, Obdachlosenhelferinnen, einen Schriftsteller, einen trockenen Friseur, der nicht mehr allein leben möchte, und andere als handelnde Figuren in der Perle Galiziens zusammenbringt. Natürlich wird in Kurkwos Roman auch viel getrunken. Das gehört zum Sozialisieren in der Ukraine gewissermaßen dazu. Die Wahl der Getränke, wenn ich das hier am Rande erwähnen darf, erscheint mir durchaus gelungen: Zakarpatskij Cognac, Lagavulin Whisky, Chortyzja Horilka.

Persönlich hätte ich mir etwas mehr Handlungsschwerpunkte auf den ex-sowjetischen Hippies gewünscht, aber nach Kurkows Roman erschien ja nun auch die Monographie “Flowers Through Concrete. Explorations in Soviet Hippieland” (Oxford 2021) der Historikerin Juliane Fürst, die das Thema non-fiktional ausführlich dargestellt hat.

Zwischenmenschliche Versöhnung
Den Roman habe ich im dritten Viertel als etwas schwächer empfunden, das “unheimliche Möwen”-Thema, das ich in dieser Rezension nicht näher erläutern möchte, erschien mir allmählich etwas ausgereizt, aber die Darstellung der Menschen, ihr Interagieren und schließlich das Aufspüren ihres grundlegenden Humanismus ist schon eine großartige Leistung von Andrej Kurkow, die ich bei ihm auch in “Graue Bienen” (2018) fortgesetzt gefunden habe: Selbst wenn zwei Figuren sich in konträren politischen Lagern befinden, schafft es der Autor, sie auf eine versöhnliche Ebene zu setzen, auf der sie immerhin noch miteinander kommunizieren können – sofern sie denn als Individuen und nicht als aktive Vertreter von staatlichen Organisationen handeln. Ob das immer richtig ist, weiß ich nicht zu sagen. Wenn der KGB-Mann Rjabzew sich im Roman selbst einredet:
Zitat:

Das war nicht ich, das war das System.
dann macht er es sich schon etwas einfach; allerdings ist es ja auch wichtig, wie sich ein Mensch weiterhin entwickelt, nachdem er dem Bösen gedient hat: Sieht er seine Fehler ein, bedauert er sie, versucht er, ein anderer Mensch zu werden?

Über den Hippie Alik schreibt Kurkow:
Zitat:

Nein, er, Alik, hatte das sowjetische Regime nie bekämpft. Er hatte es einfach ignoriert.
Alik und Rjabzew sind vielleicht gar nicht so unterschiedliche Typen … irgendwann ist der eine den einen Weg gegangen, der andere den anderen – und doch überschneiden sich ihre Biographien auf erstaunliche Weise, laufen zeitweise parallel, auch nach dem Ende der Sowjet.

Den Polen Jerzy Astrowski lässt Kurkow sagen:
Zitat:

Ehemaliger KGBler oder Kommunist kann man nicht sein – diese Stempel waschen sich nicht von Körper und Seele ab. Aber aus mir hat man zu sowjetischer Zeit alles Polnische herausgeprügelt, außer meinem Vor- und Nachnamen ist nichts mehr geblieben.
Die stets gegenwärtige Vergangenheit
Die Vergangenheit spielt bei den Figuren in Kurkows Roman also keine geringe Rolle. Sie ist immer präsent, die Figuren müssen mit ihr leben – und das schaffen sie sogar ganz gut: ebenso wie die Ukrainer im wirklichen Leben. Was ist dem ukrainischen Volk nicht alles schon aufgebürdet worden!?

Wenn man “Jimi Hendrix live in Lemberg” im Jahr 2022 liest, sucht man vielleicht auch nach Zeichen der Gegenwart in diesem Roman. Sind die darin auftauchenden unheimlichen, aggressiven Möwen, die in Lwiw eigentlich nichts verloren haben, schon ein Vorzeichen der späteren russischen Invasion der Ukraine?! Sind diese Möwen eigentlich russische Marschflugkörper, Raketen, Kugeln und Bomben?? Man kann es sicherlich so deuten, auch wenn der Roman selbst die Möwen auf einen betrunkenen Seemann aus Odessa zurückführt …

Die Übersetzung: Ein wenig zu deutsch
Vom Lektorat bzw. den Übersetzern hätte ich mir bei der Übersetzung etwas mehr Mut zu ukrainischen Eigennamen gewünscht, denn auch durch die Sprache wird eine Kultur transportiert. Warum heißen zum Beispiel die “Sammeltaxis” in dem Roman nicht Marschrutki, warum wird die in der Stadt herausgegebene, für die ganze Ukraine wichtige Zeitung mit dem deutschen Namen “Hohes Schloss” erwähnt? Warum ist der Titel des Buches nicht “Jimi Hendrix live in Lwiw” – der doch sogar ein schönes Wortspiel enthielte? Sicherlich, das sind Details, aber ihnen steckt auch viel Authentizität, die man dem Leser durchaus zumuten kann.

Die Stadt als ewiger Traum
Der Litauer Audrjus, auch einer dieser ehemals sowjetischen Hippies, sagt in dem Roman auf San Francisco Bezug nehmend, das er selbst nie besucht hat:
Zitat:

Manche Städte gibt es nur, damit jemand davon träumen kann, dort hinzukommen. Das Träumen ist manchmal wichtiger als das Hinkommen …
Lwiw ist keine solche Stadt. Nach Lwiw sollte man fahren, nicht nur davon träumen. Aktuell sicherlich nicht, aber sobald der Krieg vorbei ist und man den Ukrainern durch seine Anwesenheit nicht zur Last fällt. Zu lange zögern sollte man jedenfalls nicht: Vor dem Hauptbahnhof ist in den letzten Jahren schon ein langes Stück Kopfsteinpflaster durch besser befahrbaren, aber sehr langweiligen Teer ersetzt worden. Und wenn man es nicht mehr rechtzeitig schafft: In Kurkows Roman immerhin werden uns die Kopfsteinpflaster von Lwiw für alle Zeiten erhalten bleiben.

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