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--- Georg Heym - Der Dieb, ein Novellenbuch

LX.C - 16.01.2007 um 11:27 Uhr

Vorweg, Heyms postum (1913) veröffentlichte Sammlung ist nichts für zarte Gemüter. "Nur unter größten Bedenken war sein Verleger Rowohlt bereit, das Werk zu drucken, für dessen Schreckensvisionen er sich keinen Leserkreis vorstellen konnte." (aus dem Klappentext) Und tatsächlich schockiert der Inhalt selbst heute noch, wo längst, auch in der Literatur, fast alle Tabus gebrochen sind, mit seinen offenen Gewaltdarstellungen. Doch tut man dem Werk unrecht, wenn man es darauf reduziert. Ebenso, wie diese Rezension diesem Buch nicht gerecht werden kann. Versuchen wir es trotzdem. Bei Georg Heyms "Der Dieb, ein Novellenbuch" handelt es sich um einen kleinen Band expressionistischer Kurznovellen: "Der fünfte Oktober", "Der Irre", "Die Sektion", "Jonathan", "Das Schiff", "Ein Nachmittag" und "Der Dieb". Allesamt sind Porträts von Außenseitertypen, deren aufgestauter Lebenshass entweder in physische Gewalt umschlägt oder die an der psychischen Gewalt einer kalten Umwelt zugrunde gehen. Was der Mensch nicht dahinrafft, erledigt schließlich die Natur. Doch alle, ob nun verroht oder sensibel, scheinen sie eins zu suchen: Halt, Verständnis, Liebe. Der Irre sehnt sich auf seinem Rachefeldzug, in Momenten, in denen ihm seine Schreckenstaten bewusst werden, nach dem verhassten Arzt. Jonathan muss die Sehnsucht nach Wärme und Zuneigung mit seinen zwei Beinen bezahlen. Am abstraktesten wird die Sehnsucht nach Beachtung in der Liebe des Diebes zu da Vincis "Mona Lisa", die ihre ablehnende Haltung und Arroganz gegen ihn mit der Vernichtung büßen muss. Vielleicht ein Grundmotiv Heyms (1887-1912), der in seiner Kindheit die Strenge eines aristokratischen Elternhauses erfahren musste. So wird man den Eindruck nicht los, dass man in "Ein Nachmittag" seiner frühen Jugend besonders nahe kommt. Die einzige Geschichte, die ohne körperliche Gewalt auskommt, deren psychische Gewalt vielleicht sogar um so eindringlicher, erdrückender auf den Leser wirkt, da hier ein Wechselbad aus Glück, Warten, Hoffen, Enttäuschung und Leid erzeugt wird, das fast jeder nachzufühlen im Stande sein dürfte. Es bleibt schließlich die Erkenntnis: Wir alle sind Jäger und Gejagte, Täter und Opfer. Das Glück lässt sich ohne Leid nicht erfahren. Und die Ungewissheit, ob man Heyms einziges Prosawerk großartig oder abscheulich finden soll.



Gast873 - 17.01.2007 um 01:10 Uhr

Diese Nachricht wurde von Hyperion um 01:25:41 am 17.01.2007 editiert

Interessanter Tipp, der der Mühe vielleicht verlohnt einen Blick hinter die Kulissen des Werkes zu werfen und womöglich, sofern man dazu in der seelisch-geistigen Lage sich weiß, mit einem psychologischen Scharfblick die Gedanken der Zivilisation zu schulen. Der Mensch ist nur dann Mensch, wenn er leidet. Und die Humanität, und Nietzsche? Wer legt die Axt wem an die Wurzel seiner Geschichte(n)?

Fazit: Ich werde mit diebischer Neugier an der Geschichte teilhaben und "Den Dieb" lesen, selberdenken, quasi assertorisch die eigene Existenz verfluchend. Traurige Metaphysik.

Gruß
Hyperion




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