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-- Prosa
--- Semesterende - Novelle aus dem Sommersemester

Kroni - 29.01.2007 um 13:32 Uhr

Reimund Schaffler hatte einen Nachmittag lang darüber nachgedacht, und war zu einem Entschluß gekommen: Blomberg ging zuweit – er, Reimund Schaffler würde sich ab heute widersetzen, Blombergs Impertinenz in ihre Schranken weisen. Was bildete sich dieser Soziologiestudent eigentlich ein ? Wollte er ein Kloster aus ihrer Wohngemeinschaft machen ?

Dabei hatte alles so gut angefangen in ihrer kleinen Gemeinschaft. Alle waren sie sich einig gewesen, ernsthafte Jünger der Wissenschaften sein zu wollen, sich abzuheben von diesen Gesamtschulabsolventen und Gammelstudenten, die ihrer Ansicht nach nicht an diese Universität gehörten, und von denen man sich fragen mußte, wie sie überhaupt zum Abitur gekommen waren. Ronald Jörges, der Physiker, Barabara Schmidt, die Juristin mit der spitzen Nase und der randlosen Brille, Ansgar Blomberg, der Soziologe und er, der Germanist Reimund Schaffler hatten sich verschworen, diesem verrotteten akademischen Proletariat ein Zeichen entgegenzuhalten. Aufrechtes Studium, interdisziplinäre Kommunikation und gegenseitige Ermunterung und Hilfe sollten in ihrer Wohngemeinschaft herrschen. Und so gestalteten sie ihre Zimmer bewußt einfach als Orte der Kontemplation und Konzentration. Eine Bettstadt, ein Bücherregal, ein Kleiderschrank – und natürlich die große Schreibtischplatte mit der einfachen Baumarkt-Lampe nebst Stuhl. Selbst über die Notwendigkeit eines Besucherstuhles hatten sie diskutiert, gab es doch ein gemeinsames Wohnzimmer mit gemütlichen Sperrmüll-Polstern, Stereoanlage und Fernseher. Doch die unerquickliche Notwendigkeit, immer dann Schreibtischstühle durch den Flur zu schleifen, wenn man sich zusammen über die Korrektur einer Hausarbeit machen wollte, hatte schließlich gesiegt: es gab einen Besucherstuhl in jedem Zimmer.
Einig war man sich auch rasch geworden, die Zimmertüren stets offen zu lassen: Gemeinschaft sollte so geschaffen und bestärkt werden; Blomberg reichte gar fotokopierte Artikel über die legendäre Kommune 1 herum. Der Anblick der arbeitetenden Freunde sollte dem Müden Kraft und Ansporn bieten, Offenheit demonstrieren, Disziplin, aber auch Vertrauen und Taktgefühl schulen. Blombergs gutem Beispiel, der die Zimmertüre nur noch schloß, wenn er sich zur Nacht zurückziehen wollte, folgten bald die anderen drei.
Und so saßen sie denn ab dem Nachmittag über ihre Lehrbücher und Kopien gebeugt, eifrige Studenten bis in die Nacht hinein, bis sie sich im Wohnzimmer trafen oder in der Küche, um über Reimunds Referart über die Gebrüder Mann zu diskutieren, oder die Bücher von Steven Hawkings von Ronald, dem Physiker, erklären zu lassen. Barbara, die Juristin, erläuterte anhand des komplizierten Vertrages über den gemeinschaftlich erworbenen Fernseher die Grundprinzipien juristischen Denkens, und Ansgar Blomberg, der Soziologe, analysierte fortwährend ihre kleine Gruppe, die ihnen zur Familie geworden war.

Und so hatte Blomberg ihn, Reimund Schaffler gerügt, daß er sich der gemeintschaftlichen Arbeit, der interdisziplinären Kommunikation zusehens entzöge. Seit dem Sommeranfang sei Reimund immer später nachhause gekommen in ihre Gemeinschaft, obschon ihn keine akademischen Verpflichtungen hindern konnten. Denn in dieser Gemeinschaft, deren Mitglieder sich auch durch ihre vornehme Blässe von der Solariumsbräune der studentischen Massen abzuheben trachteten, fiel Reimund Schafflers neu erworbene Bräune nur allzu deutlich auf. Er lag offensichtlich faul in der Sonne, während Ansgar, Barabara und Ronald in ihren Studierzimmern sassen, lernten, dachten, sich austauschten.

Anfangs hatte Reimund sich hinter dem Seminar des kommenden Wintersemesters versteckt: die Naturbeschreibungen der Romantik, die er durch unmittelbares Nachempfinden wirklich verstehen wolle. Blomberg hatte dies sogar gutgeheissen, und ihm Kopien über die soziologische Methode der „Teilnehmenden Beobachtung“ mitgebracht, die Reimund Schaffler auch am See überflogen hatte. Doch spätestens bei seiner alsbald eintretenden „verstockten“ Weigerung, über seine Beobachtungen in der Gruppe zu berichten, wurde Blombergs Mißtrauen geweckt. Und Reimund schwieg.

„Reimund ist nicht ehrlich zu uns – und nicht ehrlich zu sich selbst.“ So hatte er Blomberg zu Barabara Schmidt reden hören, als er letzte Woche aus dem Badezimmer kam, und die beiden schon in der Küche beim Morgenkaffee sassen. Er hätte kein Problem damit, wenn Reimund aus ihrem gemeinsamen Projekt aussteigen wolle – nur solle er es ehrlich artikulieren ! Im Bademantel und mit tropfnassen Haaren hatte Reimund dies alles angehört, neben der Küchentüre, die natürlich auch stets offen stand in ihrer Gemeinschaft.
Und so hatte Blomberg begonnen, zu sticheln. Jeden Abend, wenn Reimund nachhause kam, wartete er schon auf die Abstrafung durch jenen unerbittlichen Soziologen. Mal war es ein abschätziger Blick, mal eine vieldeutige Bemerkung über das, woran Reimund denn alles so eigentlich beobachtend teilnehme ... - es war eine rechte Qual geworden für Reimund Schaffler, in diese Wohngemeinschaft zurückzukehren. Ronald Jörges, der Physiker, der sowieso meist verschreckt aussah, wenn man ihn ansprach, und Barabara Schmidt, die spitznäsige Juristin schienen auch von ihm abzurücken, auf Blombergs Seite zu stehen. Neulich abend, als die drei im Wohnzimmer beim „zünftigen Wohngemeinschafts-Skat“ sassen, und er dazustoßen wollte, wurde ihm von Blomberg gesagt, da hätte er hätte früher kommen müssen, ein verspätetes Einsteigen würde die Punktwertung durcheinanderbringen, da wisse man nachher nicht mehr, wer gewonnen und wer verloren hätte. Da wußte Reimund Schaffler, was die Stunde geschlagen hatte.

Es reichte nunmehr. Den ganzen Nachmittag über hatte Reimund nachgedacht. Das Semester war in wenigen Tagen zuende, am Freitag würden überall die Abschlußvorträge gehalten, die Scheine ausgegeben, und abends würde der Campus vor Abschlußfeten zu einer einzigen Party-Meile werden. Und alle würden dann nachhause fahren. Wenn es schon eine Auseinandersetzung geben mußte, dann besser jetzt als irgendwann später.
Im prallem Sonnenschein liegend, arbeitete Reimund eine kleine Rede aus, die er Blomberg halten wollte über Gemeinschaft und Individuum, über Privatsphäre und Menschenwürde. Doch bei jedem Argument, daß ihm in den Sinn kam, überfiel ihn das Zaudern. Blomberg war Soziologe. Alles was Reimund über Soziologie wußte, wußte er von Blomberg. Jedes Argument würde er widerlegen können. Es war zum verzweifeln. Aber Reimund war trotzig entschlossen, daß dies der Abend seines Aufbegehrens gegen Blomberg sein würde. Er mußte handeln, wollte er seine Selbstachtung nicht völlig verlieren – coute que coute !

So war Reimund heute lange am See geblieben, hatte die Sonne hinter den Buchenwäldern verschwinden sehen, und es war schon dunkel, als er in sein kleines blaues Auto stieg, und nachhause fuhr. Es würde gegen elf Uhr werden, bis er die Wohnungstür aufschließen würde. Und Blomberg würde es sich nicht entgehen lassen, widerrum eine Sotisse gegen Reimunds angebliche Faulheit und Assozialität loszulassen. Doch diesemal würde Reimund nicht mehr schweigen, das wußte er genau.
Und so war seine Stimmung, als er die Wohnungstüre aufschloß, eine sehr merkwürdige. Wie vor einer Klausur kam er sich vor. Erinnerungen an Hemmingway´s Geschichten von Boxern und Stierkämpfen purzelten mit Remarque´s Stimmungsbildern aus den Schützengräben durch seinen Kopf.
Der Flur war dunkel. Hinter der verschlossenen Türe gleich rechts hörte man Ronald Jörges ryhtmisches Schnarchen, dann warfen die Schreibtischlampen von Barabara Schmidt und Ansgar Blomberg matte Lichtstreifen auf den Kokosläufer. Hinten links, an Bad und Küche vorbei, die letzte Türe vor dem Wohnzimmer war Reimunds Zimmer. Sowohl die spitznäsige Juristin mußte er passieren, als auch Blombergs offene Tür.
Barabara Schmidt saß in grauem Jogginganzug an ihrem Schreibtisch, die langen schwarzen Haare hinten zusammengebunden, die randlose Brille auf der spitzen Nase, und las in der Neuen Juristischen Wochenschrift. Sie sah Reimund nur kurz an, als er ein „Guten Abend Barabara“ murmelte. Da stand Blomberg schon im Rahmen seiner Zimmertür:
„Guten Abend Herr Schaffler!“ tönte es ironisch, und Reimunds Herz begann zu hüpfen. „Na wie war´s am See im Dunkeln ?“
Reimund fiel nichts ein, als leise guten Abend zu sagen, und an Blomberg vorbei in sein Zimmer zu treten. Die Tür stand offen, wie immer. Er legte seine Segeltuchtasche auf die kleine Komode, und knipste die Schreibtischlampe an. Blomberg war in den Rahmen von Reimunds Tür getreten, und lehnte sich dort an.
„Sag mal – ich frage mich schon die ganze Zeit, wieso man bis in die Nacht am See rumliegt ... kannst Du mir das mal erklären ?“
Reimund wandte sich um, und sah in Blombergs spöttisches Gesicht. Schweigend nahm er sein Handtuch aus der Segeltuchtasche, und hängte es über die Stuhllehne. Er setzte sich, und zog seine Schuhe aus. Immer noch war sein Kopf wie aus Watte, und sein Herz schlug bis zum Hals.
„Weisst Du, Reimund, ich mach mir natürlich so meine Gedanken ... und hab da mal nachgelesen!“ Ansgar Blombergs Augen begannen zu funkeln. Jetzt würde gleich eine saftige Pointe kommen. Reimund wußte, daß er jetzt handeln mußte – jetzt oder nie.

Er stand auf, und zog sich sein tshirt über den Kopf.
„Hüpsch braun geworden bist Du ja – gehst Du eigentlich auch ins Solarium ?“ spottete Blomberg weiter, und wollte gerade fortfahren, da zog Reimund seine kurze jeanshose aus, und stand pudelnackend vor dem Soziologen – im Schein der Schreibtischlampe.
Ansgar Blombergs Unterkiefer klappte nach unten, und er starrte in Reinmunds Leistengegend.
„Das ... das ... also ...“ Blomberg verhaspelte sich und mußte schlucken. Reimund ging einige Schritte auf ihn zu, lehnete sich mit ausgestrecktem Arm an den Türstock, und stand – nackig – nur noch eine Armlänge weg von Ansgar Blomberg, dessen Augen nach wie vor über Reimunds nackten Leib hoch und runter liefen. Er hatte sich immer noch nicht gefasst.
„Rühr mich nicht an!“ kreischte er schließlich unvermittelt, und wich in den Flur zurück, wo er mit dem Rücken die Deckung der Wand suchte. Barabara Schmidt kam aus ihrem Zimmer - „Ist was ?“
„Da – guck hin ! Guck Dir das an ! Sogar rasiert hat sich das Schwein ! Untenrum rasiert!“ Barbara Schmidt rückte ihre Randlose Brille zurecht, und guckte gehorsam hin.
„Na und ?“ fragte sie Blomberg.
„Steht der da, dieser ... dieser ...“ Ansgar Blomberg fand einfach kein passendes Wort mehr „dieser Mensch, und stellt sich da nackt vor mir hin! Das ist Exhibitionismus!“ Blomberg keuchte.
Barabara Schmidt räusperte sich, schob abermals ihre randlose Brille zurecht, und begann dann mit ihrer hellen ruhigen Stimme auseinanderzusetzen, daß Nacktheit an sich weder sittenwidrig noch verboten wäre, insbesondere kein Exhibitionismus, da dieser Straftatbestand eine erhebliche sexuelle Handlung voraussetze, die sie, Barabara Schmidt, bislang an Reimund Schaffler nicht wahrnehmen könne. Sie sei nun mal Juristin, und als solche könne sie nichts unrechtes entdecken. Und wenn er, Ansgar Blomberg, als Soziologe noch nie einen nackten Mann gesehen hätte, dann täte er, Blomberg, ihr – Schmidt – leid, aber da könne sie auch nichts dran ändern, und bräuchte das auch nicht. Jetzt würde er, Blomberg, ja sehen, wie ein nackter Mann aussehe, und überhaupt wäre es seine Idee gewesen mit den grundsätzlich offenen Türen.
„Für ein solches Theater kurz vor Mitternacht sehe ich jedenfalls keinerlei Veranlassung!“ schloss sie mit Nachdruck. Sie hatte inzwischen ihre Arme in die Hüften gestemmt, und sah Blomberg verärgert an.
„Könnt ihr nicht mal Ruhe geben in dem Puff hier ???“ das war Ronald Jörges, dessen verschlafene Stimme durch seine Zimmertür klang.

Ansgar Blomberg war am Ende. „Mit Euch bin ich fertig“ brachte er noch hervor, dann stürzte er in sein Zimmer, und schlug die Tür hinter sich zu. „Ruhe verdammt !“ schrie Jörges, der Physiker, nochmal aus seinem Bett. Reimund stand immer noch nackend im Türrahmen, hielt sich immer noch lasziv mit einer Hand am Türstock fest, und grinste. Barabra Schmidt sah ihn an, schüttelte kurz den Kopf und ging zu ihrer Zimmertür. Dann wandte sie ihren Kopf noch einmal zu Reimund um.
„Weisst Du, was Du mich kannst?“ frage sie, und begann ihrerseits zu grinsen, worauf Reimund leise zu lachen begann. Dann beugte sich Barabara Schmidt, die noch immer mit dem Rücken zu Reimund stand, leicht vor, zog ihre graue Jogginghose herunter, und ließ vor Reimund einen Moment lang ihren blanken Popo aufblitzen, bevor auch sie in ihrem Zimmer verschwand, und die Tür leise hinter sich verschloss.
Auch Reimund zog sich jetzt in sein Zimmer zurück, setzte sich auf seinen Schreibtischstuhl und lachte weiter leise in sich hinein. Es gab wenige Tage in den letzten Jahren, an denen er sich so glücklich gefühlt hatte, wie heute.




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