Zitat:Zitat:
1) daß Adorno auch vor Auschwitz kein Gedicht schreiben konnte.
Adorno erlaubte sich das Verdikt, nach Auschwitz könnten überhaupt keine Gedichte mehr geschrieben werden, was Imre Kertez als moralische Stinkbombe bezeichnet. Woraus man nur sieht, daß der Größenwahn der Kritiker dem der Lyriker nicht nachstehen muß.
1943Karl - 19.06.2008 um 19:15 Uhr
Diese Nachricht wurde von 1943Karl um 19:29:42 am 19.06.2008 editiert
Diese Nachricht wurde von 1943Karl um 19:28:56 am 19.06.2008 editiert
Lieber Matze,
wohl wahr, wohl wahr.
Wenn ich dich richtig verstanden habe, missbilligst du Wortspielereien. Ich hingegen glaube, dass gerade durch creatives Spiel neue und ungewohnte Zusammenhänge entstehen können, die allein durch analytisch-kognitive Arbeit nicht ermöglicht werden können.
Ich meine nicht, das Tastende sei etwas Besonderes an deiner Schreibweise. Du kombinierst nach meinem Empfinden viel Wissen zu neuen vorläufigen Erkenntnissen. Aber da alle Erkenntnisse vorläufig sind, müssen doch alle Suchenden so vorgehen.
Dein Schreiben zeichnet sich vor allem durch reichhaltige Detailkenntnis aus.
Über eine neue Ästhetik-Diskussion würde ich mich auch sehr freuen.
Gruß
Karl
Matze - 20.06.2008 um 08:17 Uhr
Lieber Karl,
gerne.
Zitat:
[size=1] Über eine neue Ästhetik-Diskussion würde ich mich auch sehr freuen.
Die écriture automatique von Breton, Soupault, Aragon hat mich verführt und tief geprägt. Das war eine Freiheit des Ausdrucks, die ich zuvor nicht kannte. Bücher stehen nicht mit dem Rücken zur Wand. Solange dieser Grundsatz des ordentlichen Bibliothekswesens gilt, muß man sich keine Sorgen machen. Begriffe wie „Klassiker“ oder „Meisterwerk“ stammen aus dem Bildungsbürgertum; sie implizieren eine Lesehaltung der Ergriffenheit oder Bewunderung, der wir nicht mehr trauen. Selbst Germanistikstudenten flüchten sich gern in Ironie und sprechen von „Höhenkammliteratur“, wenn sie die Leitzordnerliteratur von Goethe, Kafka oder Thomas Mann meinen. Im Grunde haben uns die Vorgenannten nichts mehr zu sagen, ihre Relevanz ist der Glaube daran, daß ihre Schriften zeitlose Werte enthalten. "Die Geburt des Lesers ist zu bezahlen mit dem Tod des Autors", forderte Barthes in seinem Text »Der Tod des Autors«. Er erklärte alle Leser für verrückt, die erst eine Biografie des Autors wälzen, um einen Roman zu verstehen. Der Text, das "Gewebe von Zeichen", könne für sich selbst sprechen und brauche keinen "Autor–Gott" zur "Fixierung des Sinns". Michel Foucault legte nach mit der Frage "Wen kümmert´s, wer spricht?" und stellte lakonisch fest: "Man kann sich eine Kultur vorstellen, in der Diskurse verbreitet würden, ohne daß die Funktion des Autors jemals erschiene." Eine Kultur, in der Romane keine Autorennamen tragen. Der Bildungsbürger, bisher geborgen in der gesellschaftlichen Mitte, ist eine aussterbende Spezies. Die künstlerischen Beobachtungskuppeln sind ins Wanken geraten und im Verschwinden begriffen. Die Berserker stehen am Pranger, das Erhabene ist wieder gefragt. In Krisenzeiten soll wenigstens die Kunst Halt geben. Das Abstrahieren von äußerlichen Lebensprozessen auf die Existenz, auf das nackte Dasein, das die Existenzialisten vor über einem halben Jahrhundert vom modernen Menschen gefordert hatten hat zwangsläufig stattgefunden. Mit der Bestimmtheit, mit der das globale Erklärungsmodell Arbeit aus der Gesellschaft verschwindet, finden sich die literarischen Figuren vor diese tiefste, diese philosophischste Aufgabe gestellt: ein ganzer, ein glücklicher Mensch zu sein, jenseits aller Zuschreibungen und Lebensläufe. Wenn die Arbeit abgeschafft wird, rückt das Leben in den Mittelpunkt. Was für eine Literatur entsteht aber dort, wo der Ort der Kunst, die einst so betriebsamen Schreibstuben, Seminare, Modeateliers, Designbüros, selber zum Unort geworden ist, wo der Intellektuelle die Gesellschaft nicht mehr bloß beschreibt, sich über die Ränder seiner gesicherten Existenz beugend, sondern selber an ihre ausfransenden Ränder geraten ist? Wo zuletzt auch die Ratio schlicht wegrationalisiert wird?
1943Karl - 20.06.2008 um 18:37 Uhr
Ja, lieber Matze,
wie immer zunächst meine Bewunderung für deine Zeilen.
Auf die Zeit, in der das Leben in den Mittelpunkt rückt, bin ich auch gespannt. Ein wenig davon kommt demnächst als Rentner auf mich zu. Allerdings ist die Rente auch immer noch Folge der Arbeit.
Ich würde zwar nie auf die Idee kommen, die Autoren-Biografie vor dem Roman zu lesen. Aber während des Lesens habe ich schon so meine Phantasien über das Leben des Autoren, da ich absolut sicher bin, dass in jedem Roman Autobiografisches stecken muss. Hat doch jeder Autor in seinem Leben seine ganz eigene Wahrnehmung gelernt. Und menschliche Wahrnehumg ist unabhängig von der jeweiligen Biografie aus meiner Sicht nicht denkbar.
Gruß
Karl
Matze - 21.06.2008 um 06:25 Uhr
Lieber Karl,
Zitat:
Allerdings ist die Rente auch immer noch Folge der Arbeit
Der Begriff "Arbeit" verweist darauf, daß auch das real Alltägliche, Kranke und Häßliche, das Unprofessionelle und gegen die Norm Verstoßende, kurz: das Scheitern immer erst hergestellt, also inszeniert werden muß. Das kleine subversive Moment ist die Pflege des Nichtperfekten und Individuellen in einer nach Perfektion strebenden Leistungsgesellschaft. Es fällt auf, daß die wenigsten Schreiber der Jetztzeit keine wahren Romantiker sind, ihre Sendung aus dem Nirwana der privaten Rückzüglichkeit ironisch oder gar zynisch meinen. Vielmehr herrscht seitens der Traumwandler ein vergnüglicher Ernst oder eine große Ergebenheit gegenüber den imaginären Welten vor. Wie jedes künstlerische Artefakt sind diese Texte genauso ästhetische Verarbeitungen von realen Erfahrungen wie Realitätwerdung von ästhetischen Erfahrungen. Da wird sich eine Welt sowohl aus dem Konsum von HipHop–Videos, Comiclektüren, Action– und Pornofilmen zusammengezimmert, wie ihr ein Gefühl sozialer Ausweglosigkeit zu Grunde liegt. Hier drückt sich nichts aus, hier wird sich artikuliert. Nachdem die Beziehungsalgebra durchgerechnet wurde, alle sexuellen Spielarten diesseits der Liebe und jenseits aller Lüste erkundet worden sind, erübrigen sich die Diskussionen über das Phänomen eines obsessiven Onanisten wie Houellebecq oder die Ereiferung über das Porträt eines perversen Nihilisten in American Psycho von Bret Easton Ellis (Ellis, who the fuck is Ellis?). Er treibt Versteckspiele mit dem eigenen Ich, indem er den Schönheitskult einer Celebrity–Gesellschaft porträtiert. Hier existiert allenfalls das Problem: die Ambivalenz zwischen gelebtem Leben und literarischer Selbstausbeutung. Es gibt Autoren, die brüsten sich mit ihrer erfundenen Holocaust–Biografie, andere parlieren mit den Geschichten vom reuigen Sünder, der aus seiner selbstverschuldeten Abhängigkeit den Weg in die Normalität zurückfindet. Dichtung und Wahrheit sind nicht immer sauber zu unterscheiden, und auch in die reine Fiktion geht stets ein Stück Realität des Autors mit ein. Doch weil auch die Wirklichkeit selbst zunehmend den Charakter einer Reality–Show annimmt, erfreut sich das Genre der Lebenserinnerungen besonderer Aufmerksamkeit. Erinnerungen besitzen stets einen stark fiktiven Anteil. Das Gedächtnis produziert seine eigene Wirklichkeit. Daß Schriftsteller ihre Person in mystische Nebel hüllen, ist eine beliebte – und legitime – Marketingstrategie, daß sie ihr Leben erfinden, innerhalb der literarischen Genres durchaus erlaubt. Wirklich bedroht vom gesellschaftlichen Abstieg ist hier niemand, genuine Angst davor sucht man ebenfalls vergeblich. Es regiert ein Gefühl diffusen Unbehagens, das sediert werden möchte.
Gast873 - 21.06.2008 um 12:48 Uhr
Vielen Dank Matze, dass du mir keine Antwort gegeben hast, denn um zu beweisen, dass Adorno nicht Gedichte schreiben kann, braucht man empirisches Material. Aber ich rufe etwas in Erinnerung und helfe dir auf die Sprünge, dass er ein Musiker und Musikwissenschaftler war, d.h. er verstand mehr von Gedichten als manch ein Schreiberling. Gedichte sind wie Musik, „der Musik ist eine Urkraft und ein tiefer Heilzauber eigen, mehr als jede andere Kunst vermag sie an die stelle der Natur zu treten und sie zu ersetzen“ (Hermann Hesse).
Die Unterstellung „nach Auschwitz“ hättest du wohl gerne? Aber Adorno meinte es sei nicht möglich ein „schönes“ Gedicht nach Auschwitz zu schreiben, und Celan schrieb Gedichte mit, nicht gegen Adorno. Es war fortan möglich Gedichte zu schreiben, aber kein rosa-rotes Gesülze, sondern ernsthafte Lyrik
Und nur noch ganz kurz zu erwähnen, dass du zu Punkt zwei sowieso nichts zu sagen hast, weil die ästhetische Debatte nie aufgehört hat zu existieren, sie findet täglich statt im wissenschaftlichen Betrieb, mit Ernst, und da du eh Baumgartens „Aesthetica“ Shaftesbury, Burke, Moritz, Kant, Schiller, Luhmann, Zizek, Hohl, Nietzsche nicht liest (oder doch, aber zeige es dann bitte!), kannst du dich da nicht einbringen, außer in sub-jektiven Meinungsäußerungen, die hast du freilich, aber die hat die Tante Emma auch. Von außerhalb als Zaungast hast du keinen Einfluss auf die Ästhetikdebatten, du erreichst nichts mit deiner Meinung.
Ich habe mich jedoch in einem Punkt getäuscht: Ich dachte immer in diesem Thread macht sich einer über einen lustig, der seinem eigenen Thread-Titel alle Ehre macht. Aber jetzt weiß ich, dass par example Alter manchmal auch was mit Weisheit zu tun hat. Nicht schlecht geschmeichelt.
Gruß,
der Kunsttischler
Matze - 21.06.2008 um 13:53 Uhr
Lesen könnte helfen. Einfach mal die Replik von Imre Kertez nachlesen.
Zitat:
Vielen Dank Matze, dass du mir keine Antwort gegeben hast, denn um zu beweisen, dass Adorno nicht Gedichte schreiben kann, braucht man empirisches Material. Aber ich rufe etwas in Erinnerung und helfe dir auf die Sprünge, dass er ein Musiker und Musikwissenschaftler war, d.h. er verstand mehr von Gedichten als manch ein Schreiberling. Gedichte sind wie Musik, „der Musik ist eine Urkraft und ein tiefer Heilzauber eigen, mehr als jede andere Kunst vermag sie an die stelle der Natur zu treten und sie zu ersetzen“ (Hermann Hesse).
Daß Adorno nicht komponieren konnte, ist nachhörbar, er fällt ja noch hinter Schönberg zurück.
Ne, neh! „Gedichte sind wie Musik“, geht’s noch. Das 19. Jahrhundert neigt sich dem Ende zu, die Romantik pfeift auf dem letzten Loch, und ihr Widersacher, der psychologische Milieuroman, ist auch nicht mehr ganz frisch; ebenso die Grenzerfahrung des Sublimen, umfassende Mobilisierungen des Daseins, Leben zwischen Humanität und Animalität, das, was Freud als "inneres Ausland" bezeichnet hat.
Zitat:
Und nur noch ganz kurz zu erwähnen, dass du zu Punkt zwei sowieso nichts zu sagen hast
Auch hier: Lesen könnte helfen. Hatte leider die 2. Beim zitieren vergessen: Woraus man nur sieht, daß der Größenwahn der Kritiker dem der Lyriker nicht nachstehen muß.
Der Grundverdacht der Literatur lautet: "Nichts ist, was es zu sein scheint! " – Ihre Essenz: "Nichts ist, wie es sich selber darstellt." Was wir erleben und wie wir davon erzählen, ist immer schon literarisch geformt Der Protest gegen die ideologisch eingeschüchterte Wahrnehmung ist das entscheidende Charakteristikum einer ästhetischen Weltsicht; und Schriftsteller ziehen die Erfahrung der Ambivalenz konsequent ins Zwielicht. Die Zeit der verwehten Originaldichter ist vorbei, niemand vertraut der genialischen Begabung, es gibt immer mehr Schreibschulen, der Schriftstellerberuf wird Raum akademisch. Dieselbe Bewegung zwischen Natur und Geist vollzieht sich in der Metaphorik und den metamorphotischen Vorgängen der Literatur: nämlich ein ungeheurer Sprung vom Sinnlichen als Zeichen ins Unsinnliche als Bezeichnetes. Satz für Satz entstammt der Realität und wird Satz für Satz, ohne den geringsten Lebensverlust, Bestandteil eines organischen Bauwerks aus einer ganz anderen, in der Natur nicht vorkommenden, aber dem Vergleich mit ihr standhaltenden atmenden Substanz. Das Vertrauen in die organisierende Kraft der Sprache und die Einheit des Ich, das aus diesen Sätzen spricht, sind die Werte, auf denen der große Stil gründet. Die Literatur steht nicht leer; leer steht nur die Zeit außerhalb von ihr. Literatur ist ewig und stetig und wird immer neu geschaffen. Nun sind Neuerer gefragt, Physiker der Sprache, die mit dem Autor–Ich wie mit der Mimesis aufräumen, diese beiden Mysterien der klassischen Literatur. Vorbei das Verdikt der Realität! Viel ist abzuschaffen – entsprechend lang die Liste der Schuldigen.
1943Karl - 21.06.2008 um 16:06 Uhr
Lieber Matze, lieber Hyperion,
um mich ernsthaft in eure Auseinandersetzung einmischen zu können, fehlen mir ausreichende Szene-Kenntnisse.
Dennoch verfolge ich alles mit größtem Interesse.
Was mein Autoren-Selbstverständnis angeht, ist mein Schreiben für mich jene Probebühne, auf der ich mit Hilfe meiner Fantasie Szenen ausprobieren kann, bzw. meine bescheidene persönliche Realität ausdehnen kann. Manchmal fühel ich mich darüber auch ermuntert, mutiger zu werden.
Außerdem arbeite ich manche Erlebnisse lyrisch auf, um mich meiner Gefühl zu versichern. Das hat selbstverständlich eigentherapeutische Effekte. Ein Teil dieser Gedichte landet in der berühmten Schublade. Ein anderer, von dem ich meine, darunter seien Gedichte mit Inhalten, die andere Menschen mit mir teilen könnten, versuche ich zu veröffentlichen.
Dabei sind dann auch immer wieder Texte über meine Ängste und gleichzeitig über Versuche, mir und anderen Mut zu machen, sich dem "unmenschlichen" Anteil der Zeitströmungen zu widersetzen. (Ich weiß, ich kann den Sozialarbeiter, der ich nun einmal auch bin, nicht verleugnen.)
Gruß
Karl
Matze - 22.06.2008 um 08:57 Uhr
Eine interessante Anregung, lieber Karl, was ist der Hintergrund des Schreibens?
Zitat:
Außerdem arbeite ich manche Erlebnisse lyrisch auf, um mich meiner Gefühl zu versichern. Das hat selbstverständlich eigentherapeutische Effekte.
Wer ist schuld an der Moderne? Flauberts Hyperrealismus? Baudelaires eisgekühlte Sonette? Mallarmé und sein Würfelwurf? Der Detektivroman? Nietzsche? Oder doch das Wein– und Weihrauch–Geplapper der Décadents? Was wäre Europa, seine Literatur, seine bildende Kunst, seine Architektur, seine Philosophie, sein Verständnis des Politischen ohne die Ursprünge in der griechischen Antike und vor allem ihrer Mythologie? Wie können wir heute, in einer Zeit, die nur noch kommerzielle Parameter gelten läßt, bei gleichzeitigem rapiden Ansehensverlust der gesamten Welt der Poesie, wie kann man heute noch Literatur legitimieren?
1943Karl - 22.06.2008 um 18:08 Uhr
Lieber Matze,
Literatur hat doch immer (auch in der Antike) die allgemein menschlichen Themen Trauer, Liebe etc. auf dem jeweiligen Hintergrund ihrer Zeit "aufgearbeitet". Ich wünschte nur, dass sie heute auch das Thema Kommerzialisierung vor allem zum Inhalt macht, und sich ihm nicht weitgehend unterwirft.
Gruß
Karl
Matze - 23.06.2008 um 05:59 Uhr
Zitat:
Ich wünschte nur, dass sie heute auch das Thema Kommerzialisierung vor allem zum Inhalt macht, und sich ihm nicht weitgehend unterwirft.
Das wird sich noch erweisen. Ein kleiner Rückblick: Die Philologie ist als universitäre Disziplin in der Krise wie nie zuvor, zerknirscht fragten sich die Germanisten, ob ihr Fach überhaupt noch einen Gegenstand hat. Vor drei Jahrzehnten haben fortschrittliche Germanisten und Kritiker daran gearbeitet, herkömmliche Dichotomien zu Fall zu bringen: Es sollte keine Grenzen mehr geben zwischen so genannter hoher und so genannter Trivialliteratur. Dieses mehr oder minder erfolgreich durchgeführte Vorhaben rächt sich heute, da die Situation am Literaturmarkt unüberblickbar geworden ist und die Verarbeitung von Werbematerial mehr und mehr an die Stelle kritischer Urteilsbildung tritt. Das Verschwinden von Grenzen und Zuordnungen nützen die Froilenwunder, und wenn sie irgendeine Botschaft jenseits von Girlism und Klamauk haben, dann liegt sie im Ausweis der Ununterscheidbarkeit von Kunst und Kommerz, Original und Kopie, Macht und Widerstand, offizieller Kultur und Underground. Wo Ekstatisches ins beklemmend Hysterische umschlägt winden sich die Girlies in qualvoller Seelenpein. Die Dürstenden werden so heftig von Zuckungen durchgeschüttelt, daß er minutenlang vergeblich versucht, eine Flasche mit dem rettenden Wasser zum Mund zu führen. Kaum erinnert man sich noch an die frühen 1980–er Jahre, an den Widerstand gegen den postmodernen Roman, an Kategorien wie das Authentische, das Negative oder das Plötzliche. Schmerzhaft sind die Erinnerungen an die weinerliche Reflexionsprosa der siebziger Jahre, in der vorzugsweise Studienräte und Schriftsteller mittleren Alters durch Seelenblähungen und Erinnerungslücken gequält wurden. Eine solche diaristische Munterkeit, die fleißig mit Subjektivitäts–Gesten hausieren geht, repetiert nur die flachen Elaborate der Erlebnisdichter aus fernen Zeiten. Die Schwafel–Pose der 1970ger ging über in den Reimhäkelkitsch der 1980er. Zwischen dem Egotrip und der Selbsthistorisierung besteht kaum ein Unterschied. Die Generation der Nach-68er, auch Generation Golf genannt, pflegt den autobiografischen Rückblick. Früh gereift und zart und traurig, umkreisen sie die Jahre ihrer Kindheit, die zu den wirtschaftlich fettesten der alten Bundesrepublik gehörten und ihre Chronisten offenbar ausgesprochen milde stimmen. Es herrscht der Typus des bleichen Sensiblen vor, des hermaphroditischen Träumers, der hoch über den irdischen Banalitäten schwebt. Das Leben hat immer Recht, behauptet die so genannte Popliteratur, und in nachtragendem Gehorsam finden die neuen Debatten nun immer wieder in jenem Zwischenreich statt, wo sich Kunst und Leben mischen. Es herrscht eine Verengung der Perspektive auf das Gängige, die Wiederholung des Erfolgs vom letzten Jahr durch Imitation. Pop zelebriert die Ankunft des Neuen als permanente Selbstfeier. Das fängt bei den Autoren an, geht über die Lektorate und Verkaufsabteilungen in den Verlagen, bis zu den Buchhändlern und den Kritikern und Medien. Jedes Menschenleben hat seine Spezifika, da die meisten Verlage Manuskripte von kreativen Zeitgenossen, die es in einem künstlerischen Genre bereits zu einer gewissen Bekanntheit gebracht haben, selten ablehnen, kreisen auf dem Markt unzählige Memoiren von Halbvollendeten, und man fragt sich, ob sie mit subversivem Augenzwinkern oder vielleicht doch nur aus übersteigertem Mitteilungsdrang in die Öffentlichkeit gebracht wurden. Hierzulande findet Popkultur literarisch vornehmlich auf Stuckrad–Barre–Niveau statt. Die wichtigsten Werke von gefeierten angelsächsischen Pop–Intellektuellen wie Nick Tosches, Peter Guralnick, Stanley Booth, Michael Bracewell, Richard Meltzer oder Nick Kent waren hingegen noch nie in deutscher Sprache erhältlich. Der Druck der Bestsellerlisten und Einschaltquoten, schafft im Unterbewusstsein, eine unangenehme Kombination aus Kommerzfixierung und Opportunismus. Es gibt die Laufburschen der postmodernen Medientheorie, die eine Schreibmaschine zu Brei schlagen und behaupten, sie hätten gerade das Betriebsgeheimnis der Öffentlichkeit gelüftet. Es gibt den Selbstbewirtschafter, der sich am inszenierten Lebensekel labt – ebenso wie den Skandalkasper, der mit Nacktheit den Spießer erregen will, obwohl diese längst Bestandteil der Konsumgüterindustrie geworden ist. Es zieht eine kulturelles Biedermeier herauf: Zusammenhalten, Optimismus zeigen, konkrete Probleme lösen, kein Streit, private Vorsorge verbessern et undsofort. Die Gefahren kommen von draußen und lähmen eher, als daß sie öffentliches Denken und Fantasie hervorbringen. Eigentlich beste Zeiten für Bücher, die nach Hintergründen fragen, latente Kontroversen öffentlich machen, unerwartete, originelle Geschichten auf neue Art erzählen und den Blick über den Zaun werfen. Der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur fehlt Mut zum Widerspruch, rigoroser Subjektivität und gelebter Radikalität – politisch und ästhetisch gesehen. Zu viel nettes, routiniert gut geschriebenes Mittelmaß, das nicht allein die Gegenwart, sondern auch das künstlerische Erbe in zuckrige Schokolade verwandelt. Eine Ausfaltung der Pop–Ironie stellt lediglich der Einsatz für restaurative Anliegen dar, der mitunter die Grenze zum Borderline–Journalismus streift und insoweit selbst eine Grenzüberschreitung wäre. Fakt und Fiktion laßen sich ja nicht nur in ihren Abrechnungen mit der Literatur schwer trennen. Um das Ergebnis zu goutieren, braucht man eine Affinität zu jener sehr deutschen Gegenwartsliteratur, die einerseits ihre Hausaufgaben machen will und andererseits danach trachtet, den Leser für die Pflichtübung zu entschädigen – in diesem Fall mit leicht abstrusem Plot, detailfreudigem Sex und sprachlicher Schaugymnastik. Das ist Schriftstellerlebensgeschichtskitsch auf Kosten der seriösen Literatur. Der Begriff ‚Tour’ hat bei den Pop–Literaten eine neue Bedeutung bekommen. Diese Autoren befinden sich auf einer Art Dauer–Stipendiums–Tournee. Vom Überwintern in der Künstlervilla in Roma, wo sie sechs Monate verbracht haben, reisen sie weiter nach Wiepersdorf, wo sie im dortigen Schloss ein weiteres halbes Jahr verbringen werden. Dauerhaft geförderte Künstler laßen sich die Lebensläufe von ihren Sponsoren vorgeben. Sie verzichten auf etwas, was in der herkömmlichen Künstlerbiografie einmal unverzichtbar war: auf einen eigenen, meist leidvoll durchgestandenen Lebenslauf. Überall packen sie ihren Klapprechner aus und treiben ihre Texte ein Stück weiter. Sie leben bei freier Kost und Logis und bekommen außerdem ein monatliches Salär. Das Problem ist nicht mehr, ob, wie und wie lange ein Künstler mit sich selbst ringt, bis er ein Kunstwerk schaffen kann, sondern, daß der Sozialstaat dem Künstler das Ich–Problem abnimmt und ihm dafür eine Jugendverrentung ins Nest legt. Das, was bei dieser Förderung herauskommt, ist ambitioniertes Mittelmaß. Die Generation Golf und ihre geistigen Trabanten haben eine bestimmte Art Text hervorgebracht, der zwischen Kulturkritik und Autobiografie pendelt, wobei ihr Ich mangels Erfahrungsgrund ohne Kontur blieb. Dies kulturellen Ich–Kritiker schauen sich beim Leben zu und sehen ununterbrochen, was an ihnen generationstypisch ist. Nur auf diesem Feld scheint Aufmerksamkeit, scheinen Geld, Glück und Ruhm noch erreichbar zu sein. Und was ist ein Skandal, wenn nicht die äußerste Verdichtung von Aufmerksamkeit?
Gast873 - 23.06.2008 um 13:53 Uhr
Zitat:
der Schriftstellerberuf wird Raum akademisch
sehr traurig, übrigens.
das forumgeschwätz als uni-infantile disziplin ist in der krise wie nie zuvor, als literarischer dünnschiss, aber immerhin literarisch. nein! die illusion kann ich getrost nehmen, clownerie und deppengeschreibe kann jeder, aber schreiben nicht, vorausgesetzt man habe was zu sagen.
Gewöhnlich glaubt der Mensch
wenn er nur Worte hört,
es müsse sich dabei
doch auch was denken lassen!
Johann Wolfgang von Goethe
Gruß,
Hyperion
Matze - 23.06.2008 um 14:37 Uhr
Zitat:
die illusion kann ich getrost nehmen, clownerie und deppengeschreibe kann jeder, aber schreiben nicht, vorausgesetzt man habe was zu sagen.
Die Kulturpraktik steht nicht solitär da, sie ist Teil einer Gesamtinstallation, zu ihrer Bewertung kann ich genauso gut Vergleiche mit populärkulturellen Medien wie Kino, Fernsehen, Musik herbeiziehen. Es gibt keine E– und U–Kunst mehr, keine high– und low–brow–culture. Literatur muß sich mich nicht mehr bloß an sich selbst messen laßen, sondern in erster Linie an allem andern. Ich muß zuhause nicht die große Bibliothek der Weimarer Klassik stehen haben, um ein Gedicht für mich fruchtbar machen zu können, nein, ich brauche ein Sammelsurium an assoziativ passenden Filmen, Musikstücken, zeitgenössischen Techniken undsofort. Die Vergangenheit und die Geschichte eines Stückes interessiert mich höchstens noch in einem sehr geringen Masse, ist aber für die Verfertigung meiner Kritik nicht wichtig. Ich blicke nicht vor mich und nicht hinter mich, sondern um mich. Kritik im Panoramablick der Globalisierung. Das Leben als Serie von Parallelschicksalen. Die vermeintlich individuelle Figur als Produkt mehrerer Realitätsfragmente. Portfolio–Existenzen. Linearität ist tot. Ein einzelner Song von Phillip Boa ist als Schlüssel möglicherweise genauso wichtig wie der ganze Goethe. Auch die Kritik selbst kann – oder muß – innerhalb dieses Wahrnehmungsgeflechts keine isolierte Existenz mehr führen. Es bleibt das schlichte, aber ehrliche Eingeständnis, daß Kunst und Kritik immer in Symbiose leben, daß es das eine ohne das andere nicht gibt, daß die Kunst Kritik zum Zweck der Öffentlichkeitsarbeit, der Multiplikation, manchmal auch der Skandalisierung braucht, und daß der große Reiz an der Kritik darin besteht, im inspirierenden Nahkontakt mit der Kunst existieren zu dürfen. Alles andere wäre gelogen.
1943Karl - 23.06.2008 um 21:44 Uhr
Lieber Matze,
das war ja ein intellektueller Rundumschlag. Und ich meine, so weit ich es beurteilen kann, ist deine Kritik durchaus berechtigt. Was schlägst du vor? Welche Kriterien muss z.B. eine literarisch gute Kurzgeschichte erfüllen. Was erwartest du von einer Erzählung, von einem Gedicht?
Welche Art "moderner" Literatur dir nicht gefällt, vermag ich anhand deiner bisherigen Ausführungen relativ gut erkennen zu können.
Ich bin auf deine Antwort gespannt.
Herzliche Grüße
Karl
Matze - 24.06.2008 um 06:30 Uhr
Lieber Karl,
Zitat:
Welche Kriterien muss z.B. eine literarisch gute Kurzgeschichte erfüllen.
Die Kurzgeschichte war ein Reflexionsmodell auf das Industriezeitalter. Eine gute Kurzgeschichte ist sehr selten geworden – oder, wie ich zu meiner Schande gestehen muß, erinnere ich mich nicht an eine aus den letzten Jahren, die über das hinausgeht, was über Hemingways „In Our Time“.Im alten Griechenland war der günstige Augenblick ein Gott: Kairos, der Moment, in dem Entscheidendes geschieht, was weder vorher noch hinterher so hätte geschehen können. Maetre Bourdieu demonstrierte, was die einen an den anderen auszusetzen haben, an dem Spiel um Distinktionsgewinne teilhat, das die kulturelle Form der aktuellen Klassenkämpfe darstellt. Alles, was Adorno über die Kulturindustrie, über den Kunst– und Musikgeschmack der Massen geschrieben hatte, war als wahrhaft kritische Theorie verloren zu geben. Niklas Luhmann arbeitet scharf Ideen aus, die Freud 1925 über "Die Verneinung" formuliert hatte: einen zentralen Mechanismus der gesellschaftlichen Systembildung. Verneinung, Negation (Kritik) erlaubt, adverse Themen und Informationen ins individuelle Bewußtsein respektive die gesellschaftliche Kommunikation aufzunehmen und zu bearbeiten – die endgültige Vernichtung dagegen folgt der berühmten Hamburger Devise: gar nicht erst ignorieren. Luhmanns Beobachtungen gelten auch für die kulturelle Opposition. Verrisse bereiten die Kanonisierung vor. Seine Beobachtungen haben ein allgemeines Kontingenzbewusstsein befördert, das die ästhetische Kritik gründlich entmächtigt hat. Es ist eben unmöglich, ein Buch, ein Bild, ein Musik– oder Theaterstück, einen Film durch scharfe und genaue Kritik aus dem Wahrnehmungsraum wieder zu vertreiben, im Gegenteil, das sind alles Einbürgerungsmassnahmen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts versteckt sich das Göttliche in den Verehrungsritualen der Pop–Literatur, und auch der Kairos hat hier seinen Ort gefunden. Immer wieder geschieht es, daß aus dem Nichts welche auftauchen, die den richtigen Ton zur richtigen Zeit treffen, und alle wissen plötzlich: Das ist es. Diese Magie scheint zyklischen Gesetzen zu folgen: Manchmal kann ein Prinzip, eine Geste, ein Gefühl nach Jahrzehnten wieder richtig sein, obwohl es zwischendurch ganz falsch war. Doch fassen und in Quartalspläne und Umsatzprognosen eintüten kann man den göttlichen Kairos nicht – zum Leidwesen der Plattenindustrie, die seinen Glanz zu verwalten und in Business zu verwandeln hat. Interpretation muß nicht Reduktion auf Eindeutigkeit sein, sie muß das kunstvoll Verdichtete nicht geschwätzig aufblasen zu ausufernder Redundanz. Sie kann auch die Mehrdeutigkeit bewußt machen und sich als hilfreich erweisen beim Verständnis von Strukturen, die sich gerade nicht ohne Rest auflösen laßen in Sätze der Alltagslogik. Die offene Gesellschaft stößt nicht nur auf Widersacher, die von außen kommen. In ihrer Mitte leben Menschen, die der Offenheit und der damit verbundenen Anstrengungen – unendliche Diskussionen oder verschärfte Selbstverantwortung – müde werden. Die Feinde der Freiheit und die von der Freiheit Überforderten sind es, die mich zu einem Bekenntnis bewogen haben. Ich lege es stellvertretend für die Moderne ab und fordere die Leser dazu auf, es mir gleichzutun. Gewiß, das Bekenntnis ist nicht gerade das typische Medium einer Zivilisation, die den Zweifel, die Skepsis und die Kritik kultiviert hat. Aber, bedrängt von vormodernen Glaubensbekenntnissen, sieht sich auch die Moderne, ohne selbst eine Religion zu sein, dazu herausgefordert, durch öffentliche Artikulation ihrer Prinzipien genau das zu leisten, wozu Glaubensbekenntnisse in der Religionsgeschichte immer gedient haben: Selbstvergewisserung und Grenzziehung. Dabei will mein Bekenntnis zur einen Kultur des Abseitigen keines des unverbrüchlichen Glaubens sein, sondern ein Vermutungsbekenntnis. Dieser Vorsicht entspricht, daß die Selbstvergewisserung nicht in ein – sprichwörtlich stinkendes – Selbstlob abgleiten soll. Für die Zukunft des Westens ist es entscheidend, das Augenmerk auf das Privatleben zu lenken und es als Quelle des Selbstbewusstseins zu erschließen. Die Menschenrechte und den Rechtsstaat zu verteidigen, reicht nicht hin. Ausgeblendet wird dabei dasjenige, wofür unabhängige Literatur gut sein soll, zu welchem Zweck also die Rahmenbedingungen des Zusammenlebens geschaffen worden sind: nämlich für die individuelle und höchstpersönliche Suche nach Erkenntnis. Nachdem das Steigerungsspiel die Moderne motorisiert und den Horizont der Möglichkeiten ins Unendliche erweitert hat, ist es dringend nötig, an den Fähigkeiten zu arbeiten, die gewonnenen Spielräume mit Sinn und Verstand auszukosten. Die Talente sind dem Menschen zur Glückssuche mitgegeben, sie müssen gepflegt und vermehrt werden, eine Moral der Selbstentfaltung ist erstrebenswert, wenn die Moral der Selbstbezogenheit zu einer Moral wird, die mich anderen verpflichtet.
Zitat:
Was erwartest du von einer Erzählung, von einem Gedicht?
Ein wirklicher Lyriker weiß, daß er der Sprache das Meiste verdankt. Wenn er ihr folgt, folgt sie ihm. Das merkt man auch, wenn man A.J. Weigoni zuhört (ich beziehe mich auf das HörBuch »Gedichte) bei der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden. Seine Sprache trägt und treibt, und man wird mitgetragen und mitgetrieben. Jede Einzelheit steht nicht für sich, sondern verweist aufs Ganze, steht in einem Zusammenhang und wird in den Dienst einer umfassenden Ausdrucksintention gestellt. Weigoni artikuliert so, als ob er durch jedes Wort auf den Grund der Bedeutung sieht. Das Mondäne vereinigt sich mit dem Musikalischen, der Intellekt mit dem Sinnlichen. Seine Stimme erzeugt eine atemberaubende Intimität. Sie ist weich und schwingend wie der Körper einer Katze, und sie kann kalt leuchten wie Mondschein. Aber vor allem ist sie groß, wenn er leise spricht. Dann bricht sie manchmal und zeigt raue Stellen; sie entzieht sich in Momenten der Heiserkeit, um dann um so schöner wiederzukommen. Nicht nur als Sammler von Sprachblüten ist er eine Gelehrtennatur von idealistischem Fleiß und positivistischem Systemdrang, man muß vor seinem polemischen Talent auf der Hut sein. Weigoni wollte nicht einfach ein weiterer experimenteller Lyriker sein und im Bastelparadies arbeiten, er wollte eine eigene Sprache und hat aus der Analyse der Tradition heraus die Poesie der körperlichen Erfahrung, der Klangrealistik, bei welcher die Energetik des Hervorbringens eines Klangs ebenso freigelegt und existenziell wird wie die Worte und ihr Inneres selber.
Hoffnung auf die Erzählung hatte ich bei der Lektüre im Netz. Doch die so genannte ‚Internetliteratur’ beschert in der elektronischen Kommunikation den Lesern eine Informationsverstopfung, die künstliche Intelligenz geht mit einem Verfall der Fantasie und Intelligenz der Menschen einher. Diese Autoren sind nicht einmal Randfiguren der holzverarbeitenden Industrie. In der Marktwirtschaft ist ihre Literatur ein Sozialfall. Ein Schriftsteller ist jemand, der aus wirklichen Stimmen andere Stimmen heraushört. Das literarische Feld, das durch diese zugleich literarische und politische Gruppierung geprägt war, läßt sich unter dadurch beschreiben, daß seine Zentralfiguren aus ihrem kulturellen Erfolg das Recht zu dissidenten politischen Stellungnahmen ableiteten. In gewisser Weise haben es Publikum, Kritik und Standesorganisationen sogar als den wirksamsten Maßstab des kulturellen Erfolgs gewertet, mit wie abweichlerischen politischen Ansichten man in der öffentlichen Diskussion durchkam, ohne daß einen die eigenen Leute zur Ordnung riefen. Die Autoren sind "Mitarbeiter einer Großindustrie, die hinter einer rational getarnten Kalkulationsmystik ihre Ausbeutung verschleiert", schrieb Heinrich Böll 1969. Unter all den am Produkt Buch Beteiligten ist der geistige Urheber der am schlechtesten Bezahlte. Die singuläre Tätigkeit, die kein anderer leisten kann, wird ökonomisch gesehen am geringsten geschätzt, auch das ist ein Gradmesser für Kultur. Es gilt gegen eine Wand des falschen Bewußtseins anzureden, der Lüge, Leugnung, Unterdrückung, der Spaltung, der Infantilität und zynischen Paralyse, die Kerkerwand des Hochmuts, der erstarrten Potenz, die Glaswand der Unwirklichkeit und die isolierende Wahnwand der Verzweiflung, die zu durchschreiten ist. Literatur zeigt wieder den Entwurf für das, was möglich ist. Wir dürfen die Wörter nicht in Büscheln hinwerfen, so wie sie gerade kommen. Wir müssen Sträuße daraus binden. Ansonsten gehen wir in diesem Ozean aus Wörtern unter. Und anstatt den Zugang zur Kultur zu erleichtern, würde wir ihn nur erschweren. Wenn diese Etüden der Leere gemeint sind, dann hätten die Kritiker Recht, auch wenn es sich um Ausnahmen handelt, nicht selten um Fälle aus der ästhetischen Provinz. Es lohnt sich diesem Affekt nachzugehen, denn in ihm wohnt, wohlwollend formuliert, ein Bedrohungsgefühl, eine symptomatische Furcht. Es ist das Gefühl, daß wir nicht wahllos mit Gedichten, mit Geschichten und Erzählungen verfahren können, weil der Mensch ein selbstinterpretierendes Wesen ist, das ohne Traditionen und Bilder verloren ist. Im Symbolischen steckt etwas von ihm selbst – und wer es zertrümmert, behält nur die negative, die bilderlose Freiheit zurück. Aus der Zerstörung von Harmonien laßen sich neue, zufällige Zusammenhänge konstruieren, welche die diffus versprengte Gleichzeitigkeit der Weltwahrnehmung weit authentischer widerspiegelt und zugleich einem momentanen Gefühl Ausdruck gibt. Es gibt Vater–Sohn–Dramen, Vater–Tochter–Dramen, mit Migranten– und ohne Migrantenhintergrund, Berlin–Romane, Leipzig–Romane, Stipendiaten–Romane, Internats–Romane, von allem etwas, alles beachtlich. Aber richtig begeistert ist niemand. Nicht einmal verärgert. Wir beurteilen Bücher, die sich auf Wirklichkeit berufen, Autobiografien, aber auch "historische Romane" nicht allein nach ästhetischen Maßstäben. Literatur erzählt Fiktionen, erfindet Geschichte und Geschichten. Das Bestreben nach Einfachheit, Halt und Bedeutung wird von Romanen stets besser befriedigt als von der Wirklichkeit. Die Literatur hat eine ethische Aufgabe: Sie hat die ungekämmte, struppige Wirklichkeit zu frisieren, in eine tröstliche Form zu bringen. Niemand würde sie deshalb heute mehr wie einst Platon der Lüge und Täuschung bezichtigen. Was aber, wenn sich die Literatur auf die Wirklichkeit einläßt? Wenn sie reale Geschichte nacherzählen will wie im historischen Roman oder im Drama? Kann sie dann lügen? Maria Stuart und Elisabeth I. etwa waren zum Zeitpunkt ihres Konflikts um einiges älter als bei Schiller – war diese Verjüngungskur nun ein genialer Kunstgriff oder eine Verfälschung der historischen Wahrheit im Dienste des Kitschs?
1943Karl - 24.06.2008 um 09:56 Uhr
Lieber Matze,
zunächst herzlichen Dank für deine ausführlichen und äußerst substanziellen Antworten.
Besonders bei Kurzgeschichten und Erzählungen sind deine Erwartungen nahezu (jedenfalls für mich) unerreichbar. Eine Kurzgeschichte in der von dir erwünschten Güte kommt einer Jahrhundertkurzgeschichte gleich, wenn nicht innerhalt eines Jahrhunderts sich die Erwartungen der jeweiligen zeitgenössischen Kritiker ohnehin derart ändern würden. Ähnlich hoch sind deine Ansprüche an gute Erzählungen.
Ein wenig bescheidener und erreichbarer kommen deine lyrischen Ansprüche daher.
Insgesamt denke ich schon, dass es gilt, sich an Idealvorstellungen auszurichten. Aber sie werden Ideale bleiben, die ich als Ideale gern als richtig anerkennen will.
Herzliche Grüße
Karl
Matze - 25.06.2008 um 05:56 Uhr
Lieber Karl,
da ich nicht den Anspruch habe, Schriftsteller zu werden, bin ein Amateur, weil in dem Wort Amateur das Wort Amour steckt. Seit sich die Literatur gegen Platons Vorwurf der Lüge verteidigen muß, gibt es eine Geheimabsprache zwischen Autor und Leser, die so genannte Fiktionalität. Darin steht, daß die dichterische Rede den Anspruch auf Wahrheitsbehauptung suspendiert. Solange man nicht behauptet, die Wahrheit zu sagen, kann man auch nicht lügen. Als Aristoteles in Abgrenzung zum platonischen Vorwurf der Lüge sein poetologisches Prinzip der nachahmenden Mimesis begründete, ging es ihm nicht um die Imitation der Umgebung zur Überlistung von Fressfeinden, sondern um eine Zielvorstellung, die sich als Interpretation des Wirklichen durch literarische Darstellung beschreiben läßt. Dieses Konzept, das der abendländischen Literaturauffassung bis heute zugrunde liegt, verlangt von der Dichtung selbstverständlich ein gewisses Maß an realistischer Glaubwürdigkeit. Ebenso offensichtlich ergibt sich daraus die Frage, wie viel historische Faktizität in literarischen Texten notwendig, erwünscht oder erlaubt sei. Mit Sicherheit wird jeder Schriftsteller für sich das Recht in Anspruch nehmen, seine diesbezüglichen Entscheidungen in künstlerischer Freiheit zu treffen.
Zitat:
Ein wenig bescheidener und erreichbarer kommen deine lyrischen Ansprüche daher.
Aber nur ein wenig. Die Ausnahmen finden sich einzig in der Lyrik. In der Prosa sind seit Hans Henny Jahnn und Gertrude Stein ohnehin keine nennenswerten Schritte unternommen worden. Ausgehend von neueren Grammatikmodellen, nach denen nicht das Wort oder das Morphem, sondern der Satz als kleinste kommunikative Einheit der Sprache gilt, muß man von Klopstock und Hölderlin bis in die Gegenwart schauen und lesen, wie sich der poetische Umgang mit Satzstrukturen im Laufe der Zeit gewandelt hat. Poesie ist die Kompositionslehre der Erscheinungsformen des Satzes, um ziemlich souverän auch die seriellen Experimente der Konkreten Poesie und selbst die Lautpoesie als von Satzmodellen abhängige Formen der Dichtung auszuweisen. Den Grad der Avanciertheit bemißt man dabei an der Art und Weise, wie die Texte konventionelle Satzerwartungen unterlaufen und sabotieren. Der subtile Kniff dieser Methode ist, daß über die Konvention auch ein direkter Zeitbezug hergestellt wird. Eine verbißene "Verteidigung der Poesie" liegt mir fern; ich schätze die Flaneure unter den Dichtern. Die Ich–Figuren von Holger Benkel, Francisca Ricinski oder A.J. Weigoni spazieren über Straßen und durch Parks, und dabei widerfährt ihnen allerlei Überraschendes und Ungeheuerliches, das wie beiläufig verdichtet wird. Im Moment einer Geste gestaltet diese Lyriker die Würde des Menschen wie der Kreatur. Zu den Propheten gehören nicht. Ihre Dinge bleiben ganz nüchtern die Dinge und sind doch Metaphern. Aus dem Zusammenspiel von alltäglichen Lebenseinzelheiten und wie nebenbei erwähnter Historie entsteht eine Spannung im Text, die über das Gedicht hinausweist, oft sarkastisch, selten pathetisch, immer paradox.
Zitat:
Insgesamt denke ich schon, dass es gilt, sich an Idealvorstellungen auszurichten. Aber sie werden Ideale bleiben, die ich als Ideale gern als richtig anerkennen will.
Einfach allerdings machen sollte man sich diese Angelegenheit nicht. Zunächst einmal sollte man sich wiesengrundsätzlich über das Verhältnis der Literatur zu ihrem Material wundern, der Sprache. Sklavisch gebunden ist diese an jene. Der US–amerikanische Klassiker Henry David Thoreau war der Ansicht, daß es Bücher gibt, die man "auf Zehenspitzen" lesen müsse. Thoreau forderte damit eine besondere Wachsamkeit der Leser ein sowie die Bereitschaft, sich einem Bedeutungsgehalt gegenüber zu öffnen, der dem flüchtigen oder auch bloß ersten Lesen entgeht. Es kann natürlich sein, daß man im Literaturbetrieb besonders eifrig das mach, was Autoren gern machen: einen Berg von Sprachgeröll und Handlungswust vor sich aufzubauen, nur damit sie ihn dann mühsam wieder abtragen können. Literatur als Baggerarbeit. Für die Poesie hat man dann natürlich keine Kraft mehr. Die Krise der Intelligenz ist auch eine Krise des Buches, und es stelle sich die Frage, ob das Buch seinen alten Platz als Träger der Erkenntnis behaupten wird. Auch jene, deren Publikation unbehindert geblieben ist, erreichen nur einen kleinen Teil der Leser, für die sie bestimmt und die ihnen bestimmt sind. Umso verwunderlicher erscheint eine Art von Reflexionsverweigerung in der Literatur. Während Musik und bildende Kunst, selbst Architektur, sich ständig in einem ästhetischen Diskurs befinden, der die Möglichkeiten des Materials immer wieder mit dem Gestaltungswillen der Künstler, den Projektionen und Utopien abgleicht und so erst einen fortdauernden Begriff von Moderne ermöglicht, verharrt die Literatur behaglich vor einem ästhetischen Horizont aus dem 19. Jahrhundert. Schriftsteller sollten ästhetische Debatten führen, das ist ihr Metier. Jede ästhetische Debatte hat auch moralische und politische Implikationen. Parteigänger muß man deshalb noch lange nicht werden.
Flaubert, der in seiner Gegenwart weder große Sujets noch große Gestalten entdecken kann, konstatiert während der Arbeit an seiner »Education sentimentale«: „La beauté n´est pas compatible avec la vie moderne.“ Mit andern Worten: „Wie kann man erzählen, wenn es nichts mehr zu erzählen gibt?“ Flaubert löst das Problem, das sich ihm zunächst als ein inhaltliches stellt, indem er formale Verfahren entwickelt, die es ihm ermöglichen, die Abfolge von Belanglosigkeiten wiederzugeben, als die ihm das moderne Leben erscheint. Er macht seinen durchschnittlichen Protagonisten zum Perspektiventräger und verzichtet darauf, das Geschehen durch einen Erzähler zu kommentieren. Während Flaubert sein Schreiben noch in der Tradition des realistischen Romans sieht, setzt sich Proust bereits vom Realismus ab, dem er vorhält, statt zur Wahrheit subjektiver Erlebniswirklichkeiten vorzudringen – was seiner Auffassung nach bedeuten würde, diese im Werk zuerst hervorzubringen –, nur die äußere Realität in stereotypen Formeln zu erfassen. Robbe–Grillet, der Wortführer des Nouveau Roman, nimmt diesen Vorwurf auf: Der realistische Schriftsteller richtet sein Schreiben an den Schemata aus, die seine Leser von der Wirklichkeit haben. Deshalb muß der moderne Autor auf herkömmliche Kategorien wie Figur und Geschichte verzichten. Das traditionale Erzählen erscheint hier als eine entleerte Konvention – ein Argument, mit dessen Hilfe sich der realistische Roman der Gegenwart pauschal der Unterhaltungsliteratur zurechnen ließ. Dem als Programmatiker der neuen Schreibweise auftretenden Autor wird man die polemische Zuspitzung seines Arguments nicht verargen.
1943Karl - 25.06.2008 um 16:52 Uhr
Lieber Matze,
du bezeichnest dich (in aller möglichen Bescheidenheit) als Amateur. Als Essayist scheinst du mir aber keineswegs amateurhaft zu schreiben. Übrigens amor (in amateur enthalten): Deine Liebe zu einer gewissen (vielleicht schon "verstorbenen")Literatur müsste doch eigentlich ausreichen, Literatur zu schaffen.
Was du über Lyrik schriebst, gefiel mir. Ich liebe auch die Flaneure unter den Lyrikern.
Kennst du Manfred Enzensperger? Wenn ja, würde mich deine Kritik seiner Texte interessieren.
Bis auf Weiteres alles Gute
Karl
Matze - 26.06.2008 um 05:58 Uhr
Lieber Karl,
es ist keine Bescheidenheit. In der Bedeutung des Lehnworts aus dem Französischen, wo der "amateur d´ art" den kenntnisreichen, enthusiastischen Liebhaber der Künste meint, bin ich ein Dilettant. Damit möchte ich mich von einem so genannten "Fachmann" unterschieden. Auch Fachfrauen, die ich kennenlernte, halte ich für engstirnig, seelisch unberührbar und inhuman. Der Fachmann hat ausgespielt. Gefragt sind Menschen mit Verknüpfungskompetenz. Vor allem im intellektuellen Bereich.
Zitat:
du bezeichnest dich (in aller möglichen Bescheidenheit) als Amateur. Als Essayist scheinst du mir aber keineswegs amateurhaft zu schreiben. Übrigens amor (in amateur enthalten): Deine Liebe zu einer gewissen (vielleicht schon "verstorbenen")Literatur müsste doch eigentlich ausreichen, Literatur zu schaffen.
Ich wurde als Leser zum Essayisten, und ich war ein Leser aus Notwendigkeit. Das ist die gute Seite meiner prekären Gesundheit. Schon als Kind hatte ich Probleme mit meinen Atemorganen und mußte monatelang das Bett hüten, was furchtbar langweilig war. Also begann ich zu lesen. Wenn man dauernd liest, Geschichten in sich aufnimmt und sich das noch vermischt mit jener Erzähllust, wie sie in meiner Familie herrschte, liegt es nahe, selbst zu schreiben. Ich begann, die Geschichten, die ich las, neu zu als Essay erzählen. Der Essay ist eine Form, die in der deutschen Literaturgeschichte nicht viele Gewährsleute hat. Adorno und Hans Magnus Enzensberger beklagten sich darüber schon in ihren literaturkritischen Essays, die sie zu den wenigen deutschsprachigen Vertretern dieser Gattung machten. Immer wieder haben hier einzelne Autoren Essays geschrieben, wie Thomas Mann, doch eine dichte Tradition wie im angelsächsischen Raum gibt es nicht. Wir haben nicht viel Übung mit dieser Art des Schreibens, die weder Fisch noch Fleisch ist. Der Verlag weiß nicht, ob er den Essay in der Sachbuch– oder Belletristik–Vorschau ankündigt, der Buchhändler weiß nicht, in welches Regal er ihn stellt; und die Kritiker, die Texte in die Schubladen ihrer geistigen Hängeregistraturschränke einordnen wollen, können mit dem essayistischen Ich nichts anfangen, das von sich selbst erzählt, aber offenbar doch etwas Exemplarisches meint. Der Essay ist meine Lebensform, diese Erzählform ist meine Welthaltung, eine durch und durch ironische, die den Mut hat zur Ambiguität und zum Zweifel am Gesagten. Nie sprechen meine Texte von Wirklichkeit als Tatsache, sie legen die Willkür und Widersprüchlichkeit dieses eigenen Verfahrens offen.
Zitat:
Kennst du Manfred Enzensperger? Wenn ja, würde mich deine Kritik seiner Texte interessieren.
Bisher nur Hans-Magnus. Habe mir »Zimmerflimmern« und den Band »Die Hölderlin-Ameisen. Vom Finden und Erfinden der Poesie« vorgemerkt. Schade, daß über solche Autoren selten berichtet wird. Im Feuilleton stört mich seit Beginn des 21. Jahrhunderts die völlige Temperamentlosigkeit. Mir geht es sehr oft so, daß ich nach der Lektüre eines Artikels, egal ob in der SZ, bei der NZZ, der ZEIT, der FR oder dem STANDART, am Ende nicht genau weiß, wie denn nun eigentlich das Urteil ausgefallen ist. Das Feuilleton ist nurmehr für die Frage zuständig, was der Zeitgeist als nächstes macht. Die Voraussagemethoden haben inzwischen durchaus meteorologischen Standard. Der Zeitgeist wehr wohin er will und wird noch eine Weile über dem ruhigen Vergangenheitsmeer verharren, aus dem aber immer intensiver scheinbar erledigte gesellschaftliche Utopien aufsteigen und zu einer Aufladung der Atmosphäre führen. Wo schwimmt mal einer gegen den Strom und sagt beispielsweise über Daniel Kehlmann: "Das ist alles ein großer Irrtum, so gut ist das Buch nicht, daß es 900.000 Auflage haben muß." Das traut sich aber niemand. Seit einiger Zeit ist zu beobachten, daß es zunehmend eine Form der Häme, eine Verunglimpfungskritik gibt, von der auch die großen Feuilletons nicht frei sind. Es geht dabei nicht mehr darum, zu zeigen, warum ein Buch mißfallen hat oder warum es ein möglicherweise mißglücktes Buch sei, das ist ja das gute Recht und meinetwegen auch die Pflicht der Kritik, sondern es kommt zu Verunglimpfungen kompletter Autorenexistenzen. Es steckt ein Machtimpuls dahinter. Man muß einräumen, auch wenn die Kritik an Einfluß auf den Markt verliert, innerbetrieblich ist sie so wichtig wie eh und je, indem sie eine Art Ranking erstellt, und dieses Ranking ist wiederum enorm wichtig für die Reputation der Autoren, und die ist wichtig, wenn es um Stipendien und Preise geht. Da hat die Kritik nach wie vor enorme Macht. Da werden Autoren regelrecht exkommuniziert oder eben geadelt, je nachdem. Der Markt ist hungrig, heißt es. Aber was frisst er, der Markt? Bücher, auf denen das Etikett „Pop“ klebt? Oder welches auch immer?
1943Karl - 26.06.2008 um 09:55 Uhr
Liebe Matze,
wann schläfst du eigentlich. Wenn ich so sehe, zu welchen Zeiten du deine Antworten schreibst...
Was du über Fachleute schreibst, das entspricht auch meinem Denken. Ich denke auch, dass sie ausgespielt haben. Aber es wird noch dauern, bis sie es merken.
Die gefragten Verküpfungskompetenzen sind dann auch für die Essayisten eine echte Chance, die allerdings sehr viel Recherche erfordert. (Wie ich an deinem umfangreichen Hintergrundwissen immer wieder neidvoll sehe.) Leider fehlt mir, da ich meinen Lebensunterhalt noch mit zwei Berufen (selbstständiger Supervisor und angestellter Sozialarbeiter) verdienen muss, ausreichende Zeit. Demnächst werde ich mein Angestelltendasein beenden, da mir inzwischen Rente zusteht. Dann hoffe ich, mich mehr der Schreiberei zuwenden zu können.
Übrigens: Verknüpfungskompetenz. Ich habe ich in Bergisch Gladbacher Kulturszene versucht, in entsprechenden Veranstaltungen Kunstgattungen miteinander zu verknüpfen, z.B. Literatur, Musik, Theater und bildende Kunst.
Dabei ist manche interessante Mischung herausgekommen.
Ja. Manfred Enzensperger kann ich sehr empfehlen... Ich bin gespannt auf dein Urteil.
Gruß
Karl
Matze - 27.06.2008 um 05:57 Uhr
Lieber Karl,
das fürchte ich auch:
Zitat:
Ich denke auch, dass sie ausgespielt haben. Aber es wird noch dauern, bis sie es merken.
Im Literatur–Betrieb geht es darum, daß einige vermeintlich kluge Menschen sich auf einen Text einigen, wie beispielsweise bei der so genannten Gruppe 47, die Kritik als „linke Reichsschrifttumskammer“ monopolisiert hat. Daß der dann große Literatur und die anderen Texte schlechte Literatur seien, folgt daraus nicht. Die Gruppenbildung unter Künstlern und Schriftstellern bedarf eines tertium comparationis außerhalb des Ästhetischen. Wer immer sich zusammenschließt, der muß in einem bestimmten Grade von seiner künstlerischen Individualität absehen und etwas tendenziell Außerkünstlerisches zum Gemeinsamen der Gruppenmitglieder und zum Ziel der Gruppenarbeit machen. Und dieses tertium war bei den meisten literarischen Gruppierungen der Vergangenheit ein Politikum. Hans Werner Richter, Feldwebel der deutschen Literatur, hatte bei den Tagungen immer unruhige Augen, die misstrauisch hin- und herscharwenzelten, wie die eines Caesars unter Verschwörern, den Brutus suchend. Die Gruppe 47 schlug die Bresche, durch die eine bis dahin unmündige, sprachlose, vom literarischen Leben ausgeschlossene Schicht in die deutsche Kultur einbrach. Ihre Mitglieder brachten die Erfahrung von Familien mit, die jahrhundertelang von der herrschenden Schicht gedemütigt worden waren. Diese Kulturevolution hob jenes Kleinbürgertum in den Sattel, das bis zum Ende der BRD das repräsentative soziale Milieu dieses Landes geblieben ist. Auch im neuen Deutschland bringen GraSS, Walser und Konsorten ihre Ressentiments gegen die da oben hervor, dazu Bildungsfeindlichkeit und einen anti-elitären Affekt. Diese können aber inzwischen nicht mehr als verständliche Reaktion auf ungerechte Behandlung begriffen werden. Diese Haltung hat sich im Gegenteil im Lauf der Jahrzehnte verwandelt in die pure Heuchelei. Das geistig-politische Kleinbürgertum muß sich nicht mehr vor Schlägen ducken. Es ist hegemonial. Insofern ist auch das ganze habituelle und verbale Vokabular von Rebellentum obsolet und zutiefst unwahr, mit dem das kulturelle juste milieu insgesamt sich immer noch gegen einen Feind aufbäumt, der längst das Schlachtfeld geräumt hat. Die Menage à trois aus Kunst, Politik und Utopie ist Geschichte.
Die heutigen Autoren schreiben nur noch für kommerziell motivierte Lektoren, sie schreiben halbfertige Romane und fragen dann diese Allmächtigen, wie sie weiterfahren oder was sie ändern solle. Wer das Geschäft über das Material stellt, erwirkt schließlich den Tod der Henne, die ihm die goldenen Eier legt. Jedoch wie man sie produziert. Am Beispiel des Prix Goncourt ist belegbar, wie manipuliert wird. Zur Goncourt- und Renaudot-Vergabe erschienen in 2006 zwei Tagebuch-Bände des Literaten und ehemaligen Jurors Jacques Brenner. „Aus der Preisküche“ (La cuisine des Prix, 1980 bis 1993) heißt einer der Bände, der auf über siebenhundert Seiten mit ungewohnter Detailgenauigkeit erzählt, wie es in den Jurys zugeht. Die Publikation von Jacques Brenners „Journal“ ist ein Ereignis - nicht wegen der Bedeutung des Autors, sondern wegen seiner Beispielhaftigkeit dafür, wie Literatur gemacht wird. Der vor fünf Jahren verstorbene Brenner, mit wirklichem Namen Jacques Meynard, war zeitlebens Verlagslektor, hauptsächlich bei Grasset, Literaturkritiker bei wechselnden Medien, Roman- und Sachbuchautor und seit 1986 Mitglied der Renaudot-Jury: ein Modellfall also, wie man in Paris Rollen kumuliert. „Willst du den Großen Literaturpreis der Académie Française oder lieber eine Dienstwohnung ebendieser Akademie?“ - fragt ihn sein Chef bei Grasset: Er könne beides erwirken. Daß die Literaturpreise oft mehr an einen Verlag als an einen Autor gehen, dafür sorgen die vier Dutzend meist auf Lebenszeit als Jurymitglieder ernannten Schriftsteller in den Preiskomitees Goncourt, Renaudot, Médicis, Femina, Interallié. Im ersten Wahlgang stimmen Sie für Ihr Lieblingsbuch, in den folgenden für Ihren Verlag! - lautete die Anweisung des Grasset-Lektoratschefs Yves Berger. Um sich beim Schriftsteller Alain Robbe-Grillet für sein Votum als Médicis-Preisrichter zugunsten des Grasset-Autors Bernard-Henri Lévy zu bedanken, publizierte man 1985 einen „schlechten“ - so Brenners Einschätzung - Erotik-Roman von Robbe-Grillets Frau. Zwei Jahre später notiert der Tagebuchautor nach der Vergabe des Goncourt-Preises an Tahar Ben Jelloun für „Die Nacht der Unschuld“ (Seuil): Die Gegenlobby suchte Guy Hocquenghem durchzudrücken, bis der Schriftsteller Daniel Boulanger auf Ben Jelloun umschwenkte und ausrief: „Er ist Marokkaner, ich stimme für die Frankophonie.“ Namentlich wiedergegebene Stimmvoten und genau bezifferte Zahlungsbeträge an Autoren für geleistete Dienste oder versprochene Manuskripte verrät dieses Tagebuch. Nur notwendige Literatur ist grosse Literatur. Nur das, was ohne alle Rücksicht geschrieben werden muss, schreibt sich ein in den Lauf der Geschichte. Natürlich steht dem die heilige Kunstautonomie entgegen. „L´art pour l´art“ aber gilt entweder ganz oder gar nicht: Kunst als Solipsismus oder Instrument, Ars meditativa oder Ars militans. Genau da, wo Gefahr ist, wächst bekanntlich das Rettende auch. Aus den dunkelsten Epochen leuchten uns die überragendsten Dichtungen entgegen; im Finstern wohnen die Adler. Nichts spricht gegen die historische Einkleidung des Gedankens, aber gefährlich aktuell muss er sein, dieser Gedanke, soll kein Stillleben entstehen. Es ist darüber hinaus nicht sicher, ob jeder Rezensent schon ein Kritiker ist, oder ob aus der Rezension nicht erst dann Kritik wird, wenn sie an Zeittendenzen mitschreibt, ihnen womöglich zum Durchbruch verhilft oder sie wortreich verdammt. Die Literaturkritik ist an einem kritischen Punkt, da hilft die sicherlich sehr richtige Proklamation wenig, daß es doch genug zu kritisieren gäbe. Wer die Literaturkritik renovieren will, muß zunächst begreifen, daß der Verlust des utopischen Zeitempfindens auch den Status von Kritik nicht unbeschädigt läßt. Helfen können Kritiker, wenn er seinen merkwürdigen Beruf als begabter Leser erlangt hat. Aber so ist das oftmals nicht. Der Kritiker ist an seinem eigenen, künstlich hochgezüchteten Raum orientiert. Seine Professionalität ist eine Mimikry an Kennerschaft. Nicht nur, daß der Kritiker keine Kriterien hat (was für neue, also echte Literatur normal ist), er ist auch noch daran interessiert, daß es keine gibt, damit er sie selbst festlegen und als seine Prärogative behandeln kann. Helfen könnte auch der Verleger, der Kritiken in Auftrag gibt, aber er ist zu sehr an Gewinn interessiert und nicht an Mitwirkung. Es steht schlecht um die Literaturkritik, wenn die Literatur schlecht ist. Für den Literaturkritiker ist das Schlechte immer auch eine Chance. Diese Maxime auf die Literaturkritik selbst angewendet, heißt natürlich, daß sie immer neu beginnen muß. Nichts ist so konformistisch und öde wie die Zitate aus der amerikanischen Popkultur, mit der die deutsche Literatur seit Jahren gespickt wird. Bei dieser Art von, nennen wir es Literatur suche ich nach Sprache, und finde nur wasserdichtes Vermeidungssprechen. Dies ist ein eher soziologisch als literarisches Phänomen, da ich mit Poetry–Spam nichts anfangen kann. Dieses Rotzlöffeltum wirkt wie eine nihilistische Paraphrase eines billigen Fünfziger-Hits, „The Beat Generation“. Diese Autoren suchen, wie auch beispielsweise auch Patti Smith, nach einer Kontinuität in vorangegangenen Gegenkulturen und entwerfen mit dem so genannten „Social Beat“ eine Verschärfung der von Beatniks und Bohemiens vorgekauten Thesen. Bei wirklich spannender Literatur ist solcher Trost durch Geschichte jedoch nicht zu haben. Nicht aus der Hölle, einem vertrauten Platz abendländischer Dramen und Kulturkämpfe, sprechen wirklich gute Schriftsteller, sondern aus der absoluten Häßlichkeit der Ware. Von dort gibt es keine Rettung. Auch über die Schreiberlinge, die in Hildesheim oder Leipzig ausgebildet werden läßt sich sagen, daß sie noch nie auf einem breiten Niveau so gut schreiben konnten wie heute, aber so wenig mitzuteilen haben wie nie zuvor. Diese oberflächliche Zeitgenossenschaft hat mit Interpretation und mit Stellungnahme zu einer ohnedies kaum mehr bekannten Tradition nichts zu tun. Es geht es in diesen Berichten weniger um das Literarische an sich – und vielmehr um die Möglichkeit der Identifikation. Diese Art von Texten sind zu abgetrennt vom Leben, auf der anderen Seite wirkt das, was zum Kulturleben so landläufig dazugerechnet wird, wie Versatzstücke, mit denen beliebig gehandelt wird, weil jeder angeblich Kunst machen kann. Und: Nicht jeder kann ein Künstler sein. Die Epigonen in unserer Gegenwartsliteratur sterben nicht aus, nein, sie vermehren sich unablässig. Sie reüssieren auf dem literarischen Markt mit Texten, die schnell erfassbare Oberflächenreize haben, demonstrativ ihre eigene Machart signalisieren und sich bei Literatur–Wettbewerben gut in kleinen Portionen vorlesen laßen. Diese déformation professionelle droht jedem Autor, der sich den autistischen Kommunikationsformen des Literaturbetriebs überläßt. Dann entsteht der Typus des außenorientierten Schriftstellers, der zwar die Kodizes der eigenen Zunft sehr genau kennt, aber über den Tellerrand des Gewerbes nicht mehr hinauszublicken vermag. Früh bahnt der Literaturbetrieb den Talenten den Weg und hat sie dann ständig unter Einfluss und Kontrolle, macht aus ihnen Schriftsteller, die nur noch mit Schriftstellern umgehen und schließlich nur noch etwas über Literatur wissen und Literatur herstellen, die sich nur mit sich selbst befaßt. Die alten Griechen, die doch die Demokratie erfunden haben, waren sich vollkommen darüber im Klaren. Ich finde, dies ist heute eine Fehlentwicklung des demokratischen Denkens. Nicht jeder, der sein Foto oder sein Gedicht ins Internet stellt, ist gleich ein Maler oder Dichter. Nicht Texttreue soll hier angemahnt werden, sondern eine Arbeit, die der Genauigkeit vor dem Modischen den Vorzug gibt. Wirkliche Literatur ist eine imaginäre Probebühne, auf der alle Möglichkeiten des menschlichen Lebens – auch und vor allem die Abgründe des Privaten und Katastrophischen – in allen Details durchgespielt und ausfabuliert werden können.
1943Karl - 27.06.2008 um 16:57 Uhr
Liebe Matze,
jedes Mal freue ich mich, wenn dein Name mir im Forum ankündigt, dass ich wieder eine neue "Vorlesung" zum Thema Literatur und deren Kritik erwarten kann. Auch heute hast du mich nicht enttäuscht. (Das meine ich nicht ironisch. Im Gegenteil.) Ich lerne durch deine Beiträge sehr viel.
Und natürlich kann ich es nicht besser ausdrücken, was wahre Líteratur ist. Ich bin auch der Meinung, dass es durch die Autorenausbildung immer bessere Handwerker gibt, denen leider häufig die Inspiration fehlt. Natürlich muss Literatur an die Abgründe gehen, muss Grenzen überschreiten. In einer Zeit, in der durch Globalisierung einerseits und Einbrüche in die Intimsphäre andererseits Grenzenlosigkeit angestrebt und zunehmend erreicht wird, ist es doch eher nicht angebracht, weitere Grenzen zu beschreiben. Birgt das nicht die Gefahr in sich, die Sucht nach Grenzenlosigkeit weiter anzufachen.
Sind nicht gerade persönliche, aber auch Ländergrenzen Garanten gegen Nivellierung und Vermassung. Verflachen damit die Literatur und die Literaten nicht gerade?
Ich sehe darin ein Dilemma.
(Siehe auch meinen möglicher Weise nicht sonderlich niveauvollen Beitrag "Lebensgeheimnisse" in diesem Forum.)
Auf deine Reaktion bin ich, wie immer, sehr gespannt.
Herzlichen Gruß
Karl
Matze - 28.06.2008 um 06:35 Uhr
Lieber Karl,
trotz schöner trister Publikationen tut sich bei den Jungfröschen keine Verleger-Persönlichkeit hervor.
Zitat:
Ich bin auch der Meinung, dass es durch die Autorenausbildung immer bessere Handwerker gibt, denen leider häufig die Inspiration fehlt.
Es sind viele Zeitschriften nach kurzer Zeit wieder verstummt. Das ist eine bedrückende Tatsache. Ich habe aber den Eindruck, die Schnelligkeit hat noch zugenommen und einhergehend damit die Treulosigkeit von Lesern und Literaturbetrieb gegenüber den eben erst erschienenen Zeitschriften. Es gab immer auch eine öde, rein routinemäßige Literaturkritik. Was ich bedaure, ist eher, daß das Fernsehen keinen wirklich produktiven Umgang mit der Literatur zustande bringt. Wenn es einen Niedergang gibt, hängt es wohl mit einem schrumpfenden historischen Bewußtsein zusammen. Man spricht immer mehr nur von dem, was eben vorliegt, ohne es in größere Zusammenhänge zu rücken. Gewiß sind Glaubenskriege in der Literatur heute weniger hörbar. Die jungen Schriftstellerinnen und Schriftsteller empfinden die BRD und ihre Institutionen nicht mehr als Skandalon. Viele Autoren hat man einseitig auf ihre politische Polemik festgelegt. Man sah dann nicht mehr, in welch großartiger Weise sie gesamtheitlich gedacht und geschrieben haben. Die großen Debatten fehlen uns Gewiß nicht – aber es ist nicht Sache der Schriftsteller, die Fragen der Alterspyramide zu lösen oder in ihren Werken die Globalisierung ganz direkt zu thematisieren. Solche Probleme werden so vielfältig in allen Medien abgehandelt, daß die Schriftsteller dazu nichts Neues beitragen können. Ich möchte auch weiterhin gern leidenschaftlich lesen und gerade darum nicht nur mein Vergnügen daran bewahren, sondern darüber auch in einer Art zu reden vermögen, daß meine Lust des Lesens und Nachdenkens ansteckend fortwirkt. Zuweilen kommen dabei orientierungslos mäandrierenden Gedankengänge heraus, immer aber möchte ich ein Plädoyer für das Staunen formulieren. Insbesondere sind es die neuen Gedanken, die eine eigene Flußwille entwickeln, in allen Richtungen eilen, sich untereinander suchen, rufen, paaren, vervielfältigen oder allein auf der Strecke bleiben, von anderen niedertrampeln oder wegblasen laßen. Bis der Hirnwächter in diese Wildnis eingreift, zubremst, Ordnung und Klarheit wiederherstellt. In allem gibt es ein Bedürfnis und ein Streben nach der ursprünglichen Ordnung. Auch das Chaos und sogar das Nichts, mag ich zu glauben, sind nicht vom blinden Zufall regiert. Paradox und Absurdum haben ihre eigene Logik. Der Denkende müßte nur diese chiffre erkennen und das Überflüssige und Streunende entfernen. Erstrebenswert wäre eine Dialektik des Kreatürlichen. Dieser unbändige Gedankenfluß von amonte zu aval, das Rollen mentaler Lawinen, die, erst wenn Verdichtung und die immanente Ordnung eintreten, zum Stehen kommen. Bei Canetti fand ich ein Epigramm, das als Motto für das Mäandern dienen kann. Das Spezialistentum sei, so schrieb dieser in der „Blendung“, die Einschränkung aller Zweifel auf ein Spezialgebiet. Erstrebenswert wäre eine Dialektik des Kreatürlichen. Die Fragen der Vergänglichkeit standen in meinem Fokus und die Erkenntnis, daß die Existenz - als Episode zwischen Nichts und Nichts - dorthin zurückkehrt, von wo sie herkommt.
Zitat:
Sind nicht gerade persönliche, aber auch Ländergrenzen Garanten gegen Nivellierung und Vermassung. Verflachen damit die Literatur und die Literaten nicht gerade?
Das Verhältnis der Neuerscheinungsexegeten zur Poesie ist wie das der Gynäkologen zu der Liebe. Das Literatur steht auf dem Prüfstand, oft wird sie nur mehr als Weltkulturerbe wahrgenommen. Wer sich dagegen auf neuere Diskurse aus Theorie und Politik einläßt, sprengt schnell den Rahmen. Im Literaturbetrieb gibt es so viele Platzhirsche, daß das eifersüchtige Dauergezänk zur üblichen Verkehrsform zwischen den Akteuren geworden ist. Die sich vorwagen von der nonkonformistischen Generation werden isoliert, weil die Kultur ein Netzwerk ist. Da gibt es Kartelle, die sich gegenseitig in Schutz nehmen und gegenseitig loben, und andere ausgrenzen. Und es gibt wirklich wenige unabhängige Menschen. Das Leben ist der Platzhalter für das Unbehagen an einer Literatur und einer Literaturbetrachtung, die weniger dem Professoralen huldigen als dem Populären. Die deutsche Literaturkritik schielt immer noch auf das Germanistikseminar. Wer Literatur und Leben allerdings als zwei widerstrebende Kräfte ansieht, steckt hüfttief in der Tradition der Romantik. Das Label ´Weltliteratur´ ist zum Synonym für literarische Werke geworden, die über das heimische Sprachgebiet hinaus Gemeingut der gebildeten Menschheit geworden sind. Eine Kritikerkaste hat nach dem 2. Weltkrieg eine Art von Literatur auf das Podest gehoben, die den Schriftsteller zum zeigefingerreckenden Oberlehrer, zum Staatsanwalt oder zum Psychoanalytiker macht. Der Autor entschwebt der irdischen Sphäre, man überreicht ihm für die erhabene Unlesbarkeit ihrer Werke den vom Erfinder des Dynamits gestifteten Preis. Es gibt viele Literaturpreise, große, kleine, bedeutende, weniger bedeutende, gut und weniger gut dotierte. Die großen Preise bekommen die Großen, die kleinen die Kleinen und die ganz Großen bekommen fast jeden Preis. Von den großen Schriftstellern, die für ihr Werk belohnt werden, fällt immer auch Glanz auf die Preisrichter, weniger Prominenten Preise zu verleihen, ist deshalb weniger beliebt. Geschmückte und Schmückende, meist schon fortgeschritteneren Alters, geht es um Renommee, Belohnung für bereits getane Arbeit und zu selten um die Förderung junger Begabungen. Der Lohn der Poesie ist nicht Ruhm oder Erfolg, sondern ein Rausch – daher sind so viele schlechte Künstler nicht imstande, davon zu laßen. Mittlerweile aber ist man sich darüber einig, daß keine in sich schlüssige und umfassende Definition von Poesie zu erwarten ist, sondern daß es wohl bei vereinzelten, wenn auch faszinierenden und durchaus weiter vermehr– und vertiefbaren Einblicken in das, was Poesie auszeichnet, bleiben muß. So etwas wie ein konsistentes, anhand von bestimmten Eigenschaften beschreibbares Wesen der Poesie scheint es nicht zu geben. Sowohl der formale Zwang alphabetischer Ordnung wie auch die selbstverständliche Forderung nach faktographischer Genauigkeit können mit der Poesie unterlaufen werden, um die Wörter aus ihrer konventionellen Begrifflichkeit herauszulösen, ihnen neues Leben einzuhauchen. Poesie ist gefährlich, weil sie an die Sprengsätze der menschlichen Existenz rührt, den Leser mit Erfahrungen konfrontiert, die er in den Routinen und Begrenzungen seines alltäglichen Lebens gewöhnlich zu vermeiden versucht. Das Bedürfnis, einen Niedergang in Sprache auszudrücken, beflügelt die Dichtkunst seit je. Von Homers Epen über Shakespeares Tragödien bis zu Brechts Lyrik spannt sich ein Bogen, der dem Leser signalisiert: Das Dasein ist voller Haß, Bosheit, Intrige, und am Schluß steht der Untergang.
JH - 28.06.2008 um 18:34 Uhr
Diese Nachricht wurde von JH um 18:35:40 am 28.06.2008 editiert
Zitat:
Es sind viele Zeitschriften nach kurzer Zeit wieder verstummt.
Was sicherlich auch den Grund hat, dass jeder meint, er müsse etwas schreiben. Monokulturen verrecken immer.
Zitat:
Das ist eine bedrückende Tatsache. Ich habe aber den Eindruck, die Schnelligkeit hat noch zugenommen und einhergehend damit die Treulosigkeit von Lesern und Literaturbetrieb gegenüber den eben erst erschienenen Zeitschriften.
Wenn es mehr Leser gibt, gibt es auch mehr Schnelligkeit, gibt es auch immer mehr Zeitschriften und immer mehr Verstummen.
Zitat:
Es gab immer auch eine öde, rein routinemäßige Literaturkritik. Was ich bedaure, ist eher, daß das Fernsehen keinen wirklich produktiven Umgang mit der Literatur zustande bringt.
Das schafft das Fernsehen auch mit dem Krieg und der Armut nicht. Was Fernsehen und Literatur aber verbindet ist der Markt, die Schnelligkeit, die absolute und ihre Existzenz bedingende Oberflächlichkeit. Mehr Menschen = mehr Geschwindigkeit = mehr Oberflächlichkeit. Dazwischen noch rumkritisieren wollen - das können die, welche nichts anderes tun, oder aber die, welche stehenbleiben.
Wie mit der Grippeimpfung den Stamm zu treffen, hoffen diese, dass sie mit ihrem Schreiben gerade das Interesse erwischen
Da haben sie sogar Glück - bei der Menge an Menschen / Kunden, braucht man nur reinstechen und trifft garantiert irgendeine Gruppe / Markt. Meist sind es allerdings Stereotypien (d.h. statistisch überwiegende Menge), wie z.B. Holocaust, Bergwanderführer usw...
Zitat:
Wenn es einen Niedergang gibt, hängt es wohl mit einem schrumpfenden historischen Bewußtsein zusammen.
Die Menschheit hat kein Rassengedächtnis. Wohl aber Bücher und andere Medien. Sie sollen unser Speicher werden. Gleichzeitig ist dieser Speicher ein Markt.
Zitat:
Man spricht immer mehr nur von dem, was eben vorliegt, ohne es in größere Zusammenhänge zu rücken.
Allerdings nur, wenn es den Renditenzielen entspricht.
Man nennt dies Schnelligkeit.
Zitat:
Viele Autoren hat man einseitig auf ihre politische Polemik festgelegt.
Schuld tragen Schulen und Unis. Die Bildungsverbrecher der Jahrhunderte.
Zitat:
Man sah dann nicht mehr, in welch großartiger Weise sie gesamtheitlich gedacht und geschrieben haben.
Wer könnte das wohl erfassen? Kevin an der Bushaltestelle? Miriam im Schlecker? Ich an der Waschmaschine?
Was wird beklagt?
Dass Literatur zu allen spricht und nicht mehr zu denen am "Hofe"? Die Schopenhauer-Schiller-Goethe-Jahre sind insofern vorbei. Übrig bleiben ihre Buchrücken im zweiten "Hier klicken für größeres Bild" auf amazon.de
Zu recht übrigens. Denn diese ganzen großen Namen sind nichts weiter als Monokultur.
Zitat:
Die großen Debatten fehlen uns Gewiß nicht – aber es ist nicht Sache der Schriftsteller, die Fragen der Alterspyramide zu lösen oder in ihren Werken die Globalisierung ganz direkt zu thematisieren.
Aus dem Land der "Denker" wurde das Land der "Debatierer". Dann wieder das Land der "Denker und Debatierer" (Studien, Institute, Proklamationen um der Proklamationen willen) und schließlich wurde alles ein grüner klebriger Brei, bestehend aus Mega-Monokulturen auf der Überholspur zu sich selbst - die Terrabitbombe.
Ich sehne mich nach Beatty aus Fahrenheit 451. Der müsste mal aufräumen.
Zitat:
Solche Probleme werden so vielfältig in allen Medien abgehandelt, daß die Schriftsteller dazu nichts Neues beitragen können.
Es zeigt sich endlich wozu sie im Stande sind.
Schluss mit dem Bild, sie seien irgendwie zu etwas im Stande.
Zitat:
Ich möchte auch weiterhin gern leidenschaftlich lesen und gerade darum nicht nur mein Vergnügen daran bewahren, sondern darüber auch in einer Art zu reden vermögen, daß meine Lust des Lesens und Nachdenkens ansteckend fortwirkt.
Genau hier ist das Problem Matze.
Das alles kannst du und du wirst / hast deine Gruppe, deine Minderheit gefunden. Jeder kann das, jeder kann glücklich werden.
Aber das Gesamte ist Schrott.
Verleger wollen dass Du und Ich was zu lesen haben und nachdenken. Das werden wir immer finden. Aber all das ist Schrott.
Wir sind nichts besonderes, wir sind nur Markt.
Zitat:
Zuweilen kommen dabei orientierungslos mäandrierenden Gedankengänge heraus, immer aber möchte ich ein Plädoyer für das Staunen formulieren.
Unsere Literatur dient nur einem Zweck:
Das Bedienen einer äußerst banalen Erwartungshaltung verschiedener Minder / Mehrheiten. Das ist der tückische Gag. Weil jeder zufrieden sein will.
Selten etwas, das so einschlägt, dass es kracht. Gab es das überhaupt? Das Gedächtnis ist äußerst knapp.
Selten etwas, das überrascht und verstört.
Allerdings bitte mit etwas Humor, nicht so wie der langweilige Sartre.
Daher lese ich Kobo Abe.
Es sind gerade die Unbekannten, nicht gelesenen, ja nicht mal im Antiquariat auffindbaren Autoren.
Zitat:
Insbesondere sind es die neuen Gedanken, die eine eigene Flußwille entwickeln, in allen Richtungen eilen, sich untereinander suchen, rufen, paaren, vervielfältigen oder allein auf der Strecke bleiben, von anderen niedertrampeln oder wegblasen laßen.
Gut, Bildsprache.
Ausgehend vom Meer allerdings, das "Markt" "Rahmenbedingungen" und "Rendite" heißt.
Zitat:
Bis der Hirnwächter in diese Wildnis eingreift, zubremst, Ordnung und Klarheit wiederherstellt.
Das gibt es nicht. Vielleicht irgendwann die Gedankenpolizei aus 1984 oder ein Implantat von neurosky.com - es gibt keine festen Regeln für uns, wir müssen nicht leiden. Es gibt nur die Befriedigung, die Zufriedenheit, glücklich sein. Das ist unser aller Unglück. Und gerade in "unwichtigeren" Bereichen wie Literatur und Kunst, wird das als erstes polarisiert.
Zitat:
In allem gibt es ein Bedürfnis und ein Streben nach der ursprünglichen Ordnung.
Glaub ich nicht. Ich denke allem liegt pures Chaos zugrunde. Alles besteht weder aus Molekülen noch Atomen - sondern aus Wellen.
Zitat:
Auch das Chaos und sogar das Nichts, mag ich zu glauben, sind nicht vom blinden Zufall regiert. Paradox und Absurdum haben ihre eigene Logik.
Glaube ich nicht. Eher nur bis zu einem gewissen Grad. Wäre Paradox und Absurdum so abhängig - wären sie eine Monokultur für sich und nicht lebensfähig.
Zitat:
Der Denkende müßte nur diese chiffre erkennen und das Überflüssige und Streunende entfernen.
Meiner These nach beißt sich die Katze spätestens hier in den Schwanz. Denn nur Fehler (siehe das Entstehen von Stämmen beim HI Virus oder der Influenza) und Chaos erschaffen in Wahrheit neues.
Wenn nur für das Staunen selektiert wird, werden wir alle Staunen und es wird uns entsetzlich langweilig. Zusammenfassungen von Zusammenfassungen von Zusammenfassungen.
Zitat:
Erstrebenswert wäre eine Dialektik des Kreatürlichen. Dieser unbändige Gedankenfluß von amonte zu aval, das Rollen mentaler Lawinen, die, erst wenn Verdichtung und die immanente Ordnung eintreten, zum Stehen kommen.
Wie die Erzählung "The Bet" von Kobo Abe: Ein Architekt hat den Auftrag den Grundriss einer Werbefirma 32mal zu überarbeiten. Das Ganze ist selbst ein einziger Werbefeldschachzug - im Gebäude hocken Angestellte vor allen möglichen Dingen: Legobausteine, Tomate, Bild vom Traktor usw... Dazu sagen sie immer ein Wort in ein Mikrophone - das wird gesammelt - weitergeleitet - daraus werden Sätze - schließlich Werbeideen für Produkte.
Aber du schreibst vom Kreatürlichen, also noch mehr selektiert.
Zitat:
Bei Canetti fand ich ein Epigramm, das als Motto für das Mäandern dienen kann. Das Spezialistentum sei, so schrieb dieser in der „Blendung“, die Einschränkung aller Zweifel auf ein Spezialgebiet. Erstrebenswert wäre eine Dialektik des Kreatürlichen.
Bitte erklären. Ich nix verstehe, nur vermute. Das nix gut.
Zitat:
Die Fragen der Vergänglichkeit standen in meinem Fokus und die Erkenntnis, daß die Existenz - als Episode zwischen Nichts und Nichts - dorthin zurückkehrt, von wo sie herkommt.
Das macht nur dein Bewusstsein, zwecks Unterscheidung - Unterscheiden ist durch die Menschheitsgeschichte ankonditioniert.
Zitat:
Das Verhältnis der Neuerscheinungsexegeten zur Poesie ist wie das der Gynäkologen zu der Liebe. Das Literatur steht auf dem Prüfstand, oft wird sie nur mehr als Weltkulturerbe wahrgenommen. Wer sich dagegen auf neuere Diskurse aus Theorie und Politik einläßt, sprengt schnell den Rahmen. Im Literaturbetrieb gibt es so viele Platzhirsche,
(...)
Und zwar historische (Schiller & Co) wie auch lebende. Genau das beklage ich auch.
Zitat:
(...)daß das eifersüchtige Dauergezänk zur üblichen Verkehrsform zwischen den Akteuren geworden ist. Die sich vorwagen von der nonkonformistischen Generation werden isoliert, weil die Kultur ein Netzwerk ist.
ein Markt ist. Ein Markt zwischen Monopolisten & Think Tanks.
Zitat:
Da gibt es Kartelle, die sich gegenseitig in Schutz nehmen und gegenseitig loben, und andere ausgrenzen. Und es gibt wirklich wenige unabhängige Menschen.
Überall. In der Forschung sind 80% in der EU von der Industrie bezahlt.
Zitat:
Das Leben ist der Platzhalter für das Unbehagen an einer Literatur und einer Literaturbetrachtung, die weniger dem Professoralen huldigen als dem Populären.
Das Land der Dichter und Denker besteht aus Professoralen Wiederkäuern.
Zitat:
Die deutsche Literaturkritik schielt immer noch auf das Germanistikseminar. Wer Literatur und Leben allerdings als zwei widerstrebende Kräfte ansieht, steckt hüfttief in der Tradition der Romantik. Das Label ´Weltliteratur´ ist zum Synonym für literarische Werke geworden, die über das heimische Sprachgebiet hinaus Gemeingut der gebildeten Menschheit geworden sind. Eine Kritikerkaste hat nach dem 2. Weltkrieg eine Art von Literatur auf das Podest gehoben, die den Schriftsteller zum zeigefingerreckenden Oberlehrer, zum Staatsanwalt oder zum Psychoanalytiker macht. Der Autor entschwebt der irdischen Sphäre, man überreicht ihm für die erhabene Unlesbarkeit ihrer Werke den vom Erfinder des Dynamits gestifteten Preis. Es gibt viele Literaturpreise, große, kleine, bedeutende, weniger bedeutende, gut und weniger gut dotierte. Die großen Preise bekommen die Großen, die kleinen die Kleinen und die ganz Großen bekommen fast jeden Preis. Von den großen Schriftstellern, die für ihr Werk belohnt werden, fällt immer auch Glanz auf die Preisrichter, weniger Prominenten Preise zu verleihen, ist deshalb weniger beliebt. Geschmückte und Schmückende, meist schon fortgeschritteneren Alters, geht es um Renommee, Belohnung für bereits getane Arbeit und zu selten um die Förderung junger Begabungen. Der Lohn der Poesie ist nicht Ruhm oder Erfolg, sondern ein Rausch – daher sind so viele schlechte Künstler nicht imstande, davon zu laßen. Mittlerweile aber ist man sich darüber einig, daß keine in sich schlüssige und umfassende Definition von Poesie zu erwarten ist, sondern daß es wohl bei vereinzelten, wenn auch faszinierenden und durchaus weiter vermehr– und vertiefbaren Einblicken in das, was Poesie auszeichnet, bleiben muß. So etwas wie ein konsistentes, anhand von bestimmten Eigenschaften beschreibbares Wesen der Poesie scheint es nicht zu geben. Sowohl der formale Zwang alphabetischer Ordnung wie auch die selbstverständliche Forderung nach faktographischer Genauigkeit können mit der Poesie unterlaufen werden, um die Wörter aus ihrer konventionellen Begrifflichkeit herauszulösen, ihnen neues Leben einzuhauchen. Poesie ist gefährlich, weil sie an die Sprengsätze der menschlichen Existenz rührt, den Leser mit Erfahrungen konfrontiert, die er in den Routinen und Begrenzungen seines alltäglichen Lebens gewöhnlich zu vermeiden versucht. Das Bedürfnis, einen Niedergang in Sprache auszudrücken, beflügelt die Dichtkunst seit je. Von Homers Epen über Shakespeares Tragödien bis zu Brechts Lyrik spannt sich ein Bogen, der dem Leser signalisiert: Das Dasein ist voller Haß, Bosheit, Intrige, und am Schluß steht der Untergang.
Klingt als Antowrt frech, aber ich stimme zu.
Matze - 28.06.2008 um 18:52 Uhr
Es kann natürlich sein, daß man im Literaturbetrieb besonders eifrig das macht, was Autoren gern machen: einen Berg von Sprachgeröll und Handlungswust vor sich aufzubauen, nur damit sie ihn dann mühsam wieder abtragen können. Literatur als Baggerarbeit. Für die Poesie hat man dann natürlich keine Kraft mehr. Die Krise der Intelligenz ist auch eine Krise des Buches, und es stelle sich die Frage, ob das Buch seinen alten Platz als Träger der Erkenntnis behaupten wird. Auch jene, deren Publikation unbehindert geblieben ist, erreichen nur einen kleinen Teil der Leser, für die sie bestimmt und die ihnen bestimmt sind.
JH - 28.06.2008 um 19:31 Uhr
Hm, es wird wohl seinen Platz behalten. Aber nicht seinen Status, wenn es um das Festhalten von Wissen geht. Ein Buch ist aber noch mehr. Es ist nicht so manipulierbar. Es steht nach 20 Jahren immer das Gleiche drin. Das ist hier "edit" anders.
1943Karl - 28.06.2008 um 19:44 Uhr
Lieber Matze, lieber JH,
wenn ich jetzt auf alle eure Thesen einginge, ging ich vermutlich an Überforderung ein.
(Blöder Kalauer - Entschuldigung)
Grundsätzlich meine ich, dass wir Menschen als Individuen jeweils polar angelegt sind. Wir sind feige und mutig, dumm und intelligent, geizig und freigebig etc. Und wir können versuchen zu entscheiden, wie wir uns zwischen diesen Polen jeweils bewegen wollen. So wird möglicher Weise aus dem (kreativen) Chaos eine von Entscheidungen immer neu zu schaffende Ordnung.
Daher liebe ich auch das Mäandern als eine Form zwischen Polen suchender Schreibart, die diaologisch von Assoziation zu Assoziation Erkenntnisse produzieren kann.
Übrigens ich fand die siebiziger und achtziger Jahre mit ihren vielen alternativen Literaturzeitschriften, von denen einige sicherlich auch diesen Gattungsbegriff nicht verdienten, äußerst anregend.
Und unser Auseinandersetzung hier in diesem Forum regt mich natürlich auch sehr an.
Daher meinen Dank an euch und ganz herzliche Grüße
Karl
Matze - 28.06.2008 um 23:52 Uhr
Diese Nachricht wurde von Matze um 23:57:32 am 28.06.2008 editiert
Zitat:
Übrigens ich fand die siebiziger und achtziger Jahre mit ihren vielen alternativen Literaturzeitschriften, von denen einige sicherlich auch diesen Gattungsbegriff nicht verdienten, äußerst anregend.
Wenn man registriert, was auf dem Buchmarkt ´geht´ und was nicht, muß man konstatieren, daß das Lesen als Kulturtechnik überschätzt wird. Allein in den vergangenen 50 Jahren sind mehr Bücher publiziert worden, als in den 5000 davor, seit Erfindung der Schrift durch die Sumerer. Nur die wenigsten Bücherhaben das Zeug zu Longsellern wie die Bibel. Die Situation des Buches hat sich derart zugespitzt, daß es fraglich zu werden beginnt, ob das Buch seinen alten Platz als Träger wissenschaftlicher Erkenntnis behauptet. Hinzukommt, daß der gedachte Notstand durchaus nicht mit einer Abnahme Literatur zusammenfällt; vielmehr wird der qualitative Ausfall in vielen Ländern begleitet von einer Überproduktion zweifelhaftester Art. Die meisten Bücher entspringen heute dem allgemeinen Konsensdenken. Statistisch gesehen erscheint in Deutschland jede Stunde ein Buch, etwa zwanzig Bücher pro Tag, Nachauflagen nicht mitgerechnet. Da kann nicht in jedem etwas Neues stehen. Den meisten Büchern genügt als Daseinsbehauptung die Gewißheit, daß vor ihnen andere Bücher erschienen sind und nach ihnen andere kommen werden. Bücher stoßen sich welpengleich gegenseitig in die Welt. Ihre Verfallsfristen unterliegen einem rasanten Verkürzungsprozess. Heutige Autoren leben in der Regel etwas länger als ihre Bücher. Verlage haben das erkannt. In Zeiten schwindender Erlöse fühlen Verlage sich in Zugzwang. In diesen Zeiten nehmen sie das, was ihnen am Teuersten ist, und versilbern es: Kompetenz und Glaubwürdigkeit ihrer Redaktionen. Der Literatur–Betrieb, eine Welt im Kleinen, ein Makrokosmos, in dem die große sich spiegelt, abbildet, überprüft und wiederfindet. Beispiele für Autor–Aggressionen sind Legion, von Goethes Ausruf "Schlagt ihn tot! Er ist ein Rezensent!" bis Martin Walsers Roman "Tod eines Kritikers". Es war 1968 auf der Veranstaltung "Autoren diskutieren mit ihren Kritikern" in Köln, als der damals 28–jährige Autor Rolf Dieter Brinkmann aufstand und an den Kritiker Marcel Reich–Ranicki gerichtet rief: "Ich sollte überhaupt nicht mit ihnen reden, ich sollte ein Maschinengewehr haben, und Sie niederschießen!" Der Kursverfall der Literaturkritik ist offenbar. Opposition wider die Zeitläufte ruft beim Publikum nur mehr Schulterzucken hervor, Gesellschaftsanalysen provozieren verhaltenes Gähnen. Die Pluralisierung der Lebensstile hat auch die Autorität des Kritikers erfaßt – sein Standort gilt bloß noch als einer unter vielen. Das Genre der Kritik ist nicht erneuerungsfähig. Es ist eine Königsdisziplin, weil man hier im gleichen Medium arbeitet, im besten Fall fast semi–literarisch, Sprache reagiert auf Sprache, Text auf Text. Literaturkritik sollte nicht in erster Linie ein PR–Instrument, sondern ein Vehikel sein, um ein Gespräch über Literatur im Umfeld einer Zeitgenossenschaft in Gang zu bringen und zu halten. Der Platz für die Literaturkritik schrumpft auf eine Schwundstufe des ästhetischen Urteils. Und der wenige, der übrig bleibt, soll verstärkt "Service–Charakter" haben, also weniger intellektuelle Reflexion beinhalten, sondern mehr "nützliche Information" für den Leser. Eine Rückbesinnung der Literaturwissenschaft auf das Biographische ist zu beobachten, auch wenn in diesem "Biographismus" die bewährten Erkenntnisse, allem voran der Psychoanalyse, der Medientheorie und des "New Historicism" vergessen werden. Die Biografie ist zur tragenden Säule des Buchmarkts geworden; sie unterwandert die Literatur und resümiert das Beste, was die Sachbücher zu bieten haben. Es ist, als ob das Publikum von einem masslosen Hunger nach geschriebenem Leben befallen sei, einer Art literarischem Kannibalismus. Diskretion und Angemessenheit sind Kategorien, die einer solchen Herangehensweise, die sich "leidenschaftlich" nennt, die "begeistert" sein will, nicht zu Gebote stehen. Stattdessen wird behauptet und geschwärmt. Es ist eine schwierige Kunst, literarische Texte in ihrem Gelingen oder Scheitern nachzuvollziehen und so darzustellen, daß es eine Einladung zum Mit-Denken und Mit-Lesen ist. Aber selbst in den altehrwürdigen Literaturressorts ist eine Tendenz zu beobachten, die Analyse durch Superlative, durch Ranschmeissen zu ersetzen. Schriftstellernähe und Literaturferne gehen dabei paradoxerweise ein Bündnis ein. Ein Kritiker von Rang lebt von seiner Rätselhaftigkeit, seinen Überraschungen, seiner Unbestechlichkeit. Er reduziert Kultur nicht auf den Wohlfühlfaktor.
Der_Geist - 29.06.2008 um 17:55 Uhr
Sollte mir jemand meine Bücher nehmen wollen, guillotinierte ich ihn. (Ersatzweise: Vergiften oder Schienbeintreten bis zum Exitus)
Da könnten selbst Honore noch so plärren.
Interessantes zum Thema hier.
(Unter Aktuelles, Ein paar Anmerkungen zu "Neid".)
Lesensreizend, nachdenkwürdig, einfach mal wieder fein ins Haifischbecken geworfen. Danke, Frau J.
1943Karl - 29.06.2008 um 18:10 Uhr
Lieber Matze,
Kultur auf den Wohlfühlfaktor reduziert, wäre reine Unterhaltung. Was nicht heißen soll, dass Kultur nicht auch unterhaltend sein darf.
Kann es sein, dass ich deine Ausführungen zur Literaturkritik so schon einmal beinahe wortgetreu gelesen habe??
Selbst wenn es eine Wiederholung ist, kann ich nahezu jedem Satz davon nur zustimmen.
Lieber Geist,
wage es nicht, mir meine Bücher zu nehmen. Ich könnte mir ein Leben ohne nicht vorstellen.
Gruß euch Beiden
Karl
Der_Geist - 29.06.2008 um 18:11 Uhr
P.S. an Frau J. (imaginär-virtuell): natürlich habe ich mir diese Schrift ausgedruckt, kann man besser drin rumkritzeln.
JH - 29.06.2008 um 19:08 Uhr
Zitat:
Lieber Matze, lieber JH,
wenn ich jetzt auf alle eure Thesen einginge, ging ich vermutlich an Überforderung ein.
(Blöder Kalauer - Entschuldigung)
Wohl eher bei Matze, er hat 1000mal mehr Ahnung.
Matze - 30.06.2008 um 10:00 Uhr
Lieber Karl,
durchaus:
Zitat:
Kann es sein, dass ich deine Ausführungen zur Literaturkritik so schon einmal beinahe wortgetreu gelesen habe?
Da ich ein alter Sack bin, zudem durch die Krankheit etwas porös in der Birne, neige ich zuweilen zu kulturpessimistischen Kreiseleien. Ich bitte das zu entschuldigen! Natürlich wird und kann die Diskussion noch kein Ende finden - im Zeitalter der Quoten florieren die Zoten. Die Notwendigkeit des Tabubruches wird und kann vielleicht heute nicht mehr auf die Spitze getrieben werden, da der Umgang hiermit im seichten Sumpf der Konsumierbarkeit versickert. Die Medien sind längst zum Schaufenster banalster Unternehmungen verkommen. Selbst ein Niels Ruf bemühte sich ja schon, Geschmacklosigkeiten als Gags zu verkaufen. Damals reagierten die Fernsehmacher noch mit pingeliger Empfindlichkeit, als sie die Grenze des "guten Geschmacks" überschritten wähnten. Heute hat sich die Grenze zu einem unendlichen Flachland ausgedehnt. Natürlich tummeln sich hierauf kleinste Geister, die vor der Medienplage noch nicht einmal eine Handvoll Zuhörer und Zuschauer hatten. Die Aufregung zwischendurch gehört zum Spiel. Aber auch so mancher Künstler hat ja längst die schmale Nische seiner Aufmerksamkeitsmöglichkeit erkannt. Künstler, die sich auf einer Bühne mit Pfeilen bewerfen lassen (um zu testen, wie weit der Mensch gehen kann!!! Als ob Kriegsbrichtserstattungen dies nicht ausreichend belegen), ein Künstler der eine Kuh aus einem Huschrauber werfen ließ (um anschließend bei VIVA! das Fleischkonsumverhalten der Menschen anzuprangern - wahrscheinlich gab es anschließend im Catering Curry-Wurst) - da lob ich mir doch Herrn Nitsch mit seinen durchaus begründeten Mysterienspektakel. Was heute Ereignis, Sensation, Event usw. alles aussagen möchte. Aber kann man Dummheiten dieser Art heutzutage noch nachhaltig und sinnbringend befragen, wenn uns das Fernsehen den "normalen" Menschen in seinem banalen Alltag täglich in die Stube spült. Talk-Shows, Real-Life-Soaps, Doko-Soaps zeigen uns menschen bei Vaterschafts-testen, toiletten-säubern, Bretterbohren, Unterwäsche durchstöbern bei der Suche nach Partnerschaft, dicke Menschen beim Abspecken, anschließend in der Schuldnerberatung, Schwangerschaftsfaltern, brüllende, keifernde, sabbernde Krass-Gestalten, die nicht in der Lage sind, einfachste Sätze zu formulieren, Politiker in Talkshows mit breitem Grinsen Dringlichkeiten ausspuckend. Wie sang Nina Hagen vor etlichen Jahren "Ich kann mich gar nicht entscheiden, ist alles so schön bunt hier". Künstler wissen, daß Buntheit farblos ist. Die Welt bleibt spannend allemal - auch wenn die Menschen immer häufiger lediglich auf ihr herumtorkeln. Die Dekadenz des guten Geschmacks ziehe ich allemal der eines audgeblähten Nullerlebnisses vor.
Literatur ist der Katholizismus der Intellektuellen. Der Katholik glaubt an das Jenseits, und der Schriftsteller und Intellektuelle glaubt an das Jenseits des Werks. Leider täuschen sich beide. Es ist modern, kritische Literatur zu machen. Wenn es aber darum geht, daß nicht nur die Kunst, sondern auch der Autor kritisch sein sollte, ist von kaum jemandem etwas zu vernehmen. Die meisten wollen es sich mit niemandem verderben und meinen, sie seien nur die wehrlosen Opfer des Marktes. Literatur hat sich dem Druck des Marktes ergeben, hat sich ebenfalls in die Marketing–Abteilungen outsourcen laßen und funktioniert dort prächtig. Solange sie nicht wehtut, solange sie schöne Fluchtbedürfnisse in einer kalten Welt bedient. Geschichten werden einem bei jedem Kommerzsender angeboten. Inhalt jedoch heißt erst einmal Stoff und dessen Durchdringung. ‚Aufarbeiteten’ ist als Devise zur Mode geworden. Dabei sind die Dichter, die auf– und umgearbeitet werden, nicht so heruntergekommen wie die verschlissene Garderobe einer armen Familie. Zerschnitten aber werden sie; bleibt nur die Frage, wie viel vom alten Stoff gebraucht und wie gut die Maßschneiderei dem Bewußtsein des Publikums angepaßt wird. Daß die Stoffe auf der Straße liegen, ist blanker Unsinn. Der Stoff liegt nicht auf der Straße, vielmehr hat jeder Autor zu einer bestimmten Zeit einen bestimmten Stoff. Und genau diesen Punkt der stärksten Affinität, der inneren Notwendigkeit, mit dem richtigen Zeitpunkt zu treffen, darum geht es. Das bringt erst den Erzählton hervor. Der Status–Roman gefällt sich als Zumutung und straft jene Leser, die das unvergleichlich schwierige Kunststück nicht zu schätzen wissen, mit Verachtung. Der Kontrakt–Roman hingegen behandelt den Leser und seine Bedürfnisse deshalb mit Respekt, weil er ihn nicht dafür bestrafen will, diesmal nicht ins Kino gegangen zu sein. Die Literatur hat sich aufgespalten in ein zeitgeistiges Element der Wohlfühlkultur und die Sinnsuche der alten Wahrhaftigkeit. Damit ist sie ein Spiegelbild der aktuellen geistigen und politischen Zerrissenheit. Wenn man von Anfang bis Ende nur vom Glück erzählt, würde man sich zu Tode langweilen. Geschichten leben von Kontrasten. Am Ende läuft es doch darauf hinaus, daß der Künstler nicht selbst leiden muß, um Leiden zeigen zu können. Man muß das Leid verstehen und die Geschichten, die daraus entspringen. Das nennt sich atma, das Selbst, ein Ozean des reinen Bewusstseins. Es heißt, erkenne dich selbst, das ist das Feld, das ist es, wo alles herkommt, uns eingeschlossen, das ist unsere Heimat. Man ist hier und genießt es und versteht immer mehr, und man wird ganz verrückt und steht frühmorgens schon auf mit einem Kopf voller Ideen, und alles, was einen bis dahin gequält hat, hebt sich wie ein Gewicht von dir. Die Propheten des neuen Irrationalismus überleben innerhalb des von immer wechselhaften modischen Strömungen unterwanderten Literaturbetriebs vermutlich nur, wenn sie sich stilistisch eine gewisse Souveränität bewahren. Der Literaturbetrieb funktioniert sehr gut, wenn es um Karrieren geht; er funktioniert weniger gut, wenn es um Kreativität geht. Als die literarische Vereinigung Gruppe 61 gründete, war der Niedergang des Steinkohlenbergbaus bereits in vollem Gange. Das Problem kannten auch die Vertreter des Bitterfelder Weges in der DDR Anfang der 1960-er Jahre. Die Grenze zwischen schreibendem Arbeiter und arbeitendem Schriftsteller ließ sich durch Kommuniqués oder guten Willen nicht aufheben. Die alten Begriffe von Arbeit in der Literatur taugen nicht mehr. Heute faßt der Begriff des Prekariats, der, in Analogie zum Proletariat, die schlecht abgesicherten, hoch flexiblen, meist gut ausgebildeten, aber kaum organisierten Freiberufler zusammen. Man kann Literatur jedoch nicht konsensuell machen. Dann ist man dumm. Oder feige oder zynisch.
1943Karl - 30.06.2008 um 17:25 Uhr
Lieber Atze,
deine Nörgelei hat m.E. ihre Berechtigung und ist selbstverständlich weit mehr und niveauvoller als jenes Gejammer, dessen Tonfall man u.a. aus Ärzte-Wartezimmern kennt.
Ich beobachte natürlich auch jene Verflachungstendenzen. Kabarett verkommt zur Comedy, Humor verkommt zur Albernheit,
Politische Reden verkommen zur Talkshow und Literatur offensichtlich zur gehobeneren Beliebigkeit.
Nun bin ich kein begnadeter Schreiber und kann zu meinem Leidwesen meinen literarischen Ansprüchen nur durch seltene Glückstreffer nachkommen. Daher empfinde ich mich manchmal, wenn ich mich zu irgendwelchen Verrissen hinreißen lasse, eher als überheblich.
Dennoch kann ich deiner Literatur-(kritik-)Kritik immer nur wieder zustimmen.
Herzliche Grüße
Karl
Matze - 01.07.2008 um 05:56 Uhr
Lieber Karl,
ein wenig Polemik sollte schon sein:
Zitat:
Daher empfinde ich mich manchmal, wenn ich mich zu irgendwelchen Verrissen hinreißen lasse, eher als überheblich.
Die écriture automatique von Breton, Soupault, Aragon hat mich verführt und tief geprägt. Das war eine Freiheit des Ausdrucks, die ich zuvor nicht kannte. Bücher stehen nicht mit dem Rücken zur Wand. Solange dieser Grundsatz des ordentlichen Bibliothekswesens gilt, muß man sich keine Sorgen machen. Begriffe wie „Klassiker“ oder „Meisterwerk“ stammen aus dem Bildungsbürgertum; sie implizieren eine Lesehaltung der Ergriffenheit oder Bewunderung, der wir nicht mehr trauen. Selbst Germanistikstudenten flüchten sich gern in Ironie und sprechen von „Höhenkammliteratur“, wenn sie die Leitzordnerliteratur von Goethe, Kafka oder Thomas Mann meinen. Im Grunde haben uns die Vorgenannten nichts mehr zu sagen, ihre Relevanz ist der Glaube daran, daß ihre Schriften zeitlose Werte enthalten. "Die Geburt des Lesers ist zu bezahlen mit dem Tod des Autors", forderte Barthes in seinem Text »Der Tod des Autors«. Er erklärte alle Leser für verrückt, die erst eine Biografie des Autors wälzen, um einen Roman zu verstehen. Der Text, das "Gewebe von Zeichen", könne für sich selbst sprechen und brauche keinen "Autor–Gott" zur "Fixierung des Sinns". Michel Foucault legte nach mit der Frage "Wen kümmert´s, wer spricht?" und stellte lakonisch fest: "Man kann sich eine Kultur vorstellen, in der Diskurse verbreitet würden, ohne daß die Funktion des Autors jemals erschiene." Eine Kultur, in der Romane keine Autorennamen tragen. Der Bildungsbürger, bisher geborgen in der gesellschaftlichen Mitte, ist eine aussterbende Spezies. Die künstlerischen Beobachtungskuppeln sind ins Wanken geraten und im Verschwinden begriffen. Die Berserker stehen am Pranger, das Erhabene ist wieder gefragt. In Krisenzeiten soll wenigstens die Kunst Halt geben. Das Abstrahieren von äußerlichen Lebensprozessen auf die Existenz, auf das nackte Dasein, das die Existenzialisten vor über einem halben Jahrhundert vom modernen Menschen gefordert hatten hat zwangsläufig stattgefunden. Mit der Bestimmtheit, mit der das globale Erklärungsmodell Arbeit aus der Gesellschaft verschwindet, finden sich die literarischen Figuren vor diese tiefste, diese philosophischste Aufgabe gestellt: ein ganzer, ein glücklicher Mensch zu sein, jenseits aller Zuschreibungen und Lebensläufe. Wenn die Arbeit abgeschafft wird, rückt das Leben in den Mittelpunkt. Was für eine Literatur entsteht aber dort, wo der Ort der Kunst, die einst so betriebsamen Schreibstuben, Seminare, Modeateliers, Designbüros, selber zum Unort geworden ist, wo der Intellektuelle die Gesellschaft nicht mehr bloß beschreibt, sich über die Ränder seiner gesicherten Existenz beugend, sondern selber an ihre ausfransenden Ränder geraten ist? Wo zuletzt auch die Ratio schlicht wegrationalisiert wird?
1943Karl - 01.07.2008 um 15:26 Uhr
Lieber Matze,
gerade sehe ich, dass ich bei meiner letzten Antwort deinen Namen in "Atze" verstümmelt habe. Entschuldige, war keine Absicht.
Ich glaube, wer unbeeinflusst von Werbung und Massenmedien schreiben will, der braucht ein verdammt dickes Fell, wenn es denn überhaupt möglich ist, sich diesen Einflüssen zu entziehen. Außerdem
denke ich, wir bewegen uns auf eine grenzenlose Gesellschaft hin. Globalisierung einerseits und das Eindringen in die Intimsphäre andererseits heben äußere wie innere Grenzen auf. Gleichzeitig gehen damit immer mehr Tabus verloren. Es gibt Leute, die das Grenzenlose als paradiesisch betrachten. (Obwohl - wenigstens das christliche Paradies - auch Grenzen hatte.) Mir macht Grenzenlosigkeit Angst. Mein Sohn - er ist gerade 19 und hat soeben sein Abitur bestanden - geht wesentlich bedenkenloser mit der Aufhebung von Grenzen um. Grenzenlosigkeit wird, so fürchte ich, die Beliebigkeit (auch in der Literatur) weiter befördern. Ich finde es äußerst schwierig Beliebigkeit zum Inhalt eines Gedichts oder eines nicht essyistischen Prosatextes zu machen. Denn beliebig über Beliebigkeit zu schreiben wäre ohne literarischen Wert.
Siehst du einen Weg aus diesem Dilemma?
Ich bin gespannt auf deine Antwort.
Herzliche Grüße
Karl
Matze - 02.07.2008 um 06:54 Uhr
Lieber Karl,
Die Kulturpraktik steht nicht solitär da, sie ist Teil einer Gesamtinstallation, zu ihrer Bewertung kann ich genauso gut Vergleiche mit populärkulturellen Medien wie Kino, Fernsehen, Musik herbeiziehen. Es gibt keine E– und U–Kunst mehr, keine high– und low–brow–culture. Literatur muß sich mich nicht mehr bloß an sich selbst messen laßen, sondern in erster Linie an allem andern. Ich muß zuhause nicht die große Bibliothek der Weimarer Klassik stehen haben, um ein Gedicht für mich fruchtbar machen zu können, nein, ich brauche ein Sammelsurium an assoziativ passenden Filmen, Musikstücken, zeitgenössischen Techniken undsofort. Die Vergangenheit und die Geschichte eines Stückes interessiert mich höchstens noch in einem sehr geringen Masse, ist aber für die Verfertigung meiner Kritik nicht wichtig. Ich blicke nicht vor mich und nicht hinter mich, sondern um mich.
Zitat:
Denn beliebig über Beliebigkeit zu schreiben wäre ohne literarischen Wert. Siehst du einen Weg aus diesem Dilemma?
Kritik im Panoramablick der Globalisierung. Das Leben als Serie von Parallelschicksalen. Die vermeintlich individuelle Figur als Produkt mehrerer Realitätsfragmente. Portfolio–Existenzen. Linearität ist tot. Ein einzelner Song von Phillip Boa ist als Schlüssel möglicherweise genauso wichtig wie der ganze Goethe. Auch die Kritik selbst kann – oder muß – innerhalb dieses Wahrnehmungsgeflechts keine isolierte Existenz mehr führen. Es bleibt das schlichte, aber ehrliche Eingeständnis, daß Kunst und Kritik immer in Symbiose leben, daß es das eine ohne das andere nicht gibt, daß die Kunst Kritik zum Zweck der Öffentlichkeitsarbeit, der Multiplikation, manchmal auch der Skandalisierung braucht, und daß der große Reiz an der Kritik darin besteht, im inspirierenden Nahkontakt mit der Kunst existieren zu dürfen. Alles andere wäre gelogen.
In Zeiten zunehmender Kommerzialisierung und abnehmender Staatsgewalt werden Intellektuelle unwichtiger, sind nicht mehr auf historischer Mission, werden nicht mehr für die Stimme des Volkes oder Berater der Mächtigen gehalten. Die so genannte ‚Internetliteratur’ beschert in der elektronischen Kommunikation den Lesern eine Informationsverstopfung, die künstliche Intelligenz geht mit einem Verfall der Fantasie und Intelligenz der Menschen einher. Diese Autoren sind nicht einmal Randfiguren der holzverarbeitenden Industrie. In der Marktwirtschaft ist ihre Literatur ein Sozialfall. Ein Schriftsteller ist jemand, der aus wirklichen Stimmen andere Stimmen heraushört. Das literarische Feld, das durch diese zugleich literarische und politische Gruppierung geprägt war, läßt sich unter dadurch beschreiben, daß seine Zentralfiguren aus ihrem kulturellen Erfolg das Recht zu dissidenten politischen Stellungnahmen ableiteten. In gewisser Weise haben es Publikum, Kritik und Standesorganisationen sogar als den wirksamsten Maßstab des kulturellen Erfolgs gewertet, mit wie abweichlerischen politischen Ansichten man in der öffentlichen Diskussion durchkam, ohne daß einen die eigenen Leute zur Ordnung riefen. Die Autoren sind "Mitarbeiter einer Großindustrie, die hinter einer rational getarnten Kalkulationsmystik ihre Ausbeutung verschleiert", schrieb Heinrich Böll 1969. Unter all den am Produkt Buch Beteiligten ist der geistige Urheber der am schlechtesten Bezahlte. Die singuläre Tätigkeit, die kein anderer leisten kann, wird ökonomisch gesehen am geringsten geschätzt, auch das ist ein Gradmesser für Kultur. Es gilt gegen eine Wand des falschen Bewußtseins anzureden, der Lüge, Leugnung, Unterdrückung, der Spaltung, der Infantilität und zynischen Paralyse, die Kerkerwand des Hochmuts, der erstarrten Potenz, die Glaswand der Unwirklichkeit und die isolierende Wahnwand der Verzweiflung, die zu durchschreiten ist. Literatur zeigt wieder den Entwurf für das, was möglich ist. Wir dürfen die Wörter nicht in Büscheln hinwerfen, so wie sie gerade kommen. Wir müssen Sträuße daraus binden. Ansonsten gehen wir in diesem Ozean aus Wörtern unter. Und anstatt den Zugang zur Kultur zu erleichtern, würde wir ihn nur erschweren. Wenn diese Etüden der Leere gemeint sind, dann hätten die Kritiker Recht, auch wenn es sich um Ausnahmen handelt, nicht selten um Fälle aus der ästhetischen Provinz. Es lohnt sich diesem Affekt nachzugehen, denn in ihm wohnt, wohlwollend formuliert, ein Bedrohungsgefühl, eine symptomatische Furcht. Es ist das Gefühl, daß wir nicht wahllos mit Gedichten, mit Geschichten und Erzählungen verfahren können, weil der Mensch ein selbstinterpretierendes Wesen ist, das ohne Traditionen und Bilder verloren ist. Im Symbolischen steckt etwas von ihm selbst – und wer es zertrümmert, behält nur die negative, die bilderlose Freiheit zurück. Aus der Zerstörung von Harmonien laßen sich neue, zufällige Zusammenhänge konstruieren, welche die diffus versprengte Gleichzeitigkeit der Weltwahrnehmung weit authentischer widerspiegelt und zugleich einem momentanen Gefühl Ausdruck gibt. Es gibt Vater–Sohn–Dramen, Vater–Tochter–Dramen, mit Migranten– und ohne Migrantenhintergrund, Berlin–Romane, Leipzig–Romane, Stipendiaten–Romane, Internats–Romane, von allem etwas, alles beachtlich. Aber richtig begeistert ist niemand. Nicht einmal verärgert. Wir beurteilen Bücher, die sich auf Wirklichkeit berufen, Autobiografien, aber auch "historische Romane" nicht allein nach ästhetischen Maßstäben. Literatur erzählt Fiktionen, erfindet Geschichte und Geschichten. Das Bestreben nach Einfachheit, Halt und Bedeutung wird von Romanen stets besser befriedigt als von der Wirklichkeit. Die Literatur hat eine ethische Aufgabe: Sie hat die ungekämmte, struppige Wirklichkeit zu frisieren, in eine tröstliche Form zu bringen. Niemand würde sie deshalb heute mehr wie einst Platon der Lüge und Täuschung bezichtigen. Was aber, wenn sich die Literatur auf die Wirklichkeit einläßt? Wenn sie reale Geschichte nacherzählen will wie im historischen Roman oder im Drama? Kann sie dann lügen? Maria Stuart und Elisabeth I. etwa waren zum Zeitpunkt ihres Konflikts um einiges älter als bei Schiller – war diese Verjüngungskur nun ein genialer Kunstgriff oder eine Verfälschung der historischen Wahrheit im Dienste des Kitschs?
1943Karl - 02.07.2008 um 15:06 Uhr
Lieber Matze,
Menschen leben auch von Mythen, die häufig Idealen näher sind als die Realitäten. Damit entstehen Ansprüche an die Art, wie wir Menschen leben könnten,. Ich meine, diese "moralische" Aufgabe sollte Literatur auch weiter erfüllen dürfen. Selbstverständlich lassen sich Mythen auch missbrauchen. Im so genannten Dritten Reich dienten die germanischen Mythen den Machthabern für deren unmenschliche Zwecke. Aber auch das christliche Buch der Bücher wird bis heute machtmissbräulich eingesetzt, obwohl es Liebe verkünden will.
Aber auch die lässt sich (offenbar ähnlich wie der Koran) bekanntlich missbrauchen.
Ich gebe dir recht: Als zeitgemäßer Autor geht es darum, aus der Realität Geschichten und Situationen herauszufiltern (u.a. durch Recherche) und diese so zu Gedichten, Geschichten etc. weiterzuschreiben, dass sie den Lesern Reflexion und Weiterentwicklung ermöglichen.
Ich hoffe, ich habe dich richtig verstanden.
Danke für deine ertragreichen Ausführungen
und herzliche Grüße
Karl
Matze - 03.07.2008 um 05:53 Uhr
Lieber Karl,
wohl wahr, bei der B’russia texteten die Fans den lächerlichen Slogan: „Der Mythos kehrt zurück.“
Zitat:
Menschen leben auch von Mythen, die häufig Idealen näher sind als die Realitäten. Damit entstehen Ansprüche an die Art, wie wir Menschen leben könnten,. Ich meine, diese "moralische" Aufgabe sollte Literatur auch weiter erfüllen dürfen
Im alten Griechenland war der günstige Augenblick ein Gott: Kairos, der Moment, in dem Entscheidendes geschieht, was weder vorher noch hinterher so hätte geschehen können. Maetre Bourdieu demonstrierte, was die einen an den anderen auszusetzen haben, an dem Spiel um Distinktionsgewinne teilhat, das die kulturelle Form der aktuellen Klassenkämpfe darstellt. Alles, was Adorno über die Kulturindustrie, über den Kunst– und Musikgeschmack der Massen geschrieben hatte, war als wahrhaft kritische Theorie verloren zu geben. Niklas Luhmann arbeitet scharf Ideen aus, die Freud 1925 über "Die Verneinung" formuliert hatte: einen zentralen Mechanismus der gesellschaftlichen Systembildung. Verneinung, Negation (Kritik) erlaubt, adverse Themen und Informationen ins individuelle Bewußtsein respektive die gesellschaftliche Kommunikation aufzunehmen und zu bearbeiten – die endgültige Vernichtung dagegen folgt der berühmten Hamburger Devise: gar nicht erst ignorieren. Luhmanns Beobachtungen gelten auch für die kulturelle Opposition. Verrisse bereiten die Kanonisierung vor. Seine Beobachtungen haben ein allgemeines Kontingenzbewusstsein befördert, das die ästhetische Kritik gründlich entmächtigt hat. Es ist eben unmöglich, ein Buch, ein Bild, ein Musik– oder Theaterstück, einen Film durch scharfe und genaue Kritik aus dem Wahrnehmungsraum wieder zu vertreiben, im Gegenteil, das sind alles Einbürgerungsmassnahmen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts versteckt sich das Göttliche in den Verehrungsritualen der Pop–Literatur, und auch der Kairos hat hier seinen Ort gefunden. Immer wieder geschieht es, daß aus dem Nichts welche auftauchen, die den richtigen Ton zur richtigen Zeit treffen, und alle wissen plötzlich: Das ist es. Diese Magie scheint zyklischen Gesetzen zu folgen: Manchmal kann ein Prinzip, eine Geste, ein Gefühl nach Jahrzehnten wieder richtig sein, obwohl es zwischendurch ganz falsch war. Doch fassen und in Quartalspläne und Umsatzprognosen eintüten kann man den göttlichen Kairos nicht – zum Leidwesen der Plattenindustrie, die seinen Glanz zu verwalten und in Business zu verwandeln hat. Interpretation muß nicht Reduktion auf Eindeutigkeit sein, sie muß das kunstvoll Verdichtete nicht geschwätzig aufblasen zu ausufernder Redundanz. Sie kann auch die Mehrdeutigkeit bewußt machen und sich als hilfreich erweisen beim Verständnis von Strukturen, die sich gerade nicht ohne Rest auflösen laßen in Sätze der Alltagslogik. Die offene Gesellschaft stößt nicht nur auf Widersacher, die von außen kommen. In ihrer Mitte leben Menschen, die der Offenheit und der damit verbundenen Anstrengungen – unendliche Diskussionen oder verschärfte Selbstverantwortung – müde werden. Die Feinde der Freiheit und die von der Freiheit Überforderten sind es, die mich zu einem Bekenntnis bewogen haben. Ich lege es stellvertretend für die Moderne ab und fordere die Leser dazu auf, es mir gleichzutun. Gewiß, das Bekenntnis ist nicht gerade das typische Medium einer Zivilisation, die den Zweifel, die Skepsis und die Kritik kultiviert hat. Aber, bedrängt von vormodernen Glaubensbekenntnissen, sieht sich auch die Moderne, ohne selbst eine Religion zu sein, dazu herausgefordert, durch öffentliche Artikulation ihrer Prinzipien genau das zu leisten, wozu Glaubensbekenntnisse in der Religionsgeschichte immer gedient haben: Selbstvergewisserung und Grenzziehung. Dabei will mein Bekenntnis zur einen Kultur des Abseitigen keines des unverbrüchlichen Glaubens sein, sondern ein Vermutungsbekenntnis. Dieser Vorsicht entspricht, daß die Selbstvergewisserung nicht in ein – sprichwörtlich stinkendes – Selbstlob abgleiten soll. Für die Zukunft des Westens ist es entscheidend, das Augenmerk auf das Privatleben zu lenken und es als Quelle des Selbstbewusstseins zu erschließen. Die Menschenrechte und den Rechtsstaat zu verteidigen, reicht nicht hin. Ausgeblendet wird dabei dasjenige, wofür unabhängige Literatur gut sein soll, zu welchem Zweck also die Rahmenbedingungen des Zusammenlebens geschaffen worden sind: nämlich für die individuelle und höchstpersönliche Suche nach Erkenntnis. Nachdem das Steigerungsspiel die Moderne motorisiert und den Horizont der Möglichkeiten ins Unendliche erweitert hat, ist es dringend nötig, an den Fähigkeiten zu arbeiten, die gewonnenen Spielräume mit Sinn und Verstand auszukosten. Die Talente sind dem Menschen zur Glückssuche mitgegeben, sie müssen gepflegt und vermehrt werden, eine Moral der Selbstentfaltung ist erstrebenswert, wenn die Moral der Selbstbezogenheit zu einer Moral wird, die mich anderen verpflichtet.
Grüßken, Matthias Hagedorn
LX.C - 03.07.2008 um 15:50 Uhr
[Quote]Ein tragisches Geschick vollzieht sich, scheint mir, an der polnischen Literatur. Sie war eine Säule des Volkes, - solange das Volk unterjocht war. Nun man frei ist, wird aus der Säule ein Dekorationsstück. Wie überall.[/Quote]
Quelle: Döblin, Alfred: Reise in Polen, dtv, München 2006, S. 58.
Matze - 03.07.2008 um 19:26 Uhr
Noch ist Polen nicht verloren.
1943Karl - 03.07.2008 um 21:59 Uhr
Lieber Matthias,
das ist ja fast schon ein literarisches Manifest, das du da ausgebreitet hast.
Für mich entspricht es dem einer demokratischen Literatur, allerdings nicht einer, die durch Massenabstimmung bewertet werden kann, sondern eher einer, die dem (auch wesentlich demonkratischen)Schutz von Minderheiten dienen kann.
Ich habe mich längere Zeit kulturpolitisch (als eben jener Vorsitzende eines Stadtverbandes Kultur) betätigt. Und gerade dort bin ich immer wieder dem Spannungsfeld Kunst und Mehrheitsgeschmack begegnet. Nicht selten traten dort Künstler und selbst ernannte (häufig arrogante) Kunstsachverständig auf, die sich das Alleinbestimmungsrecht in der Frage, was denn nun Kunst sei und was nicht , anmaßten. Sie erhoben Kunst und Kultur zum Religionsersatz und maßten sich
Kunstpäpstlichkeit an, als seien sie die Stellvertreter ihres Kulturgottes auf Erden.
Für mich ist die spannende Frage, wie Kunst und Kultur (und natürlich Literatur) unter demokratischen Bedingungen vor der Nivellierung durch Mehrheitsbeschluss geschützt werden kann. Oder die Frage anders gestellt : Wie ist zu verhindern, dass Demokratie zur Diktatur der Mehrheit wird.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich klar genug äußern konnte und bin dennoch gespannt auf deine Antwort.
Herzliche Grüße
Karl
Matze - 04.07.2008 um 11:10 Uhr
Lieber Karl,
dat is wohl wahr:
Zitat:
Für mich entspricht es dem einer demokratischen Literatur, allerdings nicht einer, die durch Massenabstimmung bewertet werden kann, sondern eher einer, die dem (auch wesentlich demokratischen) Schutz von Minderheiten dienen kann.
Die deutschsprachige Verlagsszene steht in einem stärker werdenden ökonomischen Druck steht der Zwang gegenüber, kostspielig Profil zu zeigen. Wenn Suhrkamp als der strenge Orden gilt, S. Fischer als das solide Haus mit Vergangenheit, Rowohlt als internationaler Gemischtwarenladen, Hanser als Zuhause für Bestenlisten–Gewinner und Nobelpreisträger, dann ist man geneigt, daraus zu schließen, daß eben nicht alles bei allen erscheint und eben das ihnen ihr Profil gibt. – Weit gefehlt. Nicht nur sind es dieselben Verlage, die in New York, London oder Zürich um die internationalen Erfolgstitel kämpfen, die sie sich offenbar immer alle sehr gut bei sich vorstellen können. Genauso ließen sich junge deutschsprachige Autoren in der Regel problemlos auch in das Programm der sogenannten Konkurrenz einbauen. Offensichtlich gründen sich die Identitäten der Verlage mehr in der Vergangenheit als in der Gegenwart. Gewiß, Walter Benjamin ist typisch Suhrkamp, Isabel Allende aber eben nicht. Und unter den jüngeren Autoren welche zu finden, die unverwechselbar das Profil ihres Verlages wiedergeben, dürfte nicht ganz einfach sein. So markant viele Verlegerpersönlichkeiten auch, so austauschbar scheinen oft ihre Programme. Nur zwei Beteiligte dieser „Wertschöpfungskette“ wehren sich dagegen: der Autor und der Leser. Letzterer bestimmt schließlich, was in seine Regale kommt. Und Ersterer bleibt der Garant einer auch in Zukunft jeden Einzelnen ernst nehmenden Kunst. Manchmal sind in diesen windstillen Zeiten ungeschriebene Bücher spannender als jene, die den Weg auf den Büchertisch finden. Joseph Roths kühne Vorstellung zum Beispiel, einen Roman in weniger als drei Wochen schreiben zu können, oder die Krimipläne von Ernst Jandl. Wenn es bei Texten nicht darum geht, was der Autor gemeint hat, sondern was der Leser liest, ist für den Text nicht der Autor verantwortlich, sondern der Leser. Ist es dann noch sinnvoll Bestseller zu rezensieren?
Grüßken, Matthias Hagedorn
1943Karl - 04.07.2008 um 17:18 Uhr
Diese Nachricht wurde von 1943Karl um 17:19:19 am 04.07.2008 editiert
Lieber Matthias,
selbstverständlich gilt nicht das, was der Autor sagen will, sondern das, was der Leser aus dem Text für sich herausliest. Wahrscheinlich kennst du auch das Phänomen, häufig ("rein zufällig) genau das Buch zu finden, das du zu der Zeit für die eigene Erkenntnis dringend gebraucht hast.
Leider finde ich in letzter Zeit immer öfter Bücher, die mir nichts sagen, die ich gerade nicht gebraucht habe.
Im Übrigen bin ich mir gar nicht sicher, ob ich zum Beispiel den Satz "Ja, genau so ist es!" nach einer meiner Lyriklesungen als Kompliment werten soll. Obwohl ich weiß,dass Selbstversicherungen häufig der Grundstein für Weiterentwicklungen sind, führen Texte mit dieser Bewertung kaum zu einer Auseinandersetzung beim Zuhörer/Leser. Meine Texte sind jeweils immer eine prozesshafte Auseinandersetzung mit Erlebnissen und Bedeutungen. Ich möchte Gemüter und Gedanken bewegen... . Leider gelingt mir das viel zu selten
Herzliche Grüße
Karl
Matze - 05.07.2008 um 13:37 Uhr
Lieber Karl,
es gibt unterschiedliche Ansichten, ob zwischen Künstler und Kunde eine Instanz benötigt wird. Ja, meint der Künstler, wenn es eine werbende ist. Nein, sagt er, wenn es eine herabsetzende ist. Was der Kunde dazu denkt, sagt er gegebenenfalls dem Buchhändler. Seit einiger Zeit sagt er immer öfter: Nein. Was Literaturkritik leisten soll, ist nicht schwer zu verstehen. Sie berichtet darüber, wie Autoren im 21. Jahrhundert arbeiten und welche Themen sie beschäftigen. Der Schriftsteller, das Werk, die Institution, das öffentliche Interesse, das Angebot Literatur als "Fest des Denkens" (Heidegger), als Anlaß von theoretischen und gesellschaftskritischen Überlegungen wie ästhetischer Reflexion und Weltdeutung zu begreifen, all das kann hier zusammengeführt werden. Daher ist das kluge Referat in der Regel intellektuell aufregender als der brav abgefeuerte Schnellschuß zu etwelchen dräuenden Feuilletondebatten.
Zitat:
[size=1] selbstverständlich gilt nicht das, was der Autor sagen will, sondern das, was der Leser aus dem Text für sich herausliest.
Lange Zeit hatte die Kunst die zentrale Aufgabe, das darzustellen, was nicht sichtbar ist. Gott bzw. die Erfahrung Gottes, die Vorstellung vom Paradies sowie der Teufel und die Hölle wurden tausendfach auf Holztafeln und Leinwänden angerufen, beschwört, gebannt, verflucht; personalisiert durch irdische Vertreter, konturiert, ausgestaltet durch Landschaften, Licht und Dunkel. Viel später wurden, man denke an Gauguin, innere Landschaften oder, wie bei den Expressionisten, seelische Abgründe, Brachen, fast nicht mehr von dieser Welt scheinende Verschmelzungssehnsüchte (Rothko) und unbewußte Energien (z. B. Pollock) erkundet. Das Negativbeispiel eines distanzierten Schriftstellers ist Ernest Hemingway, weil er sich immer nur als Tourist durch die von ihm beschriebene Landschaft bewegt. Wo die Kunst früher das darstellen sollte, was nicht sichtbar ist, muß es im 21. Jahrhundert authentisch sein. Romane müssen journalistische Qualitäten aufweisen, "packend" und "dicht" sein, "spannend" wie ein Erlebnistrip, eine Reise. Und Krimis lesen sich ohnehin am besten. Sind wir wirklich so weit gekommen, daß wir nur das für authentisch halten, was sich mimikryhaft als Realität gebärdet?
Grüßken, Matthias Hagedorn
JH - 05.07.2008 um 13:53 Uhr
Diese Nachricht wurde von JH um 13:55:00 am 05.07.2008 editiert
Zitat:
später wurden, man denke an Gauguin, innere Landschaften oder, wie bei den Expressionisten, seelische Abgründe,
(...)
Was meiner Ansicht nach heute sehr naiv wirkt.
Zitat:
Wo die Kunst früher das darstellen sollte, was nicht sichtbar ist, muß es im 21. Jahrhundert authentisch sein.
Zitat:
Romane müssen journalistische Qualitäten aufweisen,
Nicht nur das, muss muss Autor in Leipzig studiert haben und Schüler gewisser Professoren sein.
Zitat:
"packend" und "dicht" sein, "spannend" wie ein Erlebnistrip, eine Reise.
Weil unser Leben langweilg ist, zum Kotzen langweilig gemacht durch uns selbst: Fahr mit der Alten zwei mal innen Urlaub, die Kids werden älter, wenn du was brauchst, geh dorthin wo du es bekommst.
Nothing is more boring than a traveler´s stroy. It is just like the toothless yawning of a lion in a sideshow. Kobo Abe, Traveling to Eastern Europe
Deswegen braucht es Action. Wie Mononatriumglutamat in der Gastronomie.
Zitat:
Sind wir wirklich so weit gekommen, daß wir nur das für authentisch halten, was sich mimikryhaft als Realität gebärdet?
Darauf sind wir konditioniert. Die Realität war immer schon eine Aneinanderreihung von Klischees. Alles steht zum Verkauf und wir sind Geister.
Es gibt nichts mehr abseits der ankonditionierten Erwartungshaltung. Es wird nur Noch mehr draufgepackt.
Logic such as this transcends our ordinary use of the word. It can perhaps be understood as an experience similar to that encountered by a person who is trying to prove a theorem in geometry who suddenly discovers an unexpected subsidary line. Physicists are right when they say that we need some neww labels for reality." Kobo Abe, 1975
Matze - 05.07.2008 um 14:00 Uhr
Zitat:
[size=1]Nicht nur das, muss muss Autor in Leipzig studiert haben und Schüler gewisser Professoren sein.
Über die Schreiberlinge, die in Hildesheim oder Leipzig ausgebildet werden läßt sich sagen, daß sie noch nie auf einem breiten Niveau so gut schreiben konnten wie heute, aber so wenig mitzuteilen haben wie nie zuvor. Diese oberflächliche Zeitgenossenschaft hat mit Interpretation und mit Stellungnahme zu einer ohnedies kaum mehr bekannten Tradition nichts zu tun. Es geht es in diesen Berichten weniger um das Literarische an sich – und vielmehr um die Möglichkeit der Identifikation. Diese Art von Texten sind zu abgetrennt vom Leben, auf der anderen Seite wirkt das, was zum Kulturleben so landläufig dazugerechnet wird, wie Versatzstücke, mit denen beliebig gehandelt wird, weil jeder angeblich Kunst machen kann. Und: Nicht jeder kann ein Künstler sein. Die Epigonen in unserer Gegenwartsliteratur sterben nicht aus, nein, sie vermehren sich unablässig. Sie reüssieren auf dem literarischen Markt mit Texten, die schnell erfassbare Oberflächenreize haben, demonstrativ ihre eigene Machart signalisieren und sich bei Literatur–Wettbewerben gut in kleinen Portionen vorlesen laßen. Diese déformation professionelle droht jedem Autor, der sich den autistischen Kommunikationsformen des Literaturbetriebs überläßt. Dann entsteht der Typus des außenorientierten Schriftstellers, der zwar die Kodizes der eigenen Zunft sehr genau kennt, aber über den Tellerrand des Gewerbes nicht mehr hinauszublicken vermag. Früh bahnt der Literaturbetrieb den Talenten den Weg und hat sie dann ständig unter Einfluss und Kontrolle, macht aus ihnen Schriftsteller, die nur noch mit Schriftstellern umgehen und schließlich nur noch etwas über Literatur wissen und Literatur herstellen, die sich nur mit sich selbst befaßt.
JH - 05.07.2008 um 14:42 Uhr
Zitat:
Über die Schreiberlinge, die in Hildesheim oder Leipzig ausgebildet werden läßt sich sagen, daß sie noch nie auf einem breiten Niveau so gut schreiben konnten wie heute, aber so wenig mitzuteilen haben wie nie zuvor.
Exakt. Wie auch in der Politik: Polarisierung stets im Sandkasten, wenn auch mit weniger Energie. Wer Lem gelesen hat, weiß um die Informationszucht solcher Brutstätten.
Zitat:
Diese oberflächliche Zeitgenossenschaft hat mit Interpretation und mit Stellungnahme zu einer ohnedies kaum mehr bekannten Tradition nichts zu tun. Es geht es in diesen Berichten weniger um das Literarische an sich – und vielmehr um die Möglichkeit der Identifikation.
Und anschließender Kategorisierung sowie Verfassen eines Remakes eines Remakes - geschrieben vom Ghost-Writer.
Zitat:
Und: Nicht jeder kann ein Künstler sein. Die Epigonen in unserer Gegenwartsliteratur sterben nicht aus, nein, sie vermehren sich unablässig. Sie reüssieren auf dem literarischen Markt mit Texten, die schnell erfassbare Oberflächenreize haben, demonstrativ ihre eigene Machart signalisieren und sich bei Literatur–Wettbewerben gut in kleinen Portionen vorlesen laßen.
Darum sind mir diese Clubs mit den kleinen Bühnen und dem verrauchten Ambiente so verhasst. Da werden Nichtigkeiten mit Lebensbeichten aufgeblasen, wenn einer nur mal 50 Cent verloren hat erinnert ihn das an das Universum. Zum Schluss noch mit etwas Anti-Aging Witz überzuckert, fertig ist die grün-klebrige Masse.
Zitat:
Diese déformation professionelle droht jedem Autor, der sich den autistischen Kommunikationsformen des Literaturbetriebs überläßt. Dann entsteht der Typus des außenorientierten Schriftstellers, der zwar die Kodizes der eigenen Zunft sehr genau kennt, aber über den Tellerrand des Gewerbes nicht mehr hinauszublicken vermag. Früh bahnt der Literaturbetrieb den Talenten den Weg und hat sie dann ständig unter Einfluss und Kontrolle, macht aus ihnen Schriftsteller, die nur noch mit Schriftstellern umgehen und schließlich nur noch etwas über Literatur wissen und Literatur herstellen, die sich nur mit sich selbst befaßt.
Siehe Gruppe 47 & Co.
Fruchtwasserblasen voll mit Kosmopolitischen Eliten aus Symbolanalytikern. Wo ist der Tucholsky Android, der die BoBos aus den Pop-Clubs jagt. Vor ihrer totalen Vernichtung auf dem Laufsteg in Richtung Grab vielleicht noch ein letztes "Was kostet die Welt".
Matze - 05.07.2008 um 14:46 Uhr
Zitat:
Wo ist der Tucholsky Android, der die BoBos aus den Pop-Clubs jagt. Vor ihrer totalen Vernichtung auf dem Laufsteg in Richtung Grab vielleicht noch ein letztes "Was kostet die Welt".
Auch ich vermisse in Deutschland immer noch die selbstverständliche, breite, alltägliche Debatte über den Wert der Künste. Wie die Forschung sind sie bereichernd für die subjektive Entwicklung und für die Visionskraft der Gemeinschaft. Diese Debatte wäre ein Zeichen für die gesellschaftliche Wertschätzung der Arbeit von Künstlerinnen und Künstlern – auch und gerade dann, wenn die Ergebnisse unbequem sind und uns herausfordern, irritieren oder schockieren. Man kann die Welt durch die Linse einer Digicam betrachten. Man kann sie auch in mathematische Formeln aufspalten. Man kann Rede und Antwort stehen, wenn man über sie interviewt wird. Oder man kann sie sich selbst in Sonettform erzählen. Es gibt viele verschiedene Möglichkeiten, die Komplexität der Dinge und die des eigenen Lebens herunterzubrechen auf ein Maß, mit dem man sich arrangieren kann. Wirklich leichter wird es dadurch nicht. Auch nicht in einem Essay. In der Begegnung mit der Natur, mit dem Gegenüber, mit der Kunst. Neues, das aus Gewordenem nicht folgt ist anders gesagt: Freiheit. Augustinus´ Wort „initium ergo ut esset, creatus est homo“ (der Mensch ist geschaffen, damit ein Anfang sei) ist mein Leitmotiv. Ich sehe den modernen Menschen einer zunehmend ausgreifenden Kontroll– und Orientierungswut seitens gesellschaftlicher Instanzen ausgesetzt. Der Typus Ignorant folgt läuft willig den Trends; im Kunstbetrieb sucht er vor allem eine Bestätigung der eigenen Lebensmaximen. Der unterdrückte Mensch, von dem wir alle etwas in uns haben, ergibt sich in die Sklaverei des Systems. Im ganz konkreten Tun, im tätigen Leben, in der vita activa, wie es Hannah Arendt auf den Begriff brachte. Mehr und mehr Menschen zeigen sich der Herausforderung des Überrascht–Werdens durch den allgegenwärtigen Reichtum der konkreten Welt nicht mehr gewachsen. Sie verfügen nicht mehr über die Konzentrationsfähigkeit und das Fokussierungsvermögen, um z.B. die Poesie einer verrosteten Dachrinne zu entdecken. Die Formel der Kulturkritik, die Hinwendung zum eigenen Leben ist nur noch nur Affirmation, das abgeschmackte Ergebnis einer dekadenten Spaßgesellschaft, in der die Werte verfallen und der Egoismus regiert.
1943Karl - 05.07.2008 um 18:46 Uhr
Diese Nachricht wurde von 1943Karl um 18:47:35 am 05.07.2008 editiert
Liebe Matze,
wenn ich deine Literaturkritikkritik so lese, dann frage ich mich zwischendurch, ob du nicht eigentlich auf die zunehmende gesellschaftliche Dekadenz hinweisen willst, die sich selbstverständlich auch am Zustand von ihrer Kunst und Kultur messen läßt.
Ich beobachte immer häufiger, wie der Einzelne sich als ohnmächtiges Opfer des Systems empfindet und beschreibt. Dabei ändern sich Systeme bekanntlich nur bzw. auch schon, wenn eines seiner Teile ein anderes Spiel beginnt.
Außerdem habe ich jene typische Aussage der siebziger Jahre im Ohr, bei der immer wieder die Bewusstseinsänderung als Grundvoraussetzung für gesellschaftliche Veränderungen beschworen wurden. Zu viele aber verharren bis heute bei der Bewusstseinsveränderung und lassen die daraus möglicher Weise folgenden Taten vermissen. Ich glaube, auch Literatur lässt die Aufforderung zur Tat vermissen. Es reicht nicht zu wissen, wie es gehen könnte. Es beginnt, wenn begonnen wird. Nicht das Wissen der so genannten Wissensgesellschaft verändert sondern dessen Anwendung.
Herzliche Grüße
Karl
Der_Geist - 05.07.2008 um 23:41 Uhr
Na, Ihr seid ja hier mal böse. Wenn wo gelehrt wird, wie man schön schreibt, ist das doch in Ordnung. Warum muss denn immer gleich eine message verpackt oder die Welt gerettet werden? (...)
Wer message will, der muss Bukowski lesen, und schon schreien wieder alle. In der Literatur wird immer nur geschrien und kritisiert. Warum nicht einfach lesen?
Zitat:
Van Gogh bittet seinen Bruder um Farbe
Hemingway testet seine Schrotflinte an sich selber
Céline geht als Arzt pleite
die Unmöglichkeit, Mensch zu sein
Villon als Dieb aus Paris verbannt
Faulkner betrunken in den Gossen seiner Stadt
die Unmöglichkeit, Mensch zu sein
Burroughs erschießt seine Frau
Mailer sticht auf seine mit dem Messer ein
die Unmöglichkeit, Mensch zu sein
Maupassant wird wahnsinnig in einem Ruderboot
Dostojewski wird an die Wand gestellt
...
Lorca von spanischen Soldaten auf der Straße ermordet
die Unmöglichkeit
...
Nietzsche unheilbar verrückt
die Unmöglichkeit, Mensch zu sein
allzu menschlich
dieses Atmen
ein und aus
aus und ein
diese verkrachten
Existenzen
...
diese Feiglinge
diese Champions
diese glorreichen
verrückten Hunde
die das Unmögliche tun
und uns diesen
schmalen Hoffnungs-
schimmer erhalten.
aus Charles Bukowski - Roter Mercedes.
So? Wem ist was recht?
Lasst uns einfach schreiben, und lest es, oder lasst es bleiben. (Ich bitte explizit um Verhackstückung des letzten Satzes.)
Matze - 06.07.2008 um 06:31 Uhr
Lieber Karl,
wir leben im Zeitalter der Kognitionswissenschaften, die Fragestellungen der Natur–, Geistes– und Sozialwissenschaften werden übereinander geblendet, zugespitzt und neu bewertet. Die alten Unterscheidungen zwischen Natur, Geist und Gesellschaft interessieren mehr und mehr unter dem Gesichtspunkt der Einheit der Unterschiede, unter dem Gesichtspunkt, was jeweils sowohl für die Natur als auch für den Geist und für die Gesellschaft gilt. Die Frage nach intelligenten Erkenntnisleistungen ist dabei ganz konkret gemeint: Wie und von wem wird in Natur, Geist und Gesellschaft derart unterschieden, daß es dem Leben, dem Bewußtsein und der Kommunikation gelingt, sich zu reproduzieren?
Zitat:
[size=1] Es beginnt, wenn begonnen wird. Nicht das Wissen der so genannten Wissensgesellschaft verändert sondern dessen Anwendung.
„Ergründe die Menschennatur!“, heißt es einmal bei Kafka. Es ist dieser Seufzer, der zwischen den Zeilen und Szenen immer wieder zu hören ist. „Was ist der Mensch?“ Ein Krisengeschöpf, antwortet es in der Literatur. Der Mensch und mit ihm die Gesellschaft sind in endlose krisenhafte Vorgänge verwickelt; was gestern galt, kann morgen schon hinfällig sein. Das ist eine zentrale Erfahrung des beginnenden 21. Jahrhunderts. aufschlußreich ist dabei vor allem, welche Menschenbilder die Literatur vor diesem Hintergrund entwerfen. Das Krisengeschöpf Mensch hat mehrere Gesichter. Da gibt es den Typus des Unerlösten, der um die Unmöglichkeit von Erlösung weiß, die Sehnsucht danach aber nicht bezwingen kann. Der Unerlöste ist einer, der immerfort gegen die Sterblichkeit anbellt, heiser wird und am Ende verstummt. Ein Kämpfer wider das Unumstößliche, der eine ganze Welt in Bewegung setzt und doch nicht von der Stelle kommt. Mit beiden Beinen steht der Unerlöste im Sumpf der Gegenwart und berührt mit dem Herzen das Reich der letzten Dinge. Ein hysterisch Zerrissener, der keine Ruhe findet im abgesteckten Areal des Ich. Wartend auf Erlösung, jeder Erlösung aber mißtrauend. Ein existenzieller Hagelsturm geht über vertrocknete Seelenlandschaften nieder. Mit solchen Figuren wird ein vielfach gebrochener und durch das Säurebad der Aufklärung gegangener psychologischer Realismus entblättert. Aufgeklärt, weil jenseits des naiven Glaubens an bare Wirklichkeitsabschilderung, dennoch aber realistisch, weil angereichert mit genügend Wiedererkennungspotenzial. Man könnte aber auch sagen: Die Literatur ist damit wieder dort, wo es sich am besten auskennt – beim Menschen und bei dessen unergründlichen Verirrungen. Krisengeschöpfe allerorten.
Zitat:
Ich glaube, auch Literatur lässt die Aufforderung zur Tat vermissen.
Max Horkheimer und Theodor W. Adorno haben in ihrer "Dialektik der Aufklärung" von 1944 der Kulturkritik einen Weg gewiesen, der sich auf das Beste in die Fragestellungen der Kognitionswissenschaften einordnet. Ihr Begriff der Kulturindustrie, das heißt der industriellen Verfertigung der Unterhaltung von Massengesellschaften, bezieht sich zwar auf Immanuel Kant, aber Kant darf mit seiner Frage nach den Bedingungen der Selbsterkenntnis von Vernunft durchaus als einer der Großväter der Kognitionswissenschaften gelten. Horkheimer und Adorno jedenfalls halten als Ausgangspunkt ihrer Beobachtung der Kulturindustrie fest: "Die Leistung, die der kantische Schematismus noch von den Subjekten erwartet hatte, nämlich die sinnliche Mannigfaltigkeit vorweg auf die fundamentalen Begriffe zu beziehen, wird dem Subjekt von der Industrie abgenommen. Sie betreibt den Schematismus als ersten Dienst am Kunden. In der Seele sollte ein geheimer Mechanismus wirken, der die unmittelbaren Daten bereits so präpariert, daß sie ins System der Reinen Vernunft hineinpassen. Das Geheimnis ist heute enträtselt."
Grüßken, Matthias
1943Karl - 06.07.2008 um 19:18 Uhr
Lieber Matthias,
dem, was du schriebst, habe ich zunächst nichts hinzuzufügen. Auch diesmal Dank dafür!
Es erscheint mir, als zeichne sich ein neuer Kultur(en)-kampf ab. Da sind einerseits die religiösen Fundamentalisten (z.B. die Evangelikalen in den USA und die Islamisten), die auch unmittelbaren politischen Einfluss nehmen wollen, und andererseits die Aufgeklärten. Zeichnet sich da nicht auch ein Kampf zwischen Kognitionswissenschaften und Glaubensideologien ab. Und hält die Literatur sich nicht irgendwo dazwischen auf. Vielleicht kann sie darüber auch Lösungen anbieten. Die Fundamentalisten einfach nur ins Mittelalter verbannen zu wollen, ist mir zu einfach. Sie und ihre Bedürfnisse gibt es ja jetzt.
Ich kann das nicht fundiert begründen. Es handelt sich möglicher Weise auch nur um einen von mir erwünschten Verdacht.
Wie siehst du das?
Immerhin muss sich die Belletristik nicht der Kognitionswissenschaften bedienen. Und immerhin ist es Literatur schon häufiger gelungen, Erkenntnisse zu produzieren, die sich der aktuellen Wissenschaft (noch) nicht erschloss.
Herzlichen Gruß
Karl
Matze - 07.07.2008 um 05:55 Uhr
Lieber Karl,
von wegen Gnostiker und Emphatiker – am besten streiten läßt es sich mit den Dogmatikern. Das Christentum stellt den unbedingten Wahrheitsanspruch. Eine raffinierte Täuschung, die mit Luther und seinem Kampf gegen den Papst erstmals in Frage gestellt wird. Von Interesse sind die Veränderungen, die im Laufe der Zeit die Begrifflichkeit von Aufrichtigkeit erfährt. Sie pendelt zwischen Dummheit und extremer Verstellung. In der Kunst des Kartenspiels ist Verstellung essenziell. Schon führen uns die Überlegungen zu Nietzsche, dem Protestanten und Antichristen. Da gibt es wahrlich nichts zu lachen: alles Verstellung. Das Erfinden der Erkenntnis: die verlogensten Minuten der Weltgeschichte. Um zu überleben, muß der Mensch täuschen und sich täuschen, weiß der Philosoph und erklärt die ganze Kultur zum Verstellungskunstspektakel, die Kunst zur "echten, resoluten, ehrlichen Lüge".
Zitat:
Zeichnet sich da nicht auch ein Kampf zwischen Kognitionswissenschaften und Glaubensideologien ab. Und hält die Literatur sich nicht irgendwo dazwischen auf. Vielleicht kann sie darüber auch Lösungen anbieten. Die Fundamentalisten einfach nur ins Mittelalter verbannen zu wollen, ist mir zu einfach. Sie und ihre Bedürfnisse gibt es ja jetzt.
Goethe und Kant beschreiben den Paradigmenwechsel zur bürgerlichen Kultur der Aufrichtigkeit. Diese stößt schon bald an ihre Grenzen, wenn es um Fragen der Liebe geht. Das Stottern des Verliebten, seine Sprachlosigkeit kann Gefühle schnell abtöten. Aufrichtigkeit macht verletzlich und gelegentlich sehr einsam. Je zivilisierter, desto mehr Schauspieler, weiß Kant, und so eilt das aufklärungskritische Werk ins 18. Jahrhundert, zu den zentralen Figuren Goethe, Schiller und Racine, zu Bühne, Aufrichtigkeit im Roman und Maskenspiel.
Kleist und Flaubert wären ebenso zu nennen, und ihr Einfluß auf Kafka. So entstünde ein entsteht reger Briefverkehr mit Gespenstern, die sich ihrem Gegenüber entfernen. Eine unheimliche Dialektik zwischen Nähe und Distanz entsteht, während Flaubert in seinen privaten Briefen an Louise Colet die völlige Abwesenheit inszeniert: nur keine Gefühle! In seinen Romanen und Briefen wandelt Flaubert bei Bedarf sein Geschlecht, versteckt sein Leben in der Literatur und verschwindet als Autor schließlich im Text.
Damit kommt Odysseus herangerudert, der listenreich die Menschen fressenden Zyklopen blendet und besiegt. Er beweist, daß die List der körperlichen Stärke überlegen ist. Der kraft seines Verstandes siegende Odysseus wird in der Verwandlung des bürgerlichen Homo oeconomicus mit dem kapitalistischen Konkurrenzprinzip zur Natur des Menschen schlechthin erklärt. Bei Horkheimer und Adorno wird in der „Dialektik der Aufklärung“ der Sieg über die Sirenen zum Ursprung der Kunst im Zeichen der Gewalt. Oder wie bei GraSS, bei dem die Maske des Gutmenschen gefallen ist.
Kritik an der Kritik ist ein beliebtes Spiel, vor allem im Literaturbetrieb. Nur wird dabei zumeist der Gegenstand vergessen: die Literatur. "Wozu noch Literatur im 21. Jahrhundert?". Und das ist in aller Einfachheit exakt die Frage, die Literaturschaffende wie Kritiker sich gleichermaßen gelegentlich stellen sollten.
Grüßken, Matthias
JH - 07.07.2008 um 19:06 Uhr
Zitat:
„Ergründe die Menschennatur!“, heißt es einmal bei Kafka.
Bei Kafka heißt es auch:
Prüfe dich an der Menschheit! Den Gläubigen macht sie gläubig, den Skeptischen skeptisch.
1943Karl - 07.07.2008 um 19:30 Uhr
Lieber Matze,
immer wieder bin ich verblüfft über deinen Antworten, die offenbar auf einem überragenden Wissen basieren. Da komme ich mir dann schon manchmal recht klein und unwissend vor.
Dennoch stelle ich mir auch weiterhin die Frage, wofür Literatur im 21. Jahrhundert? Soll sie im Sinne konstruktivistischer Systemiker Lebensentwürfe vorstellen? Soll sie der Sinnlosigkeit zum Sinn verhelfen? Soll sie Denkfehler adeln und u.a. dadruch Lebenshilfe leisten? Oder soll sie auch weiterhin jenen, die ihre Mühe mit dem so genannten realen Leben haben, bei der Flucht in Fantasiewelten helfen? Soll sie in einer oberflächlichen Gesellschaft Tiefen ausloten? Soll sie ie Realitäten spiegeln und erweitern? Oder soll sie einfach nur zu möglichst grenzenloser Fantasie verhelfen.
Wann würde sie dein Kritikerherz höher schlagen lassen?
Herzliche Grüße
Karl
Matze - 08.07.2008 um 05:38 Uhr
Lieber Karl,
gute Fragen
Zitat:
Dennoch stelle ich mir auch weiterhin die Frage, wofür Literatur im 21. Jahrhundert? Soll sie im Sinne konstruktivistischer Systemiker Lebensentwürfe vorstellen? Soll sie der Sinnlosigkeit zum Sinn verhelfen? Soll sie Denkfehler adeln und u.a. dadruch Lebenshilfe leisten? Oder soll sie auch weiterhin jenen, die ihre Mühe mit dem so genannten realen Leben haben, bei der Flucht in Fantasiewelten helfen? Soll sie in einer oberflächlichen Gesellschaft Tiefen ausloten? Soll sie sie Realitäten spiegeln und erweitern? Oder soll sie einfach nur zu möglichst grenzenloser Fantasie verhelfen.
Wann würde sie dein Kritikerherz höher schlagen lassen?
Zunächst einmal sollte man sich wiesengrundsätzlich über das Verhältnis der Literatur zu ihrem Material wundern, der Sprache. Sklavisch gebunden ist diese an jene. Bildende Künstler bewegen sich schon lange jenseits von Farbe, Leinwand, Gips und Bronze. Komponisten haben nicht erst seit Cage Parameter wie Geräusch und Stille, also die Abwesenheit von gestalteter "Musik", für sich entdeckt, was die Anwesenheit struktureller Prinzipien, also die Komposition, keineswegs störte. Die Literatur aber bleibt zurückgeworfen auf leere Seiten und die Optionen des Alphabets.
Der US–amerikanische Klassiker Henry David Thoreau war der Ansicht, daß es Bücher gibt, die man "auf Zehenspitzen" lesen müsse. Thoreau forderte damit eine besondere Wachsamkeit der Leser ein sowie die Bereitschaft, sich einem Bedeutungsgehalt gegenüber zu öffnen, der dem flüchtigen oder auch bloß ersten Lesen entgeht. Es kann natürlich sein, daß man im Literaturbetrieb besonders eifrig das mach, was Autoren gern machen: einen Berg von Sprachgeröll und Handlungswust vor sich aufzubauen, nur damit sie ihn dann mühsam wieder abtragen können. Literatur als Baggerarbeit. Für die Poesie hat man dann natürlich keine Kraft mehr. Die Krise der Intelligenz ist auch eine Krise des Buches, und es stelle sich die Frage, ob das Buch seinen alten Platz als Träger der Erkenntnis behaupten wird. Auch jene, deren Publikation unbehindert geblieben ist, erreichen nur einen kleinen Teil der Leser, für die sie bestimmt und die ihnen bestimmt sind. Umso verwunderlicher erscheint eine Art von Reflexionsverweigerung in der Literatur. Während Musik und bildende Kunst, selbst Architektur, sich ständig in einem ästhetischen Diskurs befinden, der die Möglichkeiten des Materials immer wieder mit dem Gestaltungswillen der Künstler, den Projektionen und Utopien abgleicht und so erst einen fortdauernden Begriff von Moderne ermöglicht, verharrt die Literatur behaglich vor einem ästhetischen Horizont aus dem 19. Jahrhundert. Schriftsteller sollten ästhetische Debatten führen, das ist ihr Metier. Jede ästhetische Debatte hat auch moralische und politische Implikationen. Parteigänger muß man deshalb noch lange nicht werden.
Flaubert, der in seiner Gegenwart weder große Sujets noch große Gestalten entdecken kann, konstatiert während der Arbeit an seiner »Education sentimentale«: „La beauté n´est pas compatible avec la vie moderne.“ Mit andern Worten: „Wie kann man erzählen, wenn es nichts mehr zu erzählen gibt?“ Flaubert löst das Problem, das sich ihm zunächst als ein inhaltliches stellt, indem er formale Verfahren entwickelt, die es ihm ermöglichen, die Abfolge von Belanglosigkeiten wiederzugeben, als die ihm das moderne Leben erscheint. Er macht seinen durchschnittlichen Protagonisten zum Perspektiventräger und verzichtet darauf, das Geschehen durch einen Erzähler zu kommentieren. Während Flaubert sein Schreiben noch in der Tradition des realistischen Romans sieht, setzt sich Proust bereits vom Realismus ab, dem er vorhält, statt zur Wahrheit subjektiver Erlebniswirklichkeiten vorzudringen – was seiner Auffassung nach bedeuten würde, diese im Werk zuerst hervorzubringen –, nur die äußere Realität in stereotypen Formeln zu erfassen. Robbe–Grillet, der Wortführer des Nouveau Roman, nimmt diesen Vorwurf auf: Der realistische Schriftsteller richtet sein Schreiben an den Schemata aus, die seine Leser von der Wirklichkeit haben. Deshalb muß der moderne Autor auf herkömmliche Kategorien wie Figur und Geschichte verzichten. Das traditionale Erzählen erscheint hier als eine entleerte Konvention – ein Argument, mit dessen Hilfe sich der realistische Roman der Gegenwart pauschal der Unterhaltungsliteratur zurechnen ließ. Dem als Programmatiker der neuen Schreibweise auftretenden Autor wird man die polemische Zuspitzung seines Arguments nicht verargen.
Seit sich die Literatur gegen Platons Vorwurf der Lüge verteidigen muß, gibt es eine Geheimabsprache zwischen Autor und Leser, die so genannte Fiktionalität. Darin steht, daß die dichterische Rede den Anspruch auf Wahrheitsbehauptung suspendiert. Solange man nicht behauptet, die Wahrheit zu sagen, kann man auch nicht lügen. Als Aristoteles in Abgrenzung zum platonischen Vorwurf der Lüge sein poetologisches Prinzip der nachahmenden Mimesis begründete, ging es ihm nicht um die Imitation der Umgebung zur Überlistung von Fressfeinden, sondern um eine Zielvorstellung, die sich als Interpretation des Wirklichen durch literarische Darstellung beschreiben läßt. Dieses Konzept, das der abendländischen Literaturauffassung bis heute zugrunde liegt, verlangt von der Dichtung selbstverständlich ein gewisses Maß an realistischer Glaubwürdigkeit. Ebenso offensichtlich ergibt sich daraus die Frage, wie viel historische Faktizität in literarischen Texten notwendig, erwünscht oder erlaubt sei. Mit Sicherheit wird jeder Schriftsteller für sich das Recht in Anspruch nehmen, seine diesbezüglichen Entscheidungen in künstlerischer Freiheit zu treffen.
Grüßken, Matthias
1943Karl - 08.07.2008 um 18:44 Uhr
Lieber Matthias,
deine Antworten und meine Fragen beginnen sich im Wesentlichen zu wiederholen. Vielleicht sollten wir es mit der inzwischen sehr langen Auseinandersetzung, an deren Anfang mein relativ kurzer Text stand, bewenden lassen. Mir fällt bei aller berechtigten Forderung nach Kreativität vorerst nichts mehr ein, das es verdienen würde, aufgeschrieben zu werden.
Es hat mir in jedem Fall viel Spaß gemacht und ich habe von dir eine Menge gelernt.
Dafür bedanke ich mich herzlich. Und es wäre mir sehr recht, wenn sich demnächst wieder eine Gelegenheit böte, so intensiv Meinungen und Wissen auszutauschen.
Sei herzlich gegrüßt
Karl
Matze - 09.07.2008 um 06:11 Uhr
Lieber Karl,
die Grenzen des ‚kritischen Bewusstseins’ sind klar geworden. Spezialisierte Literaturkritik ist selber falsches Bewußtsein, Ideologie im dialektisch–materialistischen Verstand. Zu retten ist sie nur, wenn sie in Gesellschaftskritik übergeht. Die Kritik ist, bedrängt durch die Konsumindustrie, auf dem Rückzug. Literatur, das sind winzige Buchstaben, große Worte und kein Geschäft. Deshalb versuchen Medienmacher jenseits konkreter Alltagserfahrungen, das Unfaßbare, Unaussprechliche von Poesie einzufangen. Die einzige Disziplin, der ein avancierter Intellektueller einstmals nachgehen durfte, war die Gesellschaftskritik. Diese Kritik entwarf sich selbst als Hegemonialmacht mit universaler Deutungskompetenz; allüberall, in einer Grußformel, einem Reklameslogan, einem Hollywoodfilm vermochte sie das falsche Bewußtsein, wie diese Gesellschaft es notwendig erzeugt, aufzustöbern und in ein richtiges, das heißt kritisches Bewußtsein zu verwandeln. Dort, wo die Theorie dingfest gemacht werden soll, gibt es einen Irrgarten aus Wörtern, den man – systematisch denken! Assoziation! – nicht chronologisch durchwandert, sondern durchstreift, von Stichwort zu Stichwort.
Zitat:
deine Antworten und meine Fragen beginnen sich im Wesentlichen zu wiederholen.
In Zeiten zunehmender Kommerzialisierung und abnehmender Staatsgewalt werden Intellektuelle unwichtiger, sind nicht mehr auf historischer Mission, werden nicht mehr für die Stimme des Volkes oder Berater der Mächtigen gehalten. Die so genannte ‚Internetliteratur’ beschert in der elektronischen Kommunikation den Lesern eine Informationsverstopfung, die künstliche Intelligenz geht mit einem Verfall der Fantasie und Intelligenz der Menschen einher. Diese Autoren sind nicht einmal Randfiguren der holzverarbeitenden Industrie. In der Marktwirtschaft ist ihre Literatur ein Sozialfall. Ein Schriftsteller ist jemand, der aus wirklichen Stimmen andere Stimmen heraushört. Das literarische Feld, das durch diese zugleich literarische und politische Gruppierung geprägt war, läßt sich unter dadurch beschreiben, daß seine Zentralfiguren aus ihrem kulturellen Erfolg das Recht zu dissidenten politischen Stellungnahmen ableiteten. In gewisser Weise haben es Publikum, Kritik und Standesorganisationen sogar als den wirksamsten Maßstab des kulturellen Erfolgs gewertet, mit wie abweichlerischen politischen Ansichten man in der öffentlichen Diskussion durchkam, ohne daß einen die eigenen Leute zur Ordnung riefen.
Zitat:
Mir fällt bei aller berechtigten Forderung nach Kreativität vorerst nichts mehr ein, das es verdienen würde, aufgeschrieben zu werden.
Mir schon. Wenn man sich auf die Primärtugenden der Kritik besinnt – Neugier, Leidenschaft, Entdeckerfreude, Sachverstand und die Fähigkeit, diesen Sachverstand zu vermitteln –, dann ist schon viel gewonnen. Gesellt sich dazu noch eine methodische Vielfalt, kann es losgehen. Denn welche Werkzeuge man anwendet – ob man sich dem close reading verschreibt oder gesellschaftliche Fragen zu beantworten sucht, ob man sich bei der feministischen Literaturwissenschaft oder bei den queer studies bedient, sich psychoanalytisch inspirieren läßt oder sein Reservoir subkulturellen Wissens ausschöpft –, ist nicht kategorisch, sondern von Fall zu Fall zu entscheiden.
Zitat:
Und es wäre mir sehr recht, wenn sich demnächst wieder eine Gelegenheit böte, so intensiv Meinungen und Wissen auszutauschen.
Wenn die neue Ordnung gefunden ist, hört damit das Erzählen nicht auf. Das Erzählen reicht tief in die Geschichte der Menschheit zurück und stellt eine anthropologisch fundierte Kategorie darstellt. In diesem Zusammenhang ist ein Hinweis von Stuart Hall weiterführend, der daran erinnert, „daß jeder Diskurs placiert, positioniert und situativ ist und jedes Wissen in einem Kontext steht.“ Das gilt nicht nur für die Diskurse, durch die sich die Identität von ethnischen Gruppen konstituiert, sondern gleichfalls für Theorien wie diejenige vom Erfahrungsschwund. Das Erzählen kommt nie zum Abschluß, da es dem Prinzip der endlosen Wiederholung gehorcht. Die Selbstbestätigung, die der Leser aus der Erzählung zieht, muß er sich immer aufs Neue geben. Etwas davon kehrt in dem seltsamen Zwang wieder, mit dem Schreiben fortfahren zu müssen, wenn man einmal damit begonnen hat. Mit einem auf die Literaturvorstellungen der Aufklärung zurückgreifenden Begriff hat Uwe Johnson die Geschichten, die er erzählt, unterhaltsam genannt: „Unterhaltsam in allen Bedeutungen des Wortes. Wie man unterhalten werden kann durch ein Schauspiel, durch eine Musik, durch ein spielendes Kind; wie eine Brücke, ein Verkehr, ein Haushalt unterhalten wird.“ Wenn Erzählungen Individuen und Gruppen unterhalten, dann ist damit nicht weniger gesagt, als daß sie für diese in einem existenziellen Sinne lebenswichtig sind. Löst man sich dann noch vom Themendiktat der aktuellen Bestseller, kann es aufregend werden. Für mich ist das Aufregende am ehesten im Netz zu finden, dort, wo ich mich mit Künstlern wie Peter Meilchen, Tom Täger, Heimo Hieronymus, Holger Benkel, Francisca Ricinski, A.J. Weigoni und vielen mehr beschäftige. Nicht im Sinne eines Geheimwissens, das mich gegenüber anderen, nicht eingeweihten Kritikern auszeichnete, sondern weil die Literatur für mich ein privilegierter Ort der Fremderfahrung ist. Wie unscharf die Grenze zwischen traditionellem und modernem Erzählen tatsächlich ist, läßt sich daran ersehen, daß Verfahren wie erlebte Rede oder innerer Monolog sich konsequent aus der Realismus–Problematik herleiten laßen – nämlich aus dem Bemühen der Autoren, näher an die Erlebniswelten ihrer Figuren heranzukommen, ohne sich des herkömmlichen Mittels der Introspektion zu bedienen. Wenn realistisches und modernes Erzählen einem Problemzusammenhang angehören, dann wird man eine allgemeine Theorie des Erzählens skizzieren müssen, die beide Weisen des Erzählens umfaßt und mit deren Hilfe sich auch der Rückgriff auf traditionale Formen des Erzählens begreifen läßt. Lesen und Unvertrautes zu erfahren, gehört für mich untrennbar zusammen. In Büchern, vervielfältigen sich die Genüsse und Erkenntnismöglichkeiten.
Literatur ist ein in die Zukunft geschleuderter Haken. Von Kafka wissen wir, wie die Stoffe dieses Lebens manchmal unmerklich, manchmal mit einem Donnerschlag aus dem Ruder laufen. Fremde und rätselvolle Mächte greifen ein, das vermeintlich fest Gefügte in teuflisches oder auch komisches Ungemach zu verwandeln. Von Freud wissen wir, daß das Ich nicht Herr im eigenen Hause sei. Die heutigen Autoren haben von Freud wie von Kafka gelernt, doch die Mixtur, die sie uns präsentieren, beansprucht eine eigene Essenz von Wahrheit. Liebe, etwa, ist nicht partout unmöglich. Weder ist sie nur die metaphysische Sehnsucht, die von der Gottheit aufgerieben wird, noch muß sie sich allein im Echo ihrer Projektionen erkennen. Was freilich davon bleibt – als Begegnung, Erfüllung vielleicht – verdankt sich eher Sekunden als Jahren, Tagen als Jahrzehnten des Glücks. Als Melancholiker, die die Instrumente der Zivilisationskritik virtuos beherrschen, sind Holger Benkel, Francisca Ricinsci und A.J. Weigoni zugleich Humoristen, deren Augen auch scheinbar Nebensächliches sofort erfaßt. Nicht der eitel empörte Adorno begleitet sie auf dem Weg durch die Kuriositätenkabinette des Alltags; eher inspirieren sie Jonathan Swift oder Gottfried Benn – der Engländer für alle Geschichten, da Großes und Kleines die Rollen tauschen, der Berliner Zyniker für Schräglagen, in denen spürbar wird, daß die Moderne ihren Vorrat an Kreativität erschöpft hat. Als „Unaufhörlichkeit“ hatte Benn jenen Zustand bezeichnet, in welchem sich der Fortschritt zu ewigen Variationen kultureller Langeweile verflachen sollte. Kein mächtiger Wurf mehr, keine kühnen Eroberungen, stattdessen Stillstand mit Eingewöhnung in die leeren Bequemlichkeiten. Wenn diese Autoren diese These aufgreifen, obsiegt bei ihnen das Temperament des Satirikers wider die mögliche Aufgeregtheit des Moralisten.
Grüßken, Matthias
1943Karl - 09.07.2008 um 17:28 Uhr
Lieber Matthias,
deine Zusammenfassung ist wahrhaft gelungen. Besonders das, was du über das Erzählen schreibst, gibt mir Hoffnung.
Ich würde gern an den Abschluß unserer Diskussion ein Gedicht setzen, das ich vor wenigen Tagen schrieb:
unzeit für propheten
anschreien könnte ich
sie alle stehen
und glotzen durch mich
hindurch in zeitfallen
stecken sturmböen
kündigen gewitter an
der wolkenwand schreiben
blitze hieroglyphen
ins grauen verlieren sich
träume aus roten wolken
perlt verbrauchtes licht
und verschwindet im
dunkel stehen sie
alle anschreien
könnte ich
Herzliche Grüße
Karl
Matze - 09.07.2008 um 22:12 Uhr
Diese Nachricht wurde von Matze um 22:43:30 am 09.07.2008 editiert
Diese Nachricht wurde von Matze um 22:13:53 am 09.07.2008 editiert
Lieber Karl,
ein würdiger Abschluß, der mir über eine große Enttäuschung hinweg hilft.
Zitat:
Ich würde gern an den Abschluß unserer Diskussion ein Gedicht setzen, das ich vor wenigen Tagen schrieb:
unzeit für propheten
anschreien könnte ich
sie alle stehen
und glotzen durch mich
hindurch in zeitfallen
stecken sturmböen
kündigen gewitter an
der wolkenwand schreiben
blitze hieroglyphen
ins grauen verlieren sich
träume aus roten wolken
perlt verbrauchtes licht
und verschwindet im
dunkel stehen sie
alle anschreien
könnte ich
Beim Hör Conrady sind das Problem nicht die Gedichte, sondern die Sprecher. Der unvermeidliche Christian Brückner kann vieles, nur keine Poesie, die anderen sind bis auf Hanns Zischler kaum erwähnenswert. Das Gedichte aus früheren Jahrhunderten von Schauspielern gesprochen werden müssen, ist klar. Warum man auf solch hervoragende Interpreten des letzten Jahrhunderts verzichtet. (z.B. Ernst Jandl) läßt sich nur dadurch erklären, daß man mit Schauspielern billiger wegkommt. Und so billig klingt es. Leider.
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