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1943Karl - 08.06.2008 um 17:57 Uhr

Diese Nachricht wurde von 1943Karl um 17:59:10 am 08.06.2008 editiert

Wenn schon kein Schmerzensgeld ist gelegentlich Schadenfreude des Lektors Lohn.
Da sitze ich also – unbezahlter Lektor und zukünftiger Mitherausgeber einer möglichst erfolgreichen Anthologie - vor einem Text, den ein von sich uneingeschränkt überzeugter Autor (ungekürzt, versteht sich) in unserer Gedichts- und Geschichtensammlung veröffentlicht sehen will. Wie bei Anthologieautoren selten unüblich, hielt der sich nicht an die Vorgaben zum Textumfang. Der Text ist nahezu doppelt so lang wie in der Ausschreibung vorgesehen.
Die mit viel Wasser verlängerte Suppe, der jegliche Würze verloren ging, wird von dem eigenwilligen Autor trotzig als Kurzgeschichte ausgewiesen, eine Zumutung für einen um die Rettung auch weniger gelungener Texte bemühten Lektor und eine - hoffentlich unbeabsichtigte Abschreckung - potentieller Leserinnen und Leser! Dennoch hat die Geschichte (nicht viel aber) einiges, das irgendwie zum Thema und Tenor der Anthologie passen könnte.
Also ziehe ich eine Kopie des voluminösen Wortgebildes. Will doch nicht - für den Autor äußerst schmerzhaft – im Originaltext herumoperieren. Wegen der schamlos zugemuteten Überlänge nicht frei von Rachegefühlen (allerdings auch nicht ohne jede Hemmung) streiche ich. Am Ende bleibt eine, wie ich glaube, ganz spannende Kurzgeschichte von weniger als der halben Länge der Originalfassung.
Jetzt noch ein Begründungsschreiben verfassen: Diplomatisch geschickt gebe ich alle meine Streichungen - Autoren-Verletzungsgefahren meidend - als wohlmeinende Vorschläge aus. Der Autor könne sie bitte annehmen, müsse sie aber selbstverständlich nicht akzeptieren. Jeden meiner Kürzungsvorschläge begründe ich ausgiebig, zeige sensibel Verständnis, indem ich der Wahrheit entsprechend behaupte, Schreiben sei schon schwierig, aber Kürzen erst recht und besonders dann, wenn der Autor in bestimmte Formulierungen verliebt sei. Gerade von Geliebten müsse man sich jedoch manchmal unter Schmerzen trennen, damit eine Liebesgeschichte nicht durch eine weitere verwirrt werde. Jede Geliebte – behaupte ich, auf mögliche männliche Erfahrungen anspielend - bringe halt immer ihre eigene Geschichte mit sich. Auch mit vorbeugenden Komplimenten geize ich in meinem Kürzungsvorschlägebegründungsschreibens nicht: Wahre Profis, bekannte Schriftsteller eben (mein Autor doch ganz gewiss) arbeiteten mit Lektoren stets vertrauensvoll zusammen, ja, seien im Regelfall dankbar für deren Kürzungs-, Veränderungs- und Verbesserungsvorschläge. Am Schluss unmittelbar vor den besonders herzlichen Grüßen gewähre ich noch die großzügige Frist von einem Monat für die Trauerarbeit meines Autors um verlorene Sätze und Wörter.
Dann wende ich mich zur eigenen Erholung der Kurzgeschichte einer Autorin zu, die sich an alle Vorbedingungen hielt und eine spannende Liebesgeschichte abgab, mit deren Protagonisten ich mich lustvoll und vollkommen ungekürzt identifiziere.
Drei Tage später erreicht mich ein Briefumschlag ohne Absenderangabe und mit handgeschriebener Anschrift, mein Name in ungewöhnlich großen, steilen, irgendwie aggressiv wirkenden Buchstaben und ohne die Anrede Herr .
Im Umschlag eine graue Pappkarte. Erbitte mein Manuskript ungekürzt und umgehend zurück. Ein Verlag interessiert sich dafür. Kein Gruß.
Monate später lese ich zufällig, aber mit Genugtuung in einer Anthologie eines Druckkostenzuschuss-Verlages die Kurzgeschichte meines Überlängen-Autors.
Bei dem Textumfang und dem Preis pro Seite ließ er sich sein literarisches Unvermögen offensichtlich eine Menge kosten.




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