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--- Große Lyrik im kleinen Kreis: Eine gelungene Feier

Matze - 08.11.2009 um 20:52 Uhr

Am Samstag, dem 7. November 2009, fand in Sistig, dem im Nationalpark Eifel gelegenen malerischen Wahlheimatdorf des Essayisten, Lyrikers und Edition-YE-Herausgebers Theo Breuer eine lange Nacht der Lyrik statt, die von den zahlreich erschienenen, aus nah und fern angereisten Gästen im beinahe bis auf den letzten Platz besetzten kleinen, aber herausragend bestückten privaten Kunstmuseum Krüger mit Begeisterung aufgenommen wurde.

Während des knapp dreistündigen Programms, eingeteilt in zwei „Kapitel“ von jeweils vier bzw. fünf Sequenzen, die der Lautenspieler Hans-Peter Peil mit stilvoll vorgetragenen Musikstücken der Renaissance kongenial zu einer Einheit verband, bei dem die unterschiedlichsten Temperamente und Tonarten deutscher Dichtkunst exemplarisch vorgestellt wurden, führte Theo Breuer anhand 50 ausgewählter Gedichte von Walther von der Vogelweide (im mittelhochdeutschen Original vorgetragen) über Johann Wolfgang Goethe, Friedrich Hölderlin, Annette von Droste-Hülshoff, Georg Trakl („Grodek“), Jakob van Hoddis, Else Lasker-Schüler, Gottfried Benn („Was schlimm ist“), Paul Celan, Rolf Dieter Brinkmann, Thomas Kling („Inhalator“), Axel Kutsch („Feier des Wortes“, „Wegbeschreibung“), Markus Peters („altenheim 2060“) u.v.a. kenntnisreich, unterhaltsam und phasenweise zu Herzen gehend, zumeist nah beim Publikum stehend, frei und entspannt sprechend durch die abwechslungsreiche Geschichte der deutschen Lyrik, dabei beispielsweise die wahnsinnige Wirkung dieser acht Verse von Jakob van Hoddis betonend:


Weltende


Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,

In allen Lüften hallt es wie Geschrei.

Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei,

Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.


Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen

An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.

Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.

Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.

Der als leidenschaftlicher Leser bekannte Breuer zeigte mit einer lebendigen, den Eigenarten jedes einzelnen Gedichts durch eine äußerst differenziert angelegte darstellerische Interpretation Rechnung tragend, wie man ein Publikum stundenlang gut unterhält, durch spannungserzeugende Elemente fesselt und fortlaufend stark beeindruckt: etwa als hektisch agierender Zauberlehrling, der kniend die Geister anruft, als augenzwinkernder Kommentator lyrischer Insider-Anekdoten oder als sich radikal dem Text unterwerfender, eindringlich-ruhiger, jedes einzelne Wort in seiner Wirkung entfaltender Rezitator der „Todesfuge“.

Auch dem nicht fachkundigen, jung und alt umfassenden Publikum erschloß sich unmittel-bar, wie das Arrangement die Gedichte zueinander in Beziehung treten und über die Jahre und Jahrhunderte ihrer Entstehung hinweg miteinander korrespondieren ließ: Höhepunkt war dabei der Vortrag der innerhalb einer Sequenz stehenden, aufeinanderfolgenden Gedichte „Die schlesischen Weber“ von Heinrich Heine und „Todesfuge“ von Paul Celan, deren rhythmische Übereinstimmung von „wir weben, wie weben“ und „wir trinken und trinken“ frappierend ist.

Kurze Gastauftritte hatten der beispielsweise im Poetenladen vertretene Berliner Autor und Filmemacher Rainer Komers, der die Präsentation seiner Gedichte u.a. in die Schilderung einer nach Alaska führenden Reise einbettete, sowie der im Westerwald lebende Lyriker Andreas Noga, der mit einer hochamüsanten, lakonisch-verschmitzt vorgetragenen Gedichtmontage für Lachsalven sorgte.

Eingebettet in das die verschiedensten Facetten deutschsprachiger Lyrik vorstellende Programm war die Präsentation des „deutschen Lyrikkalenders 2010“, aus dem Breuer genauso Gedichte ausgewählt hatte wie aus Karl-Otto Conradys umfassender Gedichtsammlung „Der Große Conrady“. Shafiq Naz, der unermüdliche Herausgeber des Lyrikkalenders (den er seit 2005 nicht nur für den deutschen, sondern auch für den angloameri-kanischen, französischen, italienischen und spanischen Sprachraum ediert), der mit seiner Gattin, der Künstlerin Bilqis Naz, ebenfalls unter den Gästen anzutreffen war, betonte im Gespräch im Anschluß an die Veranstaltung: "It was a great event – congratulations to Theo Breuer and Jürgen and Mechthild Krüger.“ Letztere verwöhnten in der Pause und nach dem Programm mit Speis und Trank, so daß die Gäste sich wie zuhause fühlten und bis weit nach Mitternacht über Lyrik und andere Dinge sprachen.

Auch Axel Kutsch („Das war wirklich eine rundum gelungene Veranstaltung: Theo Breuers Vortrag, die Musik, das Ambiente – alles vom Feinsten“) und Markus Peters, beide wie Noga und Breuer im als Tischkalender gestalteten „Lyrikkalender 2010“ vertreten, schienen mehr als zufrieden mit dem Erlebten und bewiesen durch ihre lange Anwesenheit, wie beeindruckt sie vom ganzen künstlerisch-lyrischen Atmosphäre waren.

Karl Vermöhlen, der neue Sistiger SPD-Ortsvorsteher und stellvertretende Bürgermeister der Gemeinde Kall, der mit Gattin Sigrid der Einladung gern gefolgt war und zum erstenmal überhaupt einer Lyrikveranstaltung beiwohnte, war schier überwältigt ob der Macht, die die lyrischen Wörter auf ihn ausübten. Wie er bediente sich die Mehrzahl der Gäste im Anschluß an den beiden Büchertischen, wo sie Titel wie „Der deutschen Lyrikkalender“, „Aus dem Hinterland. Lyrik nach 2000“, „Nacht Schicht“ oder „Wortlos und andere Gedichte“ erstanden.

Der Verfasser dieser Zeilen gehörte – wie die bereits erwähnten Autoren und Herausgeber oder die in Mülheim an der Ruhr und Berlin lebende japanische Künstlerin Inoue Hiroko – zu den Gästen, die bis zu 200 Kilometer angereist waren, um an einem außergewöhnlichen Lyrikabend im Herzen der Eifel teilzunehmen, und weit nach Mitternacht die Besucher beneidete, die, wie alle offensichtlich beseelt und zufrieden, zu Fuß nach Hause gehen konnten.

Dieser mit langanhaltendem Beifall beendete, eintrittfreie Lyrikabend am 7. November 2009 in Sistig/Eifel, der eindrucksvoll belegt, wie lebendig Literatur im kulturell zumeist unter Ausschluß der Öffentlichkeit wirkenden Hinterland gelebt wird (der ebenfalls in der Eifelgemeinde Kall lebende Norbert Scheuer hat mit „Überm Rauschen“ als Finalist beim Buchpreis 2009 allerdings für einigen Wirbel im bundesdeutschen Blätterwald gesorgt), ist laut Auskunft der Gastgeber Auftakt zu der künftig wenigstens einmal im Jahr stattfinden-den „Lyrik im kleinen Kreis". Man habe mit Theo Breuer bereits entsprechende Vorgespräche geführt. Ein gelungener Auftakt, der so richtig Lust auf Lyrik macht – weit über den Abend hinaus.




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