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--- Georg Büchner - Lenz

Hermeneutiker - 14.11.2009 um 18:53 Uhr

Hier sollen nicht die üblichen Kommentare zu Georg Büchners Lenz, dass die Novelle in Diesem oder Jenem (Genauigkeit der Beschreibung des psychiatrischen Symptoms, Naturalismus usw.) Büchners Zeit weit voraus ist, wiederholt werden. Auch das berühmte Kunstgespräch, in dem Büchner vermeintlich „erstmalig innerhalb einer Erzählung die Voraussetzungen für eben solche Erzählungen thematisiert“ (Christoph Grant nach Prof. Steinhagen) wird von mir anders bewertet. Mir scheint zunächst wichtig, dass die Zustände des fiktiven Lenz in vielem denen des fiktiven Woyzeck ähneln. Beiden ist es, als „ginge ihnen was nach“, beide meinen, mit gewaltigen Tönen angeredet zu werden und hören Stimmen, beiden ist alles „tot, tot“. Ähnliches gilt sogar für Danton in Büchners Revolutionsdrama. (II.V) Diese Zusammenhänge sprechen dagegen, dass die gängigen Interpretationen mit vorrangiger Bezugnahme auf die jeweiligen historischen Kontexte der Weisheit letzter Schluss sind.

Im Lenz wird die Identitätskrise der Hauptfigur zumindest in Teilen offen analysiert. Diese Krise ist bereits akut, als Lenz im Pfarrhaus Hilfe sucht und im nahen Schulgebäude, gleichsam als Asylant auf der Flucht, Unterschlupf erhält. Für den heutigen Leser ist der nach und nach erfolgende Umschlag von schwärmerischer Gefühlsreligion in aggressiven Atheismus – im Zusammenhang mit der psychischen Erkrankung - allerdings eher nebensächlich. Wichtiger ist, dass Büchner nachzeichnet, wie sich die Figur Lenz mit ihrem persönlichen und dem Ersatzvater auseinandersetzt bzw. ihnen unterliegt. Der Religionsbereich präsentiert diesbezüglich nur eine (auswechselbare) Kulisse für ein inflationäres Ich, das in seiner vermeintlichen Omnipotenz völlig ausgeufert ist und sich sozusagen entkörpert hat – was auch dem revolutionären, kleinfamiliären oder pubertären Ich unterlaufen kann - und Lenz’ andauerndes Bedürfnis nach (selbstkasteiender) körperlicher Begrenzung erklärt. Insofern stellen der fiktive Danton (Selbstopfer), Woyzeck (Muttermord), Lenz (Depression) und Leonce (symbolische Kastration des Vaters) vier tragische Lösungswege eines Problems dar.

In dem Zusammenhang von Unterwerfung und Identität steht nun besagtes Kunstgespräch. Es erinnert den fiktiven Dichter, der bei Oberlin seine Identität aufgegeben bzw. sich von ihr losgesagt hat daran, dass sein Künstlertum authentisch und vital ist. Das ist die Funktion des Kunstgesprächs in der Novelle. Der Versuch, diese Identität zu vergessen und sich den (kollektiven) Vaterfiguren anzupassen muss zwangsläufig scheitern. Lenz geht psychisch unter, weil er sich, d.h. seine wahre Berufung, aufgegeben hat. Büchner spielt hier durch, was ihn selbst durch seine wissenschaftlich-medizinische Karriere (und die entsprechende Anpassung an die Forderungen des Vaters) bedrohte. Wichtig ist, hier nicht nur den persönlichen Vater einzusetzen, der bei Georg Büchner als ehemaliger Feldarzt in Napoleons Armee allerdings auch durchaus eine harter Brocken war, sondern den kollektiven der patriarchalischen Werte und Normen. Dieses Thema ist jederzeit aktuell.

Auch im Lenz finden sich zudem Inzestmotive, sowohl in Bezug auf eine figürliche Mutter wie auch auf die symbolische große Mutter Natur, diese Verknüpfung findet sich wörtlich. Interessanterweise leitet eine sprachliche Verbindung aus Woyzeck zu der betreffenden Szene hin. („Leiden sey all mein Gewinnst, Leiden sey mein Gottesdienst“) Lenz masturbiert und träumt in der darauffolgenden Nacht von seiner Mutter; der Traum wird allgemein inzestuös gedeutet. Dieser zusätzliche Identitätsverlust, denn der Inzest bzw. die Inzestphantasie stellt ein regressives Verschmelzungsbedürfnis eines schwachen - wenngleich möglicherweise aufgeblähten - Ich dar, erklärt den psychischen Niedergang des fiktiven Dichters. Auch hier spielt Büchner vermutlich eigene Tendenzen durch, denn die Inzestmotive haben im Woyzeck, wie auch in Dantons Tod und Leonce und Lena.
zenrale Bedeutung.

PS: Dass der Autor im Kunstgespräch die Idealisierung literarischer Figuren polemisch ablehnt, wird meistens für bare Münze genommen. Man unterschlägt dabei gerne, dass auch Büchner seine Figuren im Vergleich zu den Vorlagen erheblich aufpoliert. Sein Woyzeck ist, ganz im Gegensatz zum historischen, kein Trinker, er arbeitet und gibt sein Geld zuhause ab. Und die Frauen Dantons und seiner Freunde sind geradezu – vom Patriarchat aus betrachtet – Muster an Treue und Selbstaufopferung. Die wirklichen Frauen der Revolutionäre sind darin nicht wiederzuerkennen.




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