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-- Prosa
--- Endlosschleife Teil 1

andymacht - 21.01.2010 um 16:29 Uhr

Der spärlich beleuchtete Flur bot ein Bild des Abschieds, das nicht besser zu dieser Nacht hätte passen können.
Ein schlampig abgestelltes Fahrrad und ein Kinderwagen, in dem hoffentlich nie ein Kind würde liegen müssen, standen nur noch zwischen mir und der alten, schwarzen Haustür.
„Willst du wirklich nicht zum Frühstück bleiben?“, rief es/sie hinter mir aus der kleinen, gemütlichen Altbauwohnung.
Mit einem Knall schlug die Tür hinter mir zu und teilte dem halb nackten Mädchen meine Antwort mit.
Natürlich hätte ich auch zum Frühstück bleiben können, natürlich hätte ich bei ihr im Arm liegen können, und natürlich wäre es schön, mal wieder neben einem Mädchen aufzuwachen.
Aber der Preis dafür war mir einfach zu hoch. Nähe aufbauen heißt, auch immer wieder los lassen zu müssen.
Für diese Nacht hatte ich genug menschliche Nähe und ging entspannt - und ich glaube, auch etwas zerzaust - durch den langsam nahenden Sonnenaufgang nach Hause.
Während ich meine Wohnungstür aufschob, wurden im Innern dadurch ein paar leere Flaschen und etwas Pappe beiseite geschoben. Ein weiterer Grund, warum ich grundsätzlich zu den Frauen ging.
Wichtiger jedoch ist es, die Anonymität zu bewahren. Nachdem ich meinen Kaputzenpulli in die Ecke geschmissen, meine Schuhe von den Füßen getreten und meine Hose herunter geschält hatte, ging ich an meinem großen, mit grünen hängenden Blättern behafteten Staubfänger, auch Yucca-Palme genannt, vorbei und fiel erschöpft in mein Bett und starrte zur Decke.
Irgendetwas fehlte dort oben …. nur was?
In diesen Gedanken versunken überkam mich der Schlaf.
Wie immer an der besten Stelle des Traumes klingelte mein Handy und teilte mir mit, dass es Zeit zum Aufstehen sei.
Ein Gutes hatte das abrupte Aufschlagen meiner Augen jedoch. Ich nahm den Edding von der Fensterbank, stellte mich auf das Bett und begann sofort, an einer noch leeren Stelle meiner Decke zu schreiben.

Glück?
Du schaust mich an und weinst,
so frage ich dich, wieso liebst du mich?
Glücklich werd ich nicht, so glaube mir!
Mit mir wärst du es ebenfalls nicht!

Der Weg zum Glück ist steinig,
eine Zweigung fordert eine Entscheidung.
Kopf und Herz sind sich dabei nie einig

Nun mache einen Schritt voran,
lasse dabei ein Stück von dir zurück.
Deine Vergangenheit erinnert dich daran,
dies ist nicht der Weg zum Glück!

Das Gedicht immer wieder lesend wunderte ich mich auch auf dem Weg zur Uni immer noch über diese Worte, deren Bedeutung sich mir zu diesem Zeitpunkt nicht erschließen wollte.
Die Vorlesung war langweilig. Die Statistik und Stochastik. Testverfahren, Verteilung und jede Menge Variablen, Wahrscheinlichkeiten und Varianzen.
Eine 20-seitige Formelsammlung soll uns diese Welt erklären.
Welche Formelsammlung benutze ich für meine Welt?
Gibt es eine Formel, die mir das Gefühl erklärt, wie es ist, eine liebende Mutter zu haben? Aufgewachsen bin ich seit meinem dritten Lebensjahr bei meiner Oma. Eine gütige Frau, doch der Altersunterschied war einfach zu groß und als die Pubertät kam, wurde ich etwas “schwierig”, wie sie es ausgedrückt hatte. Von da an übernahm ein Heim und dadurch hauptsächlich die Straße meine Erziehung. Das Leben lehrte mich einiges über zwischenmenschliche Beziehungen.
Betrogen, verraten, bestohlen, belogen, verlassen und enttäuscht werden wollte ich niemals mehr und beschloss daher, niemanden mehr diese Macht über mich zu geben.
Den Rest der Vorlesung beschäftigte ich mich damit, meine Gedanken in meinem Notizblock zu skizzieren, um ein weiteres Gedicht meiner Zimmerdecke hinzufügen zu können.
Leben nach Maß
Wozu das ständige Lachen
und das ständige Reden?
Wieso kann man nicht einfach sehen,
dass ich allein sein will,
weil ich alleine glücklich bin.

Was bringt es mir, so zu sein wie ihr?
Immer nach dem Normmaß leben,
bloß nicht zu viel von sich geben.
Abstand bringt Sicherheit. Doch
ist dies der Weg zur Einsamkeit?

Struktur im Leben,
wie im klassischen Gedicht?
Das kann ich euch nicht geben.
Nein, das will ich nicht!

Anschließend, nach der Vorlesung, war mein wöchentlicher Männerabend mit meinem besten Kumpel.
„Schreibst du zur Zeit an einer interessanten Geschichte?“, fragte mich Mike in unserer Stammkneipe.
„Mir fehlt zur Zeit die Inspiration.“
„Ich fand deine letzte Story ziemlich spannend.“, versuchte er das Gespräch weiterzuführen, schaute mich aber dann an und fügte besorgt hinzu, „ Es scheint mir, als ob du etwas auf den Herzen hast. Also lass hören.“
„Warum ist das Leben eine einzige Grauzone?“, fragte ich ihn, nachdenklich am Tresen sitzend.
„Ist es das? Ich empfinde es eher als Achterbahnfahrt! Aber es wundert mich nicht, dass es für dich nur grau aussieht.!“, antwortete er mir und leerte sein Glas.
Überrascht setzte ich meine Flasche ab.
„Wieso wundert es dich nicht?“
„Weißt du“; begann er ,“ du siehst alles grau, weil du dem Schwarzen aus dem Weg gehst. Du lässt, seit ich dich kenne, keinen Menschen wirklich nah an dich heran, um nicht verletzt zu werden. Nur um nicht zu scheitern, studierst du etwas, dass dich nicht ausfüllt, anstatt deinem Traum zu folgen.“
Er schaute in sein leeres Glas und erzählte weiter.
„Es gibt ein schönes Zitat, das finde ich ganz passend: Es gibt Risiken, die einzugehen man sich nicht leisten kann- aber auch solche, bei denen man es sich nicht leisten kann, sie nicht einzugehen.“
„Ein weiser Satz“, pflichtete ich ihm bei.
„Es kommt noch besser. Er stammt von Peter Ferdinand Drucker, einem Ökonom.“
Mit seiner einzigartigen Fähigkeit, immer zur richtigen Zeit die passenden Zitate und Sprüche aus seinem Archiv zu kramen, überraschte und begeisterte mich Mike jedes Mal aufs Neue.
„Es fällt mir halt schwer mich zu öffnen.“, entgegnete ich ihm und fügte noch hinzu, dass ich froh war, wenigstens mit ihm über solche Dinge reden zu können.
Nachdem ich noch etwas geflirtet hatte, verließ ich den Ort doch alleine, da ich nicht in Stimmung war.
Etwas in Gedanken ging in ich an diesem kalten Winterabend durch die verlassenen Straßen. Plötzlich konnte ich nicht mehr aufhören, an meine Vergangenheit zu denken. Meine Mutter wurde von einem betrunkenen Alkoholiker in einer zwielichtigen Bar niedergestochen, da war ich gerade drei Jahre alt. Trotzdem trinke ich und treibe mich ebenso in diesen Bars herum, was einerseits kein Problem darstellt. Auf der anderen Seite ist es ein Konflikt, den zu lösen ich nicht in Stande bin, geschweige denn ihn zu definieren.
Manchmal komme ich mir vor wie ein Raucher, dessen rauchender Vater an Lungenkrebs gestorben ist und auf seiner Beerdigung auf seinen Sarg ascht.
Im Augenwinkel nahm ich eine junge attraktive Frau wahr, die mir entgegen kam, dann an mir vorbei ging. Als ich diesen kurzen Moment der Begegnung schon fast wieder vergessen hatte, kam ich zu einer roten Fußgängerampel. Die Straßen waren alle schon längst verlassen und leer.
Als ich gerade hinübergehen wollte, fiel mir die junge Blondine von vorhin wieder auf. Sie stand diesmal direkt neben mir und lächelte mich an. Ihr Lächeln fror meine Bewegungen ein, so dass ich mit dem rechten Bein auf der Straße und mit dem linken noch auf dem Bürgersteig verweilte/stand, und ich lächelte zurück.
Sie passte sich meiner wahrscheinlich etwas seltsam wirkenden Postion an, in dem sie ihr rechtes Bein ebenfalls auf Straße stellte und mich fragte, ob wir es wagen sollten, über die rote Ampel zu gehen.
„Wir wagen es.“ , antwortete ich und löste mich aus meiner Nagetierstarre.
Unsere Wege verliefen lang genug parallel, um ihren Vornamen, ihren Beruf und ihre restabendliche Aktivitäten herauszufinden.
Dass sie nur umgekehrt war, um mich kennen zu lernen, erfuhr ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
An einer Kreuzung trennten sich unsere Wege, und ich lud sie auf einen Kaffee ein.
„Ich kann dir auch genau einen guten Grund nennen, warum du nicht ablehnen solltest.“,versuchte ich, ihr meine Einladung noch schmackhafter zu machen.
„Da bin ich aber mal gespannt...“, meinte sie und schaute mich mit ihren großen blauen Augen erwartungsvoll an.
„Weil es ein witziger und origineller Anfang einer sehr guten Geschichte wäre..“
Am nächsten Abend saß ich wieder am Tresen und schilderte mein Erlebnis.
„Und, hat sie ja gesagt?“, fragte mich Mike, nachdem er die erste Runde bestellt hatte.
„Ja, sie hat ja gesagt. Ich werde mich morgen Abend mit ihr im Café Cult treffen!“, antwortete ich.
„Den Spruch werde ich mir merken...“, wir stießen an, und er fügte die Frage hinzu, ob ich diesmal bei ihr zum Frühstück bleiben würde.
„Ich will dich nicht schockieren, aber diesmal werde ich es anders machen und sie erst kennen lernen.“
„Du willst also sagen, dass unser letzter Dialog über grau und schwarz dir gezeigt hat, dass es auch Vorteile haben kann, einen Menschen näher als nur körperlich kennen zu lernen?“ Einen gewissen sarkastischen Ton konnte Mike sich bei dieser Aussage nicht verkneifen.
„Vielleicht...“
„Hört, hört! Hast du dir denn schon Gedanken gemacht, wie euer erstes Date nach der Tasse Kaffee weiter geht?“
„Nein, aber das ist in Ordnung. Ich bin der Meinung, dass man nicht soviel planen sollte, da sich schöne Momente am besten ohne Rahmen entfalten können.”
Später am Abend kam ich in meine Wohnung. Nachdem ich richtig aufgeräumt und geputzt hatte, setzte ich mich auf mein Sofa und schaute mich um. Mir fiel die goldene Figur des Feuervogels Phoenix auf, die mir Mike zum Geburtstag geschenkt hatte. Er verglich mich gerne immer wieder aufgrund meiner Vergangenheit mit Phoenix aus der Asche, und als er sie bei Ebay fand, musste er sie mir kaufen. Mit warmen Wasser säuberte ich sie und dekorierte anschließend mit ihr eine leere Stelle auf meinem Badezimmerregal.
„Schön hier.“, sprach ich, als ich mein Zimmer wieder betrat, in den leeren Raum, und mein Blick fiel auf meine große Yucca-Palme.
„Durch dich wird mein Zimmer zum Ort der Ruhe und Entspannung“,sagte ich, säuberte mit einem nassen Lappen ihre Blätter und goss sie anschließend.
„Wie war dein Date letzte Woche?“, mit dieser Frage wurde unser wöchentliches Treffen in unserer Stammkneipe von Mike eröffnet.
„Welches meinst du?“, entgegnete ich trocken.
„Wieviel hattest du denn letzte Woche?“
„Vier.“
„Ich dachte, du wolltest dich ändern. Also braucht man sich den Namen Jenny nicht zu merken?“
„Doch natürlich. Wir haben uns letzte Woche viermal gesehen....“ Zufrieden lächelte ich ihn an.
„Glückwunsch! Wird es ein fünftes geben? Ich meine, mehr als vier sind bei dir ja sonst nicht drin gewesen.“
„Morgen Abend koche ich für sie bei mir...“
„Bei dir? Ich dachte du nimmst nie eine Frau mit zu dir. Hat es dich endlich erwischt?“
Schnell mit einem Achselzucken beantwortet brachte mich diese Frage trotzdem zum Nachdenken.
Hatte es mich erwischt?
Am nächsten Abend klingelte es pünktlich an meiner Tür, und etwas nervös öffnete ich.
„Was gibt es denn Leckeres zu Essen?“, fragte mich Jenny und betrat meine Wohnung.
„Laut “Google” das beste Date-Menü. Salat als Vorspeise, Pasta als Hauptgericht und Schockladeneis zum Nachtisch.“
„Klingt, als hättest du dir wirklich Gedanken gemacht ..“
Der Abend verlief harmonisch und romantisch. Nach dem Essen saßen wir noch lange auf dem Sofa, und es kam auch zum dem ersten Kuss.
„Ich denke, ich werde mich langsam auf dem Heimweg machen, es ist schon spät geworden.“
„Ich mache nicht nur ein gutes Abendessen, sondern auch ein sehr gutes Frühstück“, flüsterte ich ihr ins Ohr und küsste ihren Hals.
„Wenn das so ist, werde ich diese wilde Behauptung doch einmal auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen müssen.“
Die nächsten Wochen waren einfach traumhaft. Wir sahen uns regelmäßig und waren beide der Meinung, dass dies der Beginn von etwas Großem war.
„Weißt du“, fing sie an, als sie in meinem Arm lag, „ ich lese gerne deine Gedichte an deiner Zimmerdecke. Ich finde es sehr schön, dass du schreibst, aber dort steht kein einziges positives Gedicht. Auch kein Liebesgedicht. Hast du nie schöne Momente gehabt, worüber es sich zu schreiben lohnt?“
Mir lief es kalt den Rücken herunter. Dem Thema Vergangenheit konnte ich bis jetzt ja immer gut aus dem Weg gehen. Sie sprach selbst nicht viel von ihrem Elternhaus und wir trafen uns grundsätz nie bei ihr. Um keine Gegenfragen zu riskieren, sprach ich dieses Thema selbst nicht an.
„Kannst du mir einen Gefallen tun und in meinem Notizblock auf der letzten beschriebenen Seite nachsehen? Dort steht ein Gedicht, das du mir bitte vorliest..“, sprach ich, nahm den Edding und stellte mich auf das Bett.
Ferdinand und Luise
Die aufgehende Sonne,
das Licht von mir nicht erkannt.
Schleich ich durchs Dunkel,
und reiche dir meine Hand.

Ein Schritt ins Leere,
und der Schmerz wär’ groß.
Angst begleitet mich,
doch ich lasse dich nicht los:

Naiv ist die liebende Seele,
doch nur diese ist in der Lage,
auch größte Gefahren zu überwinden,
um zu dir zu finden.
„Das finde ich schön. Wieso hast du es denn Ferdinand und Luise genannt?“, fragte sie mich und, froh darüber, das Thema von meiner Vergangenheit auf Lyrik gelenkt zu haben, antwortete ich:
„Es ist eine Hommage an Schillers Kabale und Liebe. Die Protagonisten heißen halt so.“
„Sie war schon wieder bei dir? Wie lange seit ihr nun schon zusammen? Vier oder fünf Monate?“, fragte mich mein bester Freund bei unserem nächsten Treffen.
„Fünf. Es (was denn???) hat sich noch nicht wirklich ergeben, zusammenzuziehen (?). Tatsächlich habe ich sie auch neulich darauf angesprochen. Sie meinte, bei mir wäre es leichter, da sie noch bei ihrem Vater wohne und er es nicht gerne sehe, wenn fremde Männer bei ihm im Haus übernachten würden.
„Gut, mag sein, aber warst du denn schon überhaupt bei ihr? Ich meine, auch mal tagsüber?“
„Nein, nicht in der Wonung. Wieso ist das denn so wichtig?“
„Es wird dir nicht gefallen. Aber meiner Meinung nach ist die Vergangenheit eines Menschen ein wichtiger Aspekt für die Entwicklung seiner Persönlichkeit. Du weißt ja nichts von ihr. Wie war ihre Kindheit? Wie sieht ihr Zimmer aus? Ein Buch kaufst du auch nicht, ohne wenigstens den Klappentext gelesen zu haben.“
„So bleibt es spannend.“, erwiderte ich kurz und knapp.
„Offenheit ist der Weg zum Glück. Öffne dich ihr und teile ihr deine Vergangenheit und Gefühle mit, dann wird sie sich auch öffnen. Wie viel hast du ihr denn von dir erzählt?“
Mein Schweigen zeigte ihm meine Antwort und dass eine weitere Diskussion über dieses Thema nicht in meinem Sinne war.
Eines Abend lag ich mit Jenny im Bett und scherzte herum. Ein halbes Jahr lang hatte sie mir nun schon mein Leben veschönert, und es war jetzt der richtige Moment, ihr das auch zu sagen.
„Weißt du“, begann ich „ seit einem halben Jahr hast du mein Leben bereichert. Aus meinen Gefühlen für dich heraus könnte ich nun drei einfache Worte sagen, doch diese werden in dieser Welt so oft zum falschen Zeitpunkt und zu wenig zu den richtigen Personen gesagt, dass sie dem, was ich empfinde, nicht wirklich gerecht werden. Also habe ich versucht, meine Gefühle für dich, in vier Versen auszudrücken“
Zu ihr gebeugt flüsterte ich ihr ins Ohr: „Jede Sekunde ohne dich ist wie eine Woche ohne Sonnenschein. Jeder Atemzug ohne dich ist wie ein Monat ohne Glücklichsein. Jeder Augenblick ohne dich ist wie tausend Hiebe. Ein Leben ohne dich wäre ein Leben ohne Liebe.“
Ich schaute ihr in ihre tränennassen Augen, nahm ihre Hand und sprach weiter:
„Liebe ist Vertrauen.“

(Fortsetzung Teil II, wegen Zeichenbeschränkung)




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