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-- Prosa
--- Taubenblut

vimana - 06.05.2011 um 13:25 Uhr

In beiden gehöhlten Händen wie in einer Muschel hält das Kind die junge Taube zu ihrem ersten Flug mit einem Briefchen am Fuß, Gekritzeltes an die Bäume vor der Mauer, die reisigen Wolken über der Mauer und die Berge jenseits, wo die guten Geister wohnen, wie der Vater so oft erzählt hat, bis sie ihn aus dem Haus rausgeholt haben, mit der Taube in offenen Händen angelehnt an die Wand, die sie ihnen bei Nacht und Nebel durch den Garten aufgetürmt haben, mit Drahtrollen drauf gespickt mit Messerchen wie Rasierklingen und auf den Lippen das Liedchen, das das Kind schon von der Großmutter kannte, ‚Flieg, Täubchen, flieg, die Falken machen Krieg‘, und jetzt die Klage mauerwärts von der Mutter hinter dem verbauten Fenster, bis geschreckt durch einen Schuss die Taube aufjagt, hochsteigt, oben im Drahtgeflecht anschlägt, dass Federchen regnen und rote Spritzer die gekalkte Wand beflecken, die Taube vielleicht nicht ankommen wird und wohl nicht zurückfindet, wo das Kind mit Nass in den Augen hoch blickt zur Mutter mit dem Liedchen ‚Flieg, Täubchen, flieg, die Falken machen Krieg‘ und dann noch, als Regen längst das Rot von der Mauer gewaschen und den Fuß des bleichen Monsters gefärbt hat, ‚Flieg, Täubchen, flieg…‘

Wendel Schäfer




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