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-- Prosa
--- Die Frau im Zug

marmonemi - 30.03.2004 um 23:14 Uhr

Eine einfache Träne, die Welten bewegte. Bände sprach, ohne auch nur ein einziges Wort zu verraten.

Sie stieg in den Zug. Sehr ruhig fragte sie mich, ob der Platz mir gegenüber noch frei sei. Ich nickte ihr zu und sie setzte sich zu mir in den Speisewagen. Sie nahm eine Zeitung aus ihrer Tasche und schlug sie auf. Ihre Augen flogen über die Zeilen und doch wusste ich, dass sie nicht liest. Hätte ich sie gefragt was dort geschrieben stand, wäre es wohl nur ein zweifelnder Blick gewesen, den ich als Antwort bekommen hätte.

Was hatte sie an diesem Tag erlebt? Ihr Blick war offen, ihre Hände ruhig und gepflegt. Als sie dem Kellner ihre Getränkebestellung aufgab, tat sie das mit klarer Stimme und einem kleinen Lächeln. Und doch wirkte sie gedankenverloren... traurig...

Hatte sie einen Freund besucht; einen kranken Freund? Und dessen Zustand beunruhigte sie. Beunruhigte, weil sie nun nach Hause fuhr... weg von ihm... ihn alleine lassend...

Musste sie in eine andere Stadt, um während der Woche zu arbeiten, und sich dafür von ihrer Familie trennen? Vermisste sie ihre Kinder? Ihren Mann?

Sie ließ die Zeitung auf ihren Schoss sinken. Ihre Kaffeetasse hielt sie in beiden Händen und sah gedankenverloren aus dem Fenster. Draußen war es längst dunkel geworden. Die vorbeifliegenden Lichter konnten es nicht sein, die ihre Aufmerksamkeit forderten. Sie dachte nach. Worüber?

Ihre Gedanken waren von Schmerz begleitet. Sehnsucht. Verlangen. Der Ausdruck ihrer Gesichtszüge veränderte sich. Sie dachte an etwas das sie sehr liebte. Etwas das sie gerade noch hatte und nun - Minuten später - bereits sehr vermisste. Mal bildeten sich Sorgenfalten auf ihrer Stirn mal überflog ein Lächeln ihren Blick. Ihre Sehnsucht flog in die Nacht...

Gern hätte ich sie angesprochen und doch wusste ich, dass nichts und niemand in diesem Augenblick in der Lage gewesen wäre, ihr zu helfen. Sie war in einer Situation, mit der sie ganz alleine klar kommen musste. Die sie alleine durchstehen musste. Allein, obgleich es in ihren Gedanken ganz sicher nicht um Einsamkeit ging.

Und ohne auch nur die geringste Regung auszulösen, verließ plötzlich eine Träne ihren Blick. Sie lief an ihrer Wange hinunter bis zum Kinn. Fiel sanft auf ihren Schoss. Nur eine Träne. Eine Träne die genauso schnell trocknete, wie sie entstanden war...

Eine einfache Träne, die Welten bewegte. Bände sprach, ohne auch nur ein einziges Wort zu verraten.




Deirdre - 13.05.2004 um 20:30 Uhr


Hallo marmonemi.

Gefällt mir außerordentlich gut. Traurig aber wunderschön.

Grüße
Deirdre




marmonemi - 14.10.2007 um 23:25 Uhr

Danke, Deirdre, das freut mich sehr!



Hermes - 15.10.2007 um 20:53 Uhr

Zitat:

Hallo marmonemi.

Gefällt mir außerordentlich gut. Traurig aber wunderschön.

Grüße
Deirdre

Mir gefällt es auch.




DataBoo - 16.10.2007 um 21:42 Uhr

Ich finde diese Alltagebeobachtung ebenfalls sehr gelungen. Eine Szene die gut nachzufühlen ist (Deine Gedanken, Deine Fragen), einfühlsam ohne aufgesetzt zu wirken. Bitte mehr davon!

Gruß
DataBoo




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