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-- Lektüregespräche
--- Dezember 2015

Kenon - 01.12.2015 um 09:20 Uhr

Max Kommerell - Geist und Buchstabe der Dichtung (1940)

Max Kommerell, der in seinen frühen Jahren dem George-Kreis angehörte, wurde nur 42 Jahre alt und ist heute fast vergessen, auch wenn im Jahre 2011 eine "intellektuelle Biographie" (Christian Weber, de Gruyter) über ihn erschien. In "Geist und Buchstabe der Dichtung" präsentiert Kommerell sieben Aufsätze, die sich mit Faust II, Schiller, Kleist und Hölderlin befassen.

Zitat:

Nennt man "Alter" etwas, was jedem alten Mann zukommt, so darf nicht vergessen werden: es gibt sehr wenig große Altersdichtung. Wenn schon einmal ein Dichter sehr alt wird, so reicht meist seine Lebensverliebtheit nicht mehr aus. [...] Alter heißt bei Goethe: gesteigerte Erinnerung. Seine Altersmomente sind jeder befangenen Dumpfheit ledig, begreifen sich selbst und alles ihnen Vergleichbare, so daß sie Verdichtungen des Lebens sind.

Walter Benjamin, auch er ein Gigant (natürlich analytischer, kritischer, schärfer), der viel zu früh gegangen ist, über Kommerells "Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik": Wider ein Meisterwerk




ArnoAbendschoen - 02.12.2015 um 16:55 Uhr

Kommerells Name ist mir, geschätzter Kenon, erstmals im Zusammenhang mit dem altchinesischen Roman "Die Räuber vom Liang Schan Moor" begegnet. Ich finde jene kommentierende Stelle, in der er sich darüber geäußert hat, jetzt nicht so rasch ... Wie es scheint, hat er sich mit noch weiteren alten Prosawerken aus dem Fernen Osten beschäftigt (z.B. dem Genji-Roman) und plante sogar eine größere Darstellung darüber.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön




Kenon - 02.12.2015 um 20:47 Uhr

Dass sich Kommerell auch für asiatische Literatur interessierte, ist mir neu, lese mich aber auch erst ein - den Namen habe ich vor vielen Jahren aus einer George-Biographie mitgenommen, mit mir herumgetragen und nun endlich einmal die Zeit gefunden, tiefer zu gehen, nachdem ich mich anderen wie Friedrich Gundolf und Ernst Kantorowicz schon gewidmet habe.

Ich habe es eben bei Christian Weber nachgelesen - dort wird das von Dir genannte Werk in seiner kulturellen Bedeutung (für China) auf eine Stufe mit Faust (für Deutschland) gehoben; Kommerell wollte es wohl in einer geplanten Monographie zu den Romanen der Weltliteratur erwähnen (S. 327 - die Stelle kennst Du vielleicht).

Kommerells "Gedanken über Gedichte" habe ich gestern gesehen und mich über die fantastische Beschreibung auf der Verlagsseite gewundert - bis ich dann ganz unten den Autorennamen - Hans-Georg Gadamer - las:

Zitat:

"Es gibt nichts Vergleichbares, weder von Gelehrten, noch von Schriftstellern, die sich um Deutung von Dichtung bemühen. Dem an die geistige Sparwirtschaft des akademischen Lebens Gewöhnten erscheinen seine Arbeiten dunkel und überfüllt, bedeutend, aber unfaßlich, und sind ihm daher nichts, an das sich anknüpfen, worauf sich weiterbauen ließe."

Vgl. Kommerell, Max: Gedanken über Gedichte beo Klostermann

Wo gibt es heute noch Leute, die sich so ausgewogen wortreich ausdrücken können. (Ich meine das ganze Gadamer-Zitat, wollte es hier aber nicht komplett zitieren).




ArnoAbendschoen - 02.12.2015 um 21:24 Uhr

Ja, Kenon, eben diese Stelle habe ich kurz vor dir auf der Suche nach dem Kommerell-Zitat auch entdeckt.

Inzwischen bin ich fündig geworden - das in meinem Kopf herumspukende Zitat ist auf der Rückseite des 2.Bandes der Insel-Taschenbuchausgabe der "Räuber" abgedruckt und lautet:

"Eine beständige Quelle des Glücks waren mir die chinesischen Räuber. Das ist doch ein Heimatgefühl, in der Landschaft dieses Romans herumzulaufen, mit dem ich nichts vergleichen kann. Man kehrt zurück - auch wenn man das erste Mal da ist." (Auszug aus einem Brief an H. Zimmer, komplett auf S. 328 in derselben Kommerell-Biographie von Chr. Weber).

Arno Abendschön




Kenon - 20.12.2015 um 16:39 Uhr

Karl Schlögel - Entscheidung in Kiew: Ukrainische Lektionen

Bis vor kurzem war es vielleicht schon viel, wenn einem Deutschen zur Ukraine die Stichwörter Osten, Tschernobyl und Klitschko eingefallen sind. Nun sind ein paar weitere dazugekommen: Kyiv, Maidan, Krim, Donbass.

Der Historiker Karl Schlögel kennt die Ukraine seit den 1960er Jahren:

Zitat:

[...] ich habe sie immer als sowjetische Provinz, nie als selbstständiges Land Ukraine wahrgenommen, sondern als Kiew, als Charkiw, als Donbass, als Odessa und auch als Krim, nicht als ein Subjekt mit eigener Identität. Jetzt habe ich gelernt, dass es so etwas gibt und dass wir aufhören müssen, auf die Ukraine immer aus Moskauer Perspektive zu schauen.

(Zitat aus "Der Russland-Reflex: Einsichten in eine Beziehungskrise")

Löblich, dass er mit seinem neuen Buch etwas gegen die Unwissenheit, die weißen Flecken in unserem Bewusstsein tut.




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