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--- Peyote - Film von Omar Flores Sarabia

ArnoAbendschoen - 06.12.2015 um 18:05 Uhr

Wie viel Handlung von Gewicht kann man in einen Film von bloß siebzig Minuten Länge packen, zumal wenn es nur ein Zwei-Personen-Drama ist? Sehr viel, der 1986 geborene Mexikaner Omar Flores Sarabia beweist es mit seinem ersten Spielfilm, gedreht 2013. Zwischen den zwei Figuren findet all das statt: erste Begegnung, Entwicklung, Umschwünge, Trennung, Erinnerung - zusammengedrängt in maximal sechsunddreißig Stunden Handlung.

Pablo (Joe Diazzi) ist siebzehn, geht noch zur Schule. Er ist in der prosperierenden Provinzmetropole San Luis Potosí zu Hause und stößt dort auf Marco (Carlos Luque), der wenige Jahre älter ist und gegenwärtig gar nichts tut. Pablo filmt den Herumlungernden heimlich, Marco sieht die Chance für einen Roman zwischen ihnen. Er überredet den Jüngeren zu einer Autofahrt in das ca. zweihundert Kilometer entfernte museale, halb verfallene Städtchen Real de Catorce, früher ein Ort mit ergiebigen Silberminen. Bei Real könne man Peyote-Pflanzen finden, sagt er. Ohne dass das Wort Meskalin fällt, ist klar, Marco hat ein Ziel: Pablo zu einer Art Initiation zu verhelfen.

Die beiden jungen Männer gehören deutlich voneinander geschiedenen sozialen Schichten an. Pablo, ein noch relativ unbeschriebenes Blatt, ist ein Kind der oberen Mittelklasse, wenn nicht gar aus der Oberschicht. Marcos Herkunft ist eher plebejisch, allenfalls unterer Mittelstand, ökonomisch gescheitert. Seine leichte Verschlagenheit und kumpelhafte Aggressivität sind zum Teil nur Fassade, hinter der immer wieder spontan menschliche Wärme aufscheint. Er verfügt gegenüber Pablo über zwei Erziehungsmethoden. Zunächst geniert er ihn, indem er ihn als unselbständigen, allzu behüteten Sprössling aus reichem Haus charakterisiert und zunehmend auch lächerlich macht. In einer zweiten Phase schockiert er den Jüngeren zusätzlich dadurch, dass er dessen bislang diskrete homosexuelle Neigung thematisiert und sie gleichzeitig verbal herabsetzt. Allerdings schlafen sie in Real auch miteinander. Nur das Vorspiel wird gezeigt, voll von Begehren, Neckerei, Machtspiel, Entblößung der Seele, das gehört zu den Höhepunkten des Films.

Nach dieser Nacht dreht die Story. Pablo entdeckt die Schwächen seines neuen Freundes, seine Instabilität, seine deprimierende Familiengeschichte, seine Perspektivlosigkeit. Sie verlassen die Stadt und je weiter sie in die sie umgebende Halbwüste vordringen, umso mehr verschärft sich die Krise zwischen ihnen und die für jeden von beiden allein. Der Jüngere erweist sich als der fürs Leben besser Vorbereitete, Pablo gewinnt in ihrer Beziehung die Oberhand. Ob sie den Peyote finden, wird hier nicht verraten. Jedenfalls kehren sie stark verändert nach Real zurück, von wo aus einer heimfährt, während der andere zunächst bleibt.

Für die beiden jungen Schauspieler ist es jeweils die erste Hauptrolle in einem Spielfilm. Sie füllen sie aus, als ginge es tatsächlich um ihre Existenz, mit so viel Kraft, Frische und Präsenz, dass es eine Lust ist, sie dabei zu erleben. Sie entwerfen so zwei Charakterbilder, sie zeigen, wie Identität beschaffen ist und wie sie, indem sie scheinbar verlorengeht, erst recht gewonnen, verstärkt wird – so gesehen auch eine traurige Geschichte. Die soziale Rolle und die individuelle Psyche verweisen wechselseitig aufeinander, ohne die Magie der Persönlichkeit vollständig zu enträtseln. Das alles zeigt uns die Kamera vor einer wahrhaft heroischen Berg- und Wüstenlandschaft, beeindruckend eingefangen. Das klug mit Leitmotiven arbeitende Drehbuch scheint mir übrigens Themen aus Francisco Francos „Quemar las naves – Burn the bridges“ aufzunehmen, noch so ein wunderbarer mexikanischer Film.

Dem jungen Regisseur Omar Flores Sarabia ist nach diesem überzeugenden Debüt eben so viel zuzutrauen wie auch Erfolg zu wünschen.




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