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-- Prosa
--- Dankbares Gedenken

ArnoAbendschoen - 15.04.2016 um 21:21 Uhr

Mit Anfang fünfzig wirkte Herr Anders schon etwas ältlich. Seine Untergebenen damals kalauerten gern über ihn: „Seht ihr die weiße Spur …“ Herr Anders trug meist graue Kleidung und sein Haar war graumeliert. Der Gang war leicht schlotterig, wie nach Rachitis in der Kindheit. Aber seine hatte noch vor Krieg und Nachkrieg gelegen.

Du warst neu im Betrieb und zum Glück, wie du dachtest, fern von ihm tätig. Doch warst du ihm schon aufgefallen – er setzte sich bei der ersten Betriebsfeier neben dich und kam gleich auf etwas zu sprechen, was mit dir zu tun hatte und ihm am Herzen lag: Ob du nicht langsam ans Heiraten dächtest - fragte der so viel Ältere den Endzwanziger. Du reagiertest heftig: Das sei deine persönliche Angelegenheit, die du jetzt nicht erörtern wolltest. Er blieb sanft und erklärte, auch er habe sich erst spät verehelicht und es durchaus nicht bereut. Er sah dich offen an, ohne dabei zu lächeln, und du wiederholtest dich wütend: Privatsache! Dass auch du schon lebenslang gebunden warst, konntest du ihm nicht sagen …

Etwas später wurde er dein Chef. Als die Umorganisation bekannt war, kam es dir wie ein großes Unglück vor: ausgerechnet der! Er ließ dich als Ersten kommen, um seine Vorstellungen darzulegen. Dass er rasches und konsequentes Arbeiten wünsche, dass die Masse der Fälle zu bewältigen sei und aus Furcht, im Einzelfall zu versagen, nichts verzögert werden dürfe. Ihm sei es lieber, die Arbeit werde insgesamt geschafft, als dass gar keine Fehler passierten. Er sagte es nüchtern, nicht unfreundlich. Dein Bild von ihm begann sich schon zu verändern: Er war gar nicht verstaubt oder verkalkt.

Dann zehn Jahre in seiner Nähe und es wurden die angenehmsten deines Berufslebens. Er war ein fleißiger Mann, kompetent und tüchtig, machte kein Aufhebens von sich, war freundlich, ohne zu übertreiben, zeigte, dass er dich achtete. Du schätzest ihn als guten Arbeiter, so wie er dich umgekehrt auch. Kamst du zu ihm, um Rat zu holen, war er gewöhnlich beschäftigt und unterbrach sich doch gleich, um dich anzuhören. Eure Gespräche, fast immer nur dienstlich, waren kurz und produktiv. Noch siehst du ihn über den Flur eilen, mit seinem schlotterigen Gang, wenn er einen der vielen Gerichtstermine hatte. Oder er trug zwei Dutzend dicke Akten ins Sitzungszimmer, die Inhalte im Kopf präsent, um sie dem Ausschuss vorzutragen.

Oft aß er eine Kleinigkeit, etwa eine Banane, während er einen Fall studierte oder einen Entwurf korrigierte. Dabei war er nie kleinlich, schon gar nicht schikanös. Er grüßte einen meist aufmunternd. Manchmal war er sogar witzig. Er wurde älter, sein Haar allmählich dünner, dann weiß, seine Haltung klapperiger. Sein Arbeitstempo, sein sachlich-freundliches Verhalten änderten sich nicht. Ob er an den Ruhestand denke, fragtest du ihn. Noch sei es nicht so weit, sagte er und gab den Grund an: Er müsse ein paar Jahre dranhängen, seine zwei Kinder, so spät gekommen, seien noch jung und studierten, das koste viel.

Nie sprach er zu dir über seine größte Sorge, die kranke Frau daheim, deren Multiple Sklerose in jenen Jahren allmählich fortschritt. Andere erzählten dir davon, auch dass er nach Feierabend und am Wochenende den Haushalt in Ordnung halte. Sie hatten ein kleines Haus in einem Vorort, ein Garten war auch zu betreuen. Deine Achtung vor ihm nahm immer mehr zu.

Als er ging und sich von dir verabschiedete, wart ihr beide bewegt, verrietet es mit Blicken, mit einer Andeutung im Tonfall. An Worten nur: danke - danke. Dann war er fort und es kam keiner mehr wie er. Einige Jahre später hörtest du, Herr Anders sei gestorben, relativ früh, gemessen am Durchschnitt. Du hättest ihm ein viel längeres Leben gewünscht. R.I.P.




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