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-- Prosa
--- Hausschlachtung

Aaron Gal - 22.01.2017 um 16:36 Uhr

Thomas hatte ein Schweinsgesicht, oder besser gesagt, helle Schweinsaugen. Natürlich nicht genau so, wie bei einem Schwein. Aber sie lagen klein und verkniffen unter flachen Brauen, beinahe wie in einer Hautfalte. Hätte man hundert Leute gefragt, an welches Tier Thomas sie erinnert, dann hätten wohl fünfundneunzig geantwortet: An ein Schwein.
Darum empfand man Thomas Gesellschaft auch als angenehm. Er schüchterte niemals ein, oder tat sich eitel hervor, so wie man es von anderen kennt. Man schwebte auch in keinerlei Gefahr, wenn man Nachmittage mit ihm verbrachte, wurde niemals ausgelacht, sondern konnte sich einfach treiben lassen und jeden Unsinn reden, der gerade durch den Kopf ging.
Allerdings war Thomas ungeeignet Streit zwischen uns Jungen zu schlichten, denn aus seiner Sicht war immer jeder ein bisschen im Recht. Man hatte auch nicht viel Lust, ihn nach seinem Urteil zu fragen, denn Beurteilungen machten ihm keinen Spaß. Egal nämlich wie das Urteil ausfiel, fragte man ihn nach den Gründen, ärgerte man sich hinterher. Und da Thomas kein Anlass zum Ärger sein mochte, machten ihm Beurteilungen eben keinen Spaß. Es war auch nicht möglich Thomas zu beeindrucken, denn aus seiner Sicht waren alle Menschen gleich interessant. Einerseits konnte man sich darum seiner Freundschaft stets gewiss sein, wenn man sie erst besaß, andererseits deprimierte es, wenn man tatsächlich einmal etwas Brillantes ausgeheckt hatte. Sein immer gleicher Kommentar lautete nämlich: Gute Idee! Aber wusste man wirklich nichts zu erzählen, war Thomas ein sehr begnügsamer Gesellschafter. Die bloße Nähe eines anderen Menschen reichte bereits und er verkniff zufrieden grunzend die hellen Schweinsaugen.
Wir sahen uns fast täglich im Hausflur. Meine Eltern und ich wohnten im vierten Stock, Thomas mit seinen Eltern Parterre. Auf einem großen Hof hinter dem Haus hielt Thomas Vater Gänse, Hühner und in einem abseitig gelegenen Stall Schweine. Zweimal im Jahr war Schlachttag. Nachbarn kamen dann im Hof zusammen und holten vorher bestelltes Fleisch ab. Wurde ein Schwein geschlachtet, aß man frisches Kesselfleisch und reichte Schnaps dazu.
Mir waren solche Anlässe zuwider, denn es roch nach dampfenden Innereien und Blut. Die gute Laune der Erwachsenen empfand ich als Hohn. Passender wäre gemeinsames Beten gewesen, denn immerhin war ja jemand verstorben. Ganz anders Thomas. An Schlachttagen war er stets unbeschwert und fand, dass die Welt ihren gerechten Lauf nimmt. Und als ich ihn einmal fragte, ob er denn kein Mitleid mit dem geschlachteten Schwein habe, sagte er:,,Fleisch wächst nun mal nicht auf Bäumen.“ Mir gefiel diese Erklärung nicht, da ich insgeheim dachte, dass gerade er gute Gründe für Mitgefühl habe. Aber das behielt ich für mich.
Eines Morgens wurde ich durch einen Tumult im Hausflur geweckt. Es polterte und ich hörte laute Stimmen. Eine Tür knallte. Noch verschlafen sah ich aus dem Fenster und erkannte, dass ein Erwachsener Thomas an einem Ohr ergriff und hinter sich her zerrte. Gemeinsam mit zwei anderen großen Gestalten bewegten sie sich in Richtung Hinterhof.
Schnell zog ich mich notdürftig an und rannte aus dem Treppenhaus, um zu schauen, was passiert war. Der Tumult hatte inzwischen den Hinterhof erreicht. An der Hausecke angekommen sah ich, dass Thomas von seinem Vater ins Schlepptau genommen wurde. Zwei weitere Männer schienen dabei behilflich zu sein. Thomas brüllte unverständliche Worte und weinte. Ich bekam es mit der Angst und hielt Abstand. In der Nähe des Stalles angekommen, nahmen die drei Männer Thomas in ihre Mitte und hielten ihn in Schach. Der Vater dirigierte einen der anderen näher zu sich heran und fragte:,,Geladen?“
,,Ja, ist geladen“, kam die Antwort.
,,Soll ich jetzt?“
,,Ja,“, lautete die knappe Anweisung.
Der Mann zog etwas aus der Manteltasche, das an eine Fettspritze erinnerte, wie sie Mechaniker zum Einfetten von Motoren benutzen. Er hielt das Ding an Thomas Schläfe, während sein Vater den Kopf an beiden Ohren ergriff und ihn mit seinen kräftigen Händen fixierte. Im nächsten Moment hörte ich einen Knall. Thomas blutete aus der Schläfe. Erst jetzt ließ der Vater ihn los.
,,Ich habe nicht richtig getroffen“, sagte der mit der Fettspritze.
,,Nicht schlimm“, entgegnete Thomas Vater.
,,Der macht jetzt noch ein kleines Tänzchen und dann ist Schicht.“ Thomas taumelte auf mich zu, verdrehte die Augen und fiel zu Boden. Er krümmte sich. Sein Vater und der Fettspritzenmann nahmen ihn vom Boden auf und zogen ihn bis zum Schweinestall. An der Eichentür legten sie ihn kopfüber auf zwei angelehnte Bretter und banden die nackten Füße oben an Haken fest. Den Kopf ließen sie in einen Blecheimer baumeln, der zwischen den Brettern stand. Der bis jetzt unbeteiligte Mann legte eine weiße Gummischürze an, die bis zum Boden reichte. In der einen Hand hielt er ein Schlachtermesser, welches er mit ein paar Hieben am Wetzstahl in der anderen schärfte. Dann prüfte er die Schärfe mit seinem Daumen und trat die Zigarette aus, die er bis jetzt in seinem Mundwinkel hielt. Er kniete sich vor den Blecheimer, fasste Thomas an den Haaren und führte einen tiefen Schnitt einmal rund um den Hals aus. Wie aus einem Sturzbach schüttete es rot trommelnd in den Eimer. Entsetzt hielt ich mir die Hände vor´s Gesicht. Durch einen kleinen Spalt sah ich Thomas an den Schlachtbrettern zittern und um sich schlagen. Die Bretter übertrugen ein Rappeln an die Stalltür und so hallte zum Ausbluten ein Begleitkonzert über den ganzen Hof wider.
,,Kommt her und haltet fest,“ rief der Beschürzte, ,,sonst geht er uns noch stiften." Er steckte das Messer in die Schürze und bückte sich nach einem Gerät, etwa von der Größe einer Brotschneidemaschine. Thomas Vater und der andere drückten den wehrigen Körper gegen die Bretter. Die Maschine surrte auf Knopfdruck und kreischte auf, als der Beschürzte den Torso der Länge nach teilte. Mit irren Verrenkungen klatschten die beiden Hälften wie frisch gefangene Forellen aneinander, so dass die Männer Mühe hatten, sie fest im Griff zu behalten. Nur langsam beruhigte sich das Zappeln und Winden, bis aller Widerstand erlosch. Inzwischen kamen Nachbarn mit einem Blechkessel herbei, der mit heißem Wasser gefüllt war. Dann ging alles sehr schnell. Der Körper wurde zerteilt, große Stücke wurden in eine Plastikwanne geworfen, kleinere in den Kessel. Mittlerweile versammelten sich immer mehr Menschen im Hof. Thomas Vater ging mit einer Flasche herum und schenkte reihum jedem ein. Man trank in einem Zug und reichte das Glas dann an den nächsten weiter. Die Stimmung war ausgelassen, manche lachten. Einige gingen zum Kessel und versammelten sich dort mit Plastkgeschirr in ihren Händen. Eine Frau verteilte das dampfende Gut und schöpfte jedem mit der Kelle eine Portion Fleisch mit Brühe aus dem Kessel. Vorsichtig ging ich näher heran.
,,Hier nimm ein Stück Kesselfleisch, Junge!“, sprach mich die Frau an.,, Du warst doch sein bester Freund!“ Sie hielt mir einen Fleischteller direkt unter die Nase.
,,Nun nimm schon!“
Betäubt und sprachlos angesichts der Gräuel, deren Zeuge ich wurde, nahm ich den Teller.
,, Isst du jetzt endlich?, “, fragte sie in einem fordernden Ton. Alle Nachbarn beim Kessel waren plötzlich still und schauten mich an.
,,Ja“, antwortete ich apathisch, während ich in die Runde schaute. Dabei nahm ich einen Bissen, kaute und schluckte ihn hinunter.
,,Warum habt ihr das getan?““, hörte ich mich fragen.
,,Das ist nun mal so, Kleiner, da kann man nichts machen“, .sagte ein Mann, der neben mir stand. ,,Fleisch wächst nun mal nicht auf Bäumen.“
,,Aber wie konntet ihr ihn einfach schlachten?“, brüllte ich. ,,Er war doch ein Junge und kein Schwein. Er hat doch höchstens an ein Schwein erinnert. Kaltes Entsetzen stieg in mir auf. Alle Nachbarn, die mit mir um den Kessel standen, lachten. Die Frau sagte:,,Ja, er sah aus wie ein Schwein! Wie das wohl kam?“ Einige glucksten vor Lachen. Die Frau kicherte und suchte bei Umstehenden Blickkontakt. Um mich zu beruhigen, steckte ich mir einen weiteren Bissen in den Mund, musste aber augenblicklich erbrechen.
Mittlerweile traf meine Mutter ein. Sie streichelte meinen Kopf. Dann sagte sie: ,,Das ist nun mal so, sei nicht traurig!“
,,Aber Mama, die können doch nicht einfach einen Jungen schlachten, das geht doch nicht!“ Ich fiel ihr um den Hals und weinte. Sie umarmte mich fest und flüsterte:
,,Das war kein Junge.“




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