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--- Gods Own Country - Film von Francis Lee

ArnoAbendschoen - 12.02.2018 um 23:07 Uhr

Der Rezensent musste im Netz lange suchen, bis er eine überwiegend negative Kritik des Films entdecken konnte. Er fand sie schließlich in der österreichischen Zeitung „Die Presse“: Dort titelte Andrey Arnold am 27.10.2017: „Film-Yorkshire wie aus der Whisky-Werbung“. Gewöhnlich sonst nur Zustimmung, auch viel begeistertes Lob. Und wie viele Preise der Anfang desselben Jahres herausgekommene Streifen schon bekommen hat! Tatsächlich weist er große Qualitäten auf: dichte Atmosphäre, beeindruckende Landschaftsbilder, kluge Kameraarbeit, tüchtige Schauspieler, Einblicke in eine entlegene Ländlichkeit - als Ganzes ist er ein ambitioniertes Filmdrama, das den Absturz in die Tragödie vermeiden will und kann.

Worum geht es? Der Mittzwanziger John (Josh O`Connor) ist übel dran. Er muss die Arbeit auf der Schaffarm seines Vaters weitgehend allein bewältigen, nachdem der Alte einen ersten Schlaganfall erlitten hat. Es gibt noch eine Großmutter (Gemma Jones), die den Haushalt führt. Johns Mutter hat schon vor langer Zeit Hof und Familie verlassen. Es ist eine harte und raue, scheinbar gefühlskalte Welt. John ist überfordert, trinkt zu viel und hat nur anonymen Sex mit Männern. Dann wird für eine Woche Gheorghe (Alec Secareanu), ein rumänischer Wanderarbeitnehmer, zur Hilfe eingestellt. Die beiden freunden sich an und unter Gheorghes Einfluss verändert sich John zum Positiven hin. Eine größere Krise wird überstanden, am Schluss scheint es für die beiden jungen Männer eine gemeinsame Zukunft auf einer modernisierten Farm zu geben - ein bedeutender Stoff, zweifellos.

Nur leider: An dem Wiener Verriss ist einiges dran. Dessen Verfasser erinnern die beiden Hauptfiguren an „formidable Herrenmodemodels“, er moniert am Drehbuch die vielen „Klischees“ und „die Substanz eines abgegriffenen Groschenromans“. Auf der einen Seite handelt es sich um ein typisches britisches Sozialdrama, das Realität ungeschminkt darstellt. Daran ist nichts zu bemängeln. Doch die Filmfiguren wollen sich dieser Umgebung nicht bruchlos einfügen, es mangelt ihnen zum Teil an Glaubwürdigkeit. Das trifft bereits für den Vater (Ian Hart) zu, der den Zustand der Hinfälligkeit nach seinem zweiten Schlaganfall nicht wirklich vermitteln kann. Wie rosig das Gesicht, wie wach die Augen … Unfreiwillig hilflos wirkt allerdings der Darsteller des John, wenn er die Wandlung, das Reifen eines Charakters plausibel machen soll. Und der Rumäne, ein fast zu gut aussehender Fremder, ist geistig wie charakterlich ein Idealbild von Mann, schlechthin ein Erlöser für diesen Ort der Beladenen. Wenn er John sehr überlegen betrachtet, scheint er eher eine Versuchsanordnung in einem Labor zu überwachen als selbst in eine Handlung voller Leidenschaft involviert zu sein. Dahinter steckt weniger Unvermögen der Darsteller als vielmehr Schwäche des Drehbuchs. Sie kommt vor allem im letzten Drittel zum Vorschein und stellt die Schauspieler vor so gut wie unlösbare Aufgaben. Francis Lee hat seinen Film wie einen etwas altbackenen Erziehungsroman konzipiert, mit einem sehr problematischen, doch wandlungsfähigen jungen Mann einerseits und einem perfekten neuen Gefährten andererseits, der das an John bisher Versäumte im Schnelldurchgang nachholt. Dass einer wie Gheorghe dreckige Gelegenheitsjobs annimmt, nehme ich dem Film schon nicht ab. Und wenig wahrscheinlich ist auch, wie mühelos John auf dem Land Sexpartner findet, z.B. bei einer Viehauktion oder in der Dorfpinte abends. Insgesamt paart sich im Ergebnis also Verismus mit pädagogisch überfrachtetem Kintopp.

Warum regt sich so gut wie keine Kritik am ästhetisch Unbefriedigenden des Werks? Ein schlimmer Verdacht: Ist da nicht ein sehr willkommener politischer Standpunkt des Films auszumachen – ein rückständiges, hilfsbedürftiges Britannien als Gewinner, und zwar dank Zustroms von außen? Der Filmemacher scheint dafür Stichworte zu liefern: Die Mutter des Rumänen ist Englischlehrerin, Johns Vater wird von einer schwarzen Ärztin behandelt, auf den in zweierlei Hinsicht am Boden liegenden John sehen die kontinentalen Gastarbeiter einer großen Kartoffelproduktion verächtlich herab wie auf einen Poor White. Für den ebenfalls in Wien erscheinenden „Kurier“ wird Gheorghe gar zum „Flüchtling“ – dabei deutet er John gegenüber an, wegen einer früheren Liaison nach England gekommen zu sein. Auch die Seite critic.de unterstreicht dennoch den möglichen politischen Aspekt, spricht von „Transformation in Zeiten des Brexit“ und formuliert: „Entstanden während der Brexit-Debatte, argumentiert der Film gegen die politische Verschlossenheit, die immer auch eine Verschlossenheit der Gefühle und der Körper bedeutet.“ Auch so kann man eine private Liebesgeschichte überhöhen wollen und d.h. wiederum überfrachten. Die EU-weite Agrarstrukturkrise, gerade in den Bergregionen, die im Film mitverhandelt wird, ist ja nicht Folge des Brexit, sondern im Gegenteil eine von dessen vielen Ursachen.

Der nordenglische Bauernsohn Francis Lee hat seine Motivation für den Film so erklärt: Er habe darstellen wollen, wie sein Leben verlaufen wäre, hätte er selbst den elterlichen Hof in den Pennines nicht verlassen. Nur ist die Figur John eine Generation jünger als Lee selbst. Damit hat der Filmemacher eine persönliche, Jahrzehnte zurückliegende Problematik – gehen oder bleiben - in die Gegenwart von heute verpflanzt, für einen aktuellen Problemfilm mit starken sozialen Bezügen keine gute Voraussetzung. Mit einer weniger streng schematischen Figurenzeichnung hätte „God’s Own Country“ dennoch ein großartiger Film werden können.




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