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-- Lektüregespräche
--- Juli 2019

Kenon - 05.07.2019 um 08:17 Uhr

Seidler / Zeigert - Die Führerhauptquartiere
Anlagen und Planungen im Zweiten Weltkrieg

In einer Bahnhofskneipe in einer tschechischen Kleinstadt erzählte mir ein ukrainischer Gastarbeiter über ein Glas Bier, dass Familienmitglieder von ihm daheim in Winnyzja im ehemaligen Führerhauptquartier "Werwolf" als Museumsmitarbeiter beschäftigt seien. Es ist zum einen immer etwas verstörend, dass man so oft auf diesen Teil der deutschen Geschichte angesprochen wird, zum anderen hatte ich von diesem FHQ noch nie gehört, so dass ich skeptisch war und hinterher ein bißchen recherchierte, was mich zu oben genanntem Buch führte. Bei Gelegenheit schaue ich mir die Ruinen gern einmal vor Ort an.


Ackermann / Gobert - Looking for Lenin

Nach der Maidan-Revolution haben sich die Ukrainer von einem Teil des imperialen Sowjeterbes getrennt und fast alle kommunistischen Denkmäler aus der Öffentlichkeit entfernt, vor allem natürlich Lenin-Denkmäler. Dieses Stürzen von Lenin-Denkmälern hat einen eigenen Namen erhalten: Leninopad, auf deutsch etwa Leninfall. Das ist etwas anderes als Listopad (ukrainisch für November) und doch nicht gänzlich anders.
“Looking for Lenin” ist in erster Linie ein Bildband, der zeigen möchte, was aus einigen Lenin-Denkmälern (45) geworden ist. Sie sind geköpft, umgestoßen, stehen auf Schrottplätzen oder irgendwo einsam im Wald, sind in den Farben der Ukraine blau-gelb besprüht oder wurden umgestaltet, so dass wenig mehr auf den großen russischen Mörder und Knechter der Völker hinweist.

In Berlin Pankow steht hingegen immer noch eine riesige Lenin-Figur. Sie soll zwar Thälmann darstellen, aber der aus der Ukraine stammende Künstler Lew Kerbel hatte in Thälmännern keine Übung, dafür aber in Lenins, und so sieht sein Thälmann auch wie ein Lenin aus. Es ist längst Zeit, diesen Lenin-Thälmann von seinem Sockel aus ukrainischem Granit zu stoßen. Aber die SED-Erben in Pankow wünschen es anders: Sie wollen das Denkmal für den Lakaien Stalins und Totengräber der Weimarer Republik auch noch erweitern. Dafür stehe eine Summe von 180.000 Euro bereit. Berlin, Du bist so wunderbar!




ArnoAbendschoen - 06.07.2019 um 17:24 Uhr

Deine Erwähnung des Berliner Thälmann-Denkmals hat mich bei Musil nachschlagen lassen. In seinem Aufsatz "Denkmale" von 1927 vertritt er die Ansicht, Denkmäler hätten die paradoxe Funktion, die durch sie Geehrten im allgemeinen Bewusstsein vollkommen verschwinden zu lassen. Das müsste wohl in deinem Sinne sein ...

Das konkrete Beispiel an der Greifswalder Straße zeichnet sich noch dadurch aus, dass es sich in seiner Gigantomanie selbst desavouiert. Mit dem Schicksal des historischen Thälmann hat die auftrumpfend sieghafte Pose wenig zu tun, dafür umso mehr mit der Verunsicherung eines Staates, der in den 1980ern den Boden unter sich schon wanken fühlte. Aber auch das ist längst Geschichte, wenn auch ästhetisch durchaus interessant.

Bedenklich wird es, wenn dieser Pseudo-Thälmann von 1986 jetzt zeitgemäß verwurstet werden soll. In einem TAZ-Artikel von vorgestern äußert sich ein mit der Materie befasster Künstler so:

"Ciervo sieht das Denkmal ­dabei nicht nur im Kontext der Geschichte, sondern auch die Aktualität, die ihm noch innewohne: ´Die Faust steht auch für Protest, und Protest ist heute wieder angesagt.´ “

Der tote Thälmann hat zwar zu den großen Debatten der Gegenwart (Migration, Klima usw.) nichts beizutragen, aber die Faust kann man sich immerhin von ihm abschauen? Das ist so hohl wie gefährlich.

Nein, ich bin nicht für Abriss, nur für seine Instandhaltung als Teil unserer Geschichte - und gegen jede neuerliche Instrumentalisierung. Ich fürchte, die Vorgaben des Bezirksamtes laufen gerade auf Letzteres hinaus.




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