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-- Prosa
--- Das karierte Reh

ArnoAbendschoen - 02.02.2020 um 00:28 Uhr

Juni 1994. Abendschön macht Urlaub an der Spree - nicht in Berlin, sondern an ihrem Oberlauf. Taubenheim liegt nicht weit von der Quelle im Lausitzer Bergland. Die Spree ist ein schmaler Bach, das Dorf klein, das Essen schmackhaft-deftig, schon ein wenig böhmisch. Es böhmelt überhaupt in der Gegend. Bautzen, Zittau, Görlitz - schöne, alte Städte, so gesättigt von ferner Geschichte, dass sie einem fast fremdartig erscheinen. Man ahnt, was das einmal war: Ostmitteleuropa.

Schon damals rumorte es in den Zeitungen, im Regionalprogramm des Fernsehens. Die Leute waren besorgt wegen der häufigen Einbrüche. Die Täter kamen meistens über die grüne Grenze. Auch der Menschenschmuggel blühte schon. Etwas später wurden Zittauer Taxifahrer, die am Transport ab Grenze gut verdient hatten, zu Haftstrafen verurteilt.

Ich hatte einen Ferienbungalow am Ortsrand gemietet. Er war aus der FDGB-Konkursmasse an die Gemeinde gefallen und von ihr etwas aufpoliert worden. Es ließen sich da bei Tag ländlich heitere Stunden verbringen - doch meistens kam ich erst am Abend zurück, wenn die bewaldeten Grenzberge sich mehr und mehr verschatteten. Dann nahm die Schwermut zu, die für mich dort immer zu spüren war. Die Melancholie der Landschaft benötigte nur noch einen Anlass, um konkrete Angst auszulösen.

Die Jalousie neben meinem Bett war defekt. Ich konnte durch ihre breit klaffenden Lücken in die schwärzliche Nacht hinausstarren. Wer draußen vielleicht vorbeiging, würde mich daliegen sehen: Arno allein zu Haus. Schlich nicht gerade einer um den Bungalow? Da war ein scharrendes Geräusch, wie von festem Schuhwerk auf Betonboden, wie schlurfende Schritte. Der Bungalow stand auf einer vorkragenden Betonplatte. Zweifellos trieb sich da jemand herum. Ich schlief dennoch ein, träumte unruhig.

Am folgenden Abend identifizierte ich das Geräusch. Die Nachbardatsche war in privater Hand. Ihre Besitzer wohnten in der Nähe und verbrachten den größten Teil des Tages hier draußen. Wenn sie abends heimgingen, ketteten sie den Hund am Bungalow an. Er schleifte nachts die Kette über den Steinfußboden, er verrückte seinen Blechnapf auf dem Beton. Kein Grund zur Beunruhigung.

Am letzten Tag ging ich noch einmal hinauf in die Grenzberge. Reisepass und gesamtes restliches Bargeld hatte ich auch jetzt dabei, aus Furcht vor Einbrechern. Dann stand ich auf einer Felsenkanzel und sah über den steil abfallenden Wald in die Ferne. Die jungen Fichten unter mir waren kaum anderthalb Meter hoch. Auf einmal musste ich niesen und unmittelbar darauf hörte ich da unten etwas hopsen oder plumpsen. Ganz kurz gewahrte ich verschwommen eine Silhouette am unteren Rand meines Gesichtsfeldes. Es musste ein Säugetier sein. Ich entschied mich für ein Reh.

Es war dann wieder still. Plötzlich huschte mein Reh über eine kleine Lücke im Baumbestand, bemüht, rasch wieder Deckung zu gewinnen. Das Reh trug ein kariertes Oberhemd, mehr konnte ich nicht erkennen. Ich machte, dass ich schnell und möglichst geräuschlos aus dem Wald herauskam. Heute glaube ich, keiner von uns beiden war damals neugierig auf den anderen, den Fremden.




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