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--- Berliner Tagebuch, 16.03.2020 - Halsschmerzen

Kenon - 16.03.2020 um 23:07 Uhr

Liebes Tagebuch,

heute hat die zweite Woche Homeoffice angefangen. Ich habe das Haus überhaupt nicht verlassen, weil ich nachts kurz vor 4 Uhr mit Halsschmerzen aufwachte. Fieber und Husten haben sich glücklicherweise nicht eingestellt und ich bin guter Dinge, dass es mir morgen bereits wieder besser gehen wird.
Normalerweise würde sich jetzt jeder über das Ende des “Winters” und die steigenden Temperaturen freuen, einhergehend mit gesteigerter Mobilität im Freien - in der Spitze waren es wohl am Tag schon 17 Grad. Ich habe nicht viel davon mitbekommen. Die Vögel zumindest scheint es zu freuen: Tauben, Spatzen, Sperlinge, Meisen und riesige Großstadt-Raben lassen sich gern auf unserem Balkon nieder. Die Pflanzkästen liegen größtenteils brach, etwas Minze, Koriander und Petersilie wächst allerdings schon wieder nach. Wenn es nachts nicht mehr friert, könnte die Pflanzzeit beginnen. Wird es sie dieses Jahr überhaupt geben? Ein paar Samen aus dem letzten Jahr habe ich noch - falls die Baumärkte geschlossen bleiben müssen.

Am gestrigen Sonntag habe ich die Internet-Übertragung des Gottesdienstes des Pfarrers Stephan Rauscher aus Attenkirchen bei Freising in Bayern gesehen. Man mag Atheist sein und Religion vielleicht ganz allgemein als eine Sache für alte dumme Leute abtun, mich hat diese Übertragung in der fast leeren Kirche sehr berührt, was natürlich an der Art der Durchführung des Gottesdienstes durch den Pfarrer gelegen hat und den Worten, die er für seine Predigt wählte. Ich bin nicht katholisch, allerdings in einem tief-evangelischen Elternhaus aufgewachsen, mein Vater war viele Jahre Angestellter der Kirche, ich habe als Kind zu DDR-Zeiten in einem Haus gewohnt, in dem auch Gottesdienste abgehalten wurden und wurde deswegen in der sozialistischen Schule gehänselt. Ich glaube nicht an Gott, weil meine Kindheit mir bewiesen hat, dass es ihn nicht geben kann und ich ihn mir nicht als grausam vorstellen mag, auch wenn es auf vielen Seiten des Alten Testaments genau so nachzulesen ist. Das schwingt immer ein bisschen mit, wenn ich einen Gottesdienst sehe, aber ich habe in den letzten Jahren auch gelernt, dass die großen Weltreligionen in Zeiten der Krise, wo man großes Leid bis hin zu Toden wie beispielsweise im Krieg Russlands gegen die Ukraine bewältigen muss, den Menschen Kraft geben können: Schaut her, die Erde mag brennen, aber ich als Amtsträger mache weiterhin, was wir seit Jahrhunderten oder Jahrtausenden gemacht haben, ich halte zum Beispiel diesen Gottesdienst ab, dem sonst nur noch zwei Nonnen und der Organist neben dem Kamerateam beiwohnen. “Das Leben an sich hört nicht auf” ist die erfreuliche Botschaft. Es geht nicht darum, zu glauben, dass ein Herr Jesu Gottes Sohn war und zum Beispiel wie auch immer über Wasser gehen konnte, sondern sehr viel mehr um zwischenmenschlichen Trost und Kontinuität. Aber wie Du weisst, bin ich am ehesten noch Buddhist, und so endet für mich seit langer Zeit jeder Tag mit einer Meditation vor dem Schlafengehen. Ich freue mich, dass ich atmen kann und darf.

Eine etwas dumme Anekdote möchte ich vom Sonnabend noch nacherzählen. Überall in der zivilisierten Welt horten Menschen jetzt Toilettenpapier, sodass es schwierig ist, überhaupt noch welches zu kaufen, wenn man es dringend braucht. Im dritten Geschäft wurde ich fündig und so erstand ich tatsächlich eine zuvor noch ungesehene Sorte, die den nicht von mir erfundenen Namen “Happy End” trägt. Ich habe kurzzeitig mit dem Gedanken gespielt, ein Bild von der Packung in den sozialen Medien zu teilen - aber ich lass das lieber die anderen machen mit ihren Bildern von leeren Regalen und Videos von Kassenkämpfen, die doch nur für mehr Panik sorgen. Wie einige wenige ihre diamantenbesetzte Gold-Rolex durch die Gegend tragen, trug ich dann die “Happy End”-Toilettenpapierpackung nach Hause. “Schau”, sagte ein Bauarbeiter zu seinem Kollegen auf meinem Weg, “der hat noch Toilettenpapier bekommen”.

Alles ist so banal. Unser ganzes Leben. Auf so vieles können wir verzichten, aber schnell bricht das ganze Kartenhaus der Eitelkeiten zusammen, weil alles mit allem zusammenhängt und so eng genäht ist, wir so eng beieinander leben und auch so viel reisen. Die Menschen sehen noch kein Licht am Ende des Tunnels, die Börsenkurse rauschen immer weiter Richtung Boden. Wer jetzt verkauft, macht sich sehr unglücklich. Vielleicht sieht es in zwei Wochen anders aus, wenn die Ansteckungskurven tatsächlich abflachen sollten. Wir sind bedroht wie Angkor Wat: Wir haben unglaubliches geschaffen, aber das alles ist unheimlich fragil.

In Italien soll Albert Camus´ “Die Pest” (1947) ein Bestseller sein. Ich habe in den vergangenen Tagen öfter an dieses Buch gedacht, für manche war oder ist es Pflichtlektüre in der Schule, mir würde es momentan nichts geben. Ich verbleibe heute lieber mit den barock-stoischen Zeilen von Andreas Gryphius:

Zitat:

Es ist alles eitel

Du siehst, wohin du siehst nur Eitelkeit auf Erden.
Was dieser heute baut, reißt jener morgen ein:
Wo itzund Städte stehn, wird eine Wiese sein
Auf der ein Schäferskind wird spielen mit den Herden:

Was itzund prächtig blüht, soll bald zertreten werden.
Was itzt so pocht und trotzt ist Morgen Asch und Bein
Nichts ist, das ewig sei, kein Erz, kein Marmorstein.
Itzt lacht das Glück uns an, bald donnern die Beschwerden.

Der hohen Taten Ruhm muß wie ein Traum vergehn.
Soll denn das Spiel der Zeit, der leichte Mensch bestehn?
Ach! was ist alles dies, was wir für köstlich achten,

Als schlechte Nichtigkeit, als Schatten, Staub und Wind;
Als eine Wiesenblum, die man nicht wiederfind't.
Noch will was ewig ist kein einig Mensch betrachten!

Dein K




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