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--- Berliner Tagebuch, 28.03.2020 - Fuerteventura

Kenon - 29.03.2020 um 00:21 Uhr

Liebes Tagebuch,

ich habe jetzt drei Wochen von zu Hause aus gearbeitet. Vor drei Wochen war ich noch auf Fuerteventura im Kurzurlaub, um mich von meinem nicht immer einfachen Alltag zu erholen. Das letzte Jahr war wirklich eines der anstrengendsten. Auch im Urlaub war die Welt schon nicht mehr in Ordnung. Auf dem Hinflug reiste ein junges russisches Pärchen mit, das bereits professionelle Atemschutzmasken trug und im Bus zum Flugzeug ein Schiebefenster öffnete, um unverseuchte frische Luft atmen zu können. Ich war mir im Vorfeld selbst gar nicht mehr so sicher, ob ich die Reise antreten sollte und hoffte, dass die Lage nicht während meines Urlaubs eskalieren würde; im Kopf habe ich mir die verschiedensten unvorteilhaften Szenarien ausgemalt. Die Tage auf Fuerteventura waren dann sonnig und schön, auch wenn auf den Busfahrten über die Insel bereits einige Mitfahrende husteten und es zu Umsetzmanövern kam, wann immer sich die Gelegenheit bot, nicht neben oder vor einem Kranken zu sitzen. Auf dem Rückflug, um mich herum fast ausschließlich Rentner, wurde noch viel mehr gehustet und geniest. Da konnte man selber kaum gesund bleiben.

Jetzt ist wieder Wochenende. Ich habe mich ein wenig um die Pflanzenkästen auf dem Balkon gekümmert. Die Pfefferminze kommt schon wieder, obwohl es nachts noch viel zu kalt ist, aber sie riecht kein bisschen. Auch habe ich ein erstes Gericht aus dem neuen spanischen Kochbuch probiert, mich aber nicht an mehr als eine Tortilla gewagt. Ein einfaches Gericht, das dann doch nicht ganz so einfach ist. Es ist schon ganz gut gelungen und kann noch so viel besser werden. Demnächst gibt es wieder indisch. Ich liebe es, indisch zu kochen - und ganz genau nicht das, was man hier aus einem indischen Restaurant kennt.

Weiterhin Social Distancing. Ich habe Dir schon gesagt, dass mir das bereits seit langem gut gefällt. Wie ich sehe, nicht jedem. Im Treppenflur stehen vor einer Tür acht Paar Schuhe. In der Wohnung wird sicherlich eine Corona-Party gefeiert, auch gibt es sie wirklich, die uneinsichtigen Jugendlichen, die in Grüppchen durch die Straßen ziehen, selbst hier in Lichtenberg. Wer ist das? Menschen, die sprachlich und kulturell schwer zu erreichen sind: Albaner, Russen, deutsche Unterschicht. Die Gefahr ist für sie zu abstrakt, muss erst in ihrem direkten Umfeld zuschlagen, damit sie begreifen, was sie nicht sehen.

Mit einem Mal schreiben die Zeitungen in Deutschland, dass das Tragen von Masken helfen könnte, das Problem, mit dem wir leben müssen, sichtbar zu machen. Plötzlich heißt es sogar, dass Masken helfen könnten, Ansteckungen zu verhindern. Davor wurde man nur belogen, damit man keine Masken kauft, weil so ein Mangel an Masken herrscht. Ich habe noch einige wenige von meinen früheren Thailand-Urlauben. Der Smog in Bangkok war unausstehlich für meine asthmatische Lunge und die Masken haben nicht wirklich geholfen, mir aber einige bedauerliche Blicke der Thailänder eingebracht. Wenn man keine Maske hat, kann man sich anderweitig behelfen, selbst ein über Nase und Mund gewickeltes T-Shirt kann einen ein wenig schützen.
Den Leuten fällt es also schwer, das Social Distancing einzuhalten. Man probt neue Formen des Beisammenseins, z.B. das gesellige Biertrinken auf dem Schaltkasten vor einem Späti, das Bilden eines gleichschenkligen Dreiecks im Park, bei dem alle Eckpunkte mindestens 1,5 Meter voneinander entfernt sind und das sich schnell auflöst, wenn ein Vertreter der Ordnungsmacht erscheint; selbst die relativ neue Eck-Kneipe hat noch nicht aufgegeben und praktiziert jetzt einen Außenausschank durch die halbhoch versperrte Tür. Hoffentlich gibt es wenigstens - aus hygienischen Gründen - nur Flaschenbier.

Deutschland ist bis jetzt relativ glimpflich davongekommen, auch wenn das Virus punktuell schon stark gewütet hat. Ich muss mich auf mindestens drei weitere Wochen Homeoffice einrichten. Es gibt schlimmeres.

Dein K

PS: Den ausgefallenen Reisen trauere ich schon nach. Unter anderem standen Palermo und Slavutych, die Ersatzstadt für Tschernobyl und letzte Neugründung der UdSSR auf dem Plan. Noch mehr wird ausfallen, aber ich habe auch schon viel von der Welt gesehen. Eigentlich genug, um glücklich sterben zu können, obwohl ich das im Moment nicht vorhabe.




ArnoAbendschoen - 29.03.2020 um 17:36 Uhr

Nur kurz, Kenon. Deine Tagebucheinträge zum Thema sind vorzüglich. Sowohl informativ wie auf nachvollziehbare Weise subjektiv gefärbt, auch literarisch gelungen. Loben bzw. gut bewerten würde ich auch Itzikuopengs letzten Beitrag unter "Neue Werke", doch scheint das zzt. technisch nicht möglich.

Selbst habe ich jetzt keine Ambitionen, das Thema zu bearbeiten. Zum Schreiben benötige ich immer mehr Distanz zu einem Stoff.

Weiterhin alles Gute
Arno Abendschön




Kenon - 30.03.2020 um 00:00 Uhr

Danke, Arno, auch für den Hinweis auf Itzikuo Peng´s Text der mir sonst entgangen wäre - oder den ich erst viel später entdeckt hätte. Deine Rückmeldung macht es mir einfacher, mit den "Aufzeichnungen" fortzufahren.

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