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-- Aesthetik
--- Die Falschmünzer: Glücksfall von Verfilmung

ArnoAbendschoen - 29.07.2020 um 11:57 Uhr

Es hat 85 Jahre gedauert, bis Gides großer und einziger Roman „Die Falschmünzer“ sich in einen zweistündigen Film verwandelte, von 1925 bis 2010. (Die Version mit deutschen Untertiteln kam 2014 heraus.) Das lange Warten hat sich gelohnt. Der Film von Benoît Jacquot hält geschickt die Balance zwischen Nachzeichnen der Vorlage und Setzen eigener Akzente und verzichtet zum Glück auf Einführen vollkommen neuer Elemente. Die Struktur ist insofern verändert, als nun rein linear erzählt wird – keine Rückblenden mehr. So vertauschen Lauras Hochzeit und Edouards erste Begegnung mit Georges ihre Plätze mit Bernards Flucht aus der Familie. Außerdem wird das Geflecht aus Personen und Handlungssträngen deutlich gestrafft. Nebenfiguren und manche Episoden entfallen. Dennoch befinden wir uns in jeder Minute in Gides Welt. Es zeigt sich, wie filmreif die Kapitel aus dem Buch bereits angelegt waren.

Die exzellenten Schauspieler – allen voran Melvil Poupaud als Edouard – erscheinen durchaus wie Menschen des sehr frühen 20. Jahrhunderts. Über dem Edouard des Films liegt allerdings wie über dem des Romans ein Hauch Zwanzigerjahre. Er spiegelt so den Autor Gide, ein um zwanzig Jahre verjüngter Gide und dennoch mit den Lebenserfahrungen und der schriftstellerischen Praxis eines Mittfünfzigers. Vielleicht liegt auch in dieser historischen Ambivalenz Edouards starke, rätselhafte Anziehungskraft begründet. Alle übrigen Figuren sind zeitgeschichtlich bruchlos wie im Roman, Gestalten der Welt vor dem 1. Weltkrieg, kein Fin de Siècle mehr, doch scheinbar in einer stabilen, gesellschaftlich unerschütterlichen Ordnung lebend. Es sind die privaten Eigenschaften und Dramen der Erwachsenen, die die Heranwachsenden aufdecken und sie zu Reaktionen herausfordern: Mittelmäßigkeit, Hohlheit, falscher Ehrgeiz, Ehebruch, Senilität. Auf die Falschmünzerei im Wortsinn, die im Roman eine Nebenrolle spielt, verzichtet der Film. Er rückt auch das Handwerk und die Abenteuer der Romanproduktion, im Buch ein zentrales Thema, an den Rand zugunsten des Sittenbildes und der seelischen Entwicklung der Individuen.

Die Bilder des Filmes, vor allem von Innenräumen und –dekorationen oder Garderoben, erzeugen eine vollkommen authentisch wirkende Atmosphäre von Paris und Saas-Fee damals. Um welches Jahr mag es sich gehandelt haben? Als spätestes muss man 1907 annehmen, da der historische Skandalliterat Alfred Jarry auftritt und in einer Bankettszene die Handlung entscheidend vorantreibt. Jarry, hier schon sehr heruntergekommen, starb 1907. Wahrscheinlicher ist als Zeitrahmen der Handlung das Jahr 1906: Es ist einmal die Rede von einer anstehenden Wahl des Politikers und Romanciers Barrès, der in jenem Jahr sowohl in die Académie française wie ins Parlament kam.

Vertiefen kann man das Filmerlebnis, indem man erneut oder erstmalig zur Romanvorlage greift. Man freue sich auf die Begegnung mit weiteren klassisch gewordenen Gestalten der Weltliteratur, die im Film keinen Platz mehr gefunden haben, so auf Madame La Pérouse, auf Strouvilhou oder Armand. Verfilmen wir diese Szenen in unserem eigenen Kopf.




Kenon - 06.08.2020 um 22:25 Uhr

Fast zufällig ist das neben der Verfilmung von Joseph Conrad´s “Herz der Finsternis” einer der wenigen Filme, die ich in der letzten Zeit geschaut habe. Fast zufällig nur, weil der Film gerade ohne Zusatzkosten bei meinem Streaming-Anbieter läuft.
Der Film “Die Falschmünzer” ist tatsächlich aufwändig kostümiert und inszeniert, inwiefern da die Pariser 1920er Jahre authentisch dargestellt werden, kann ich allerdings nicht beurteilen. Auf jeden Fall sieht alles ansprechend alt aus. Gut unterhalten hat mich der Film nicht, ich habe irgendwann angefangen, nebenbei noch Gitarre zu spielen. Diese überschäumenden französischen Liebeserzählungen geben mir nichts, es sind törichte Dummheiten. Was wollen diese Schriftsteller mit den jungen Burschen? Sind ihre alternden Augen schon so schlecht, dass sie jemanden brauchen, der ihnen etwas vorliest? Vermutlich nicht.
Die Selbstmordszene mit dem seltsamen, sensiblen Enkel des Lehrers reißt es zum Ende des Films wieder etwas heraus: Der Lehrer schafft es nicht, sich umzubringen, aber dem Enkel, der wie Oskar Matzerath aussieht, gelingt es - nichtsahnend - denn er möchte von seinen Altersgenossen anerkannt werden, zu ihnen gehören. Das ist ein großer Fehler:
Wenn Du nicht wie die anderen bist, wirst Du nie dazugehören, also spare Dir jegliche Mühe, Dich selbst für etwas zu opfern, das Dir nicht bestimmt ist.




ArnoAbendschoen - 20.08.2020 um 17:09 Uhr

Danke, Kenon, für deine Eindrücke vom Film (erst jetzt gelesen, war verreist). Einige Akzente möchte ich schon anders setzen. Geradezu "überschäumend" kam mir kaum etwas vor. Um das Bild aufzunehmen: viel gebremster Schaum in einem dichten Geflecht von Interaktionen, von denen weit mehr als die Hälfte auf heterosexueller Anziehungskraft beruht (Lady Griffith - Vincent, Laura - Vincent, Laura - Edouard, Laura - Douviers, Laura - Bernard, Sarah - Bernard). Und die zwei ephebophilen Schriftsteller können kaum "alternde Augen" haben, da sie Männer in den Dreißigern sind. In Passavant haben Gides Zeitgenossen Cocteau in seinen jüngeren Jahren wiedererkannt.



Kenon - 20.08.2020 um 23:23 Uhr

Ich hoffe, Du hattest einen schönen Urlaub.

Mit den Franzosen kenne ich mich nicht besonders gut aus. Balzac, Stendhal, Camus, Sartre und Celine. Das war es vielleicht schon; der starke Fokus auf amouröse Beziehungen erinnert mich am ehesten an Stendhal. Diese ganzen Namen, die Du aufzählst - ich hätte von keinem einzigen sagen können, ob er tatsächlich zu dem Film gehört. Zum einen habe ich nicht besonders gut aufgepasst, was aber die Schuld des Films ist, zum anderen tue ich mich sowieso mit Namen schwer. Ich wollte hier auch nicht der Spaßverderber sein, aber ich bin eben kein Freund asymmetrischer Beziehungen, gleich welcher Art, und die eben scheint mir der Film doch auf eine gewisse Weise zu - ja, welches Verb passt denn hier am besten ...




ArnoAbendschoen - 21.08.2020 um 12:23 Uhr

Als Verb würde ich wertfrei "analysieren" vorschlagen. In der Tat handeln Roman wie Film ganz überwiegend von asymmetrischen Beziehungen. Das beschränkt sich nicht einmal aufs Amouröse. Asymmetrisch ist auch das Verhältnis Großvater - Enkel. Oder das von Bernard zu seinem nicht natürlichen Vater, zu dem er ganz am Schluss zurückkehrt. Diese Konstellationen und Abläufe müssen einen nicht mit Sympathie erfüllen, sie bilden jedoch ein Gutteil der Mechanik des individuellen wie gesellschaftlichen Lebens ab. Daher scheinen sie mir durchaus literaturfähig zu sein.

In der Aufzählung von Autorennamen durch dich fehlt Proust. Bei ihm finden sich noch krassere Beispiele für Asymmetrisches: der Erzähler und Albertine oder Odette und Swann.




Kenon - 21.08.2020 um 18:18 Uhr

“Literaturfähig” dürfte so ziemlich alles sein, was einem in den Kopf kommt. Ob man es für mindestens einen Leser (z.B. sich selbst) auch ansprechend gestalten kann, ist schon eine andere Frage. Letztlich geht es ja - innerhalb gesetzlicher Grenzen - nur um den Geschmack.

Von Proust habe ich bisher nur den ersten Band von “Auf der Suche nach der verlorenen Zeit” gelesen. Huysmans habe ich allerdings oben vergessen - und Jules Verne :D




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