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-- Politik & Gesellschaft
--- Die Räumung eines Berliner Slums

Kenon - 07.02.2021 um 23:44 Uhr

Schneetief Tristan hat Berlin weißgefärbt. Die Schneehöhe bleibt vorerst unter den Erwartungen, aber es sieht gerade tatsächlich ein bißchen nach Winter aus – so, wie er früher einmal war. Das Thermometer zeigt -7 Grad an, hin und wieder ziehen energisch eisige Windböen über die Rummelsburger Bucht in Lichtenberg und peitschen den Menschen in dicker Winterkleidung, die hier ihren Sonntagsspaziergang machen, rote Flecken in die Gesichter. Einige wagemutige verzichten auch bei dieser wenig freundlichen Witterung nicht auf ihre Joggingroutine und ziehen stoisch-stramm laufend ihre Runden. In den kahlen Bäumen am Ufer der Bucht hängen dutzende bunte Origami-Figuren, die an ein dort im Sommer des vergangenen Jahres ermordetes 15-jähriges Mädchen erinnern sollen.

Die Rummelsburger Bucht hat sich zu einem noblen Viertel entwickelt: Hier wohnen Bessergestellte in teuren aber wenig einfallsreich gestalteten Häusern, die man in den letzten Jahren nach und nach in die Brachen geworfen hat. Nur der Scheitelpunkt der Bucht ist noch nicht baulich erschlossen. Er ist allerdings seit geraumer Zeit von Bauzäunen umsäumt. Im vorigen Sommer sah ich immer wieder Lebensmittelspenden daran hängen und wusste nicht, warum. Ich hatte von Lebensmittelspenden an Obdachlose gelesen, die man so in Zeiten der Pandemie überreichte, aber wo waren hier denn Obdachlose?

In der Luft liegt der beißende Rauch alten, nassen Holzes, das verbrannt wird. Man riecht ihn noch über hunderte Meter von der Feuerstelle entfernt. Diese befindet sich in einem in der Nacht vom 5. auf den 6. Februar geräumten Obdachlosencamp, das etwa 100 Menschen als Wohnstatt diente. Ein paar Security-Männer “südländischen Aussehens” mit orangen Warnwesten sitzen in der Kälte vor einem Zelt. Sie wärmen sich hinter dem oben schon erwähnten Bauzaun an einem Feuer, das ghetto-mäßig in einem Eisenkorb entfacht worden ist. Als sie mich sehen, erschrecken sie kurz. Wieviele Stunden mögen sie das Gelände schon bewachen, um sicherzustellen, dass niemand von den teils in ein Hostel umgesiedelten, insgesamt aber doch vertriebenen Obdachlosen zurückkehrt, selbst wenn die Temperaturen wieder steigen? Die Security-Männer frieren gewiss. Den Mindestlohn werden sie hoffentlich erhalten.

An der Straße zum Ostkreuz gibt es einen kleinen Eingang zum Camp, der mit einem Verschlag aus Holzpaletten behelfsmäßig gesichert ist, dahinter noch mehr Security-Männer mit schwarzen Bärten, davor ein paar aufgeregte slawisch sprechende ehemalige Bewohner, teils mit Wägen zum Abtransport ihrer Habe, einige offensichtlich angetrunken – nach Informationen des Senats zumeist Bulgaren. Es wird wild diskutiert und auch geschimpft. Das Camp (so der offizielle Sprachgebrauch, Lager sagt man in Deutschland lieber nicht und Slum hört sich auch zu schlimm an ...) ist besetzt, es wird keine Rückkehr geben. Handgeschriebene weiße Transparente (schwarzer Edding), die am Bauzaun befestigt worden sind, erklären den ehemaligen Bewohnern des Geländes, dass sie noch vom 7.2. bis zum 12.2. zwischen jeweils 13 und 16 Uhr ihre Habseligkeiten abholen könnten. Die Security-Männer als mutmaßliche Angehörige des Prekariats schützen es vor Leuten, die nicht einmal mehr zum Prekariat gezählt werden können. Gestern gab es eine von Mitfühlenden (d.h. von Personen aus der linksextremen Szene) organisierte Solidaritätsveranstaltung, bei der auch ein Bagger, der schon mit Räumarbeiten beschäftigt war, beschädigt wurde. Der Bauherr hingegen soll schon auf dem Gelände, auf dem jetzt noch viele schneebedeckte Zelte stehen, unterwegs gewesen sein. Ob es sich dabei nun um ein Gerücht handelt oder nicht – vermutlich wird er jetzt bald bauen lassen können.




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