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--- Am Grab von Nico im Grunewald
Kenon - 28.03.2021 um 00:28 Uhr
Vom Wannsee oder in umgekehrter Richtung von Messe Nord bringt einen der sandgelbe, doppelstöckige Traditionsbus der Linie 218 in Berlin auch zur Haltestelle Havelweg im Grunewald. Von dort sind es nur noch wenige hundert Meter bis zum Friedhof Grunewald-Forst. Aufgrund seiner früheren Nutzung wird er auch „Friedhof der Namenlosen“ oder „Selbstmörderfriedhof“ genannt – vor seiner baulichen Befestigung soll selbst die Bezeichnung “Schandacker” gebräuchlich gewesen sein. Es ist ein kleiner Friedhof mitten im Wald, umgeben von einer steinernen Mauer. Die rechte Pforte ist geschlossen, ein Schild bittet, sie auch nach Durchschreiten gleich wieder zu schließen, da sonst gefräßige Wildschweine in die Ruhestätte gelangen und dort ihr Unwesen treiben könnten. Ich bewege mich vorsichtig durch die Pforte, Wildschweine begegnen mir weder im Friedhof noch später draußen auf meiner Wanderung durch den Wald zum Teufelsberg. Ich muss einen glücklichen Tag erwischt haben. Da ich den Friedhof aufgesucht habe, um das Grab von Christa Päffgen alias Nico (1938-1988) zu sehen, studiere ich den Gräberplan und mache ihr Grab (Nummer 82) schließlich ausfindig, um dann doch Reihe für Reihe über das Areal zu schreiten. Recht früh fallen mir fünf große orthodoxe Holzkreuze mit kyrillischen Inschriften auf, sie sollen hier für Russen stehen, die 1917/18 vor der Oktoberrevolution nach Berlin flohen und sich im Gram über die Ermordung des Zaren selbst getötet haben. Ihre Leichen wurden am Havelufer angespült …
Ich gehe eine Weile über die schmalen Wege, vorbei an der oft noch winterkahlen Vegetation. Nur der Efeu windet sich überall immergrün. Nicos Grab befindet sich am anderen Ende des Friedhofs. Ein kleiner schwarzer Stein mit Goldschrift zeigt an, dass hier ihre Überreste und die ihrer Mutter Margarete begraben sind. Vor dem Stein stehen zwei gerahmte Fotografien, eine davon zeigt Nico, wie sie auf dem Cover von “The Marble Index” (1968) zu sehen ist. Zwei welke Rosen stecken links vom Grabstein in einer leeren grünen Weinflasche, die vormals darin enthaltene Flüssigkeit soll laut der Beschriftung “Bio Vegan” gewesen sein – Fluch des neuen Jahrtausends. Rechts vom Grabstein stehen noch einmal zwei welke Rosen in einem grünen Plastebehälter, wie man ihn nur auf Friedhöfen sieht. Auf dem Grabstein liegt ein schwarzes Plektrum, ein Kienapfel, ein bunt bemalter Stein. Neben ein paar weiteren Kleinigkeiten ist das schon alles, was es äußerlich an dieser Grabstelle zu bemerken gibt.
Ich wollte schon sehr lange einmal hier sein, habe es aber in den fast zwei Jahrzehnten, in denen ich in Berlin wohne, doch nie hierher geschafft. Der Weg aus dem Osten der Stadt ist schließlich weit und was heisst es schon, vor so einem Grab zu stehen? Ich bin niemand, der Menschen verehrt, aber Nico hat mich bereits als Jugendlicher fasziniert, irgendwie fühle ich mich mit ihr verbunden. Allein der Name war mir schon ein Rätsel: Warum trug diese Frau den Namen eines Mannes? Ich bin allein auf dem Friedhof und habe mich über aktuell gängige Etiketten informiert: Während mir Liedfragmente wie “My heart is empty // But the songs I sing // Are filled with love for you", “Very proud and very poor // I'm waiting at your prison floor // A pity does not bear a single flower” und “Since the first of you and me asleep // In a Nibelungen land // Titanic curses trap me in // A banishment of stay” durch den Kopf gehen, trinke ich langsam eine kleine Flasche Rotkäppchen-Sekt in mich hinein. Es fühlt sich zum einen seltsam aber doch irgendwie angemessen an, schließlich stehe ich vor dem Grab eines Menschen, der einen großen Teil seines Lebens unter dem Einfluss von Drogen verbracht hat. Ein Blick in die Müllbehälter des Friedhofs verrät mir, dass andere Besucher ähnliche Rituale gepflegt haben. Mein Fläschchen nehme ich natürlich mit und entsorge es vorschriftsgemäß in der Stadt.
Seit 2018 wurde niemand mehr im Grunewalder Forst begraben. Der Friedhof ruht sozusagen. Ich hoffe sehr, dass er trotzdem weiter gepflegt und nicht irgendwann eingeebnet wird; er ist einer der wenigen Orte, die Berlin auch heute noch besonders machen. Nico soll ihn für sich und ihre Mutter bereits recht früh im Leben als spätere Ruhestätte ausgewählt haben. Eine gute Wahl.
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