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-- Lektüregespräche
--- Dezember 2021

Kenon - 06.12.2021 um 21:06 Uhr

Ein wie immer lesereiches Jahr geht zu Ende – das ist hier wahrscheinlich der letzte Logeintrag in den Lektürelisten, die seit 2004 geführt werden.

Nachdem ich vor einigen Wochen bereits Thoreau und Kropotkin einen erneuten Besuch abstattete, ist jetzt die Zeit für Bakunin gekommen. Bakunin hat mich erstmals in den frühen 1990ern vor allem als Antipode des autoritären, freiheitsfeindlichen Marx interessiert. Natürlich sind auch die Bakuninschen Ideen, sofern sie uns erhalten geblieben sind, eine Utopie, die man besser nicht zu verwirklichen sucht, allerdings geht unleugbar eine große romantische Strahlkraft von ihnen aus, die einen über so manches Ungenügen, das man in der heutigen Gesellschaft noch empfinden mag, für einige Momente hinwegtrösten kann.

Ricarda Huch – Michael Bakunin und die Anarchie (1923)

Literarisch anspruchsvoll geschriebene Bakunin-Biographie der berühmten Braunschweigerin, dabei aber nach heutigem Verständnis etwas mehr Literatur als Geschichte. Von Ricarda Huch hatte ich bisher noch gar nichts gelesen.

Hier hat die Autorin schön herausgearbeitet, wie die Schrift ein Instrument der Unterdrückung sein kann – und das ist sie ja auch ihrem Ursprunge nach, denn nicht Mythen und Dichtungen, sondern Steuerregister wurden wohl zuerst mit ihr festgehalten:

Zitat:

Große Stücke hielt er [Bakunin] auf das instinktive Vorgehen der Bauern zur Zeit der Französischen Revolution, die Pergamente zu verbrennen, auf welchen ihre Knechtschaft verbrieft war; man müsse bei einem Aufstand zuerst die Stadthäuser erstürmen, fand er, und die sämtlichen Papiere verbrennen, auf denen das Dasein der bürgerlichen Gesellschaft registriert ist. Er fühlte den Widerwillen des Naturmenschen gegen die papierene Grundlage der modernen Existenz mit.

Michail Bakunin – Gott und der Staat (1871)

Bakunins bekannteste Schrift. Ein großer Theoretiker, der seine Gedanken behutsam, stringent und ausführlich darlegt, war er nicht. Vermutlich hat er so geschrieben, wie er auch gelebt hat: Voller leidenschaftlicher Sprünge. In dem folgenden Beispiel fehlt es seiner Logik an Tiefe: Wer hat denn dieses “der Mensch soll frei sein” definiert? Michail Bakunin selbst. Wie wird begründet, dass der Mensch nur ein Sklave Gottes sei, falls Gott existiere? Gar nicht. Natürlich stimme ich Bakunin zu, dass der Mensch frei sein soll; aber solche pauschalen Aussagen sind immer nur persönliche Setzungen.

Zitat:

Ob es also den Metaphysikern und religiösen Idealisten, Philosophen, Politikern oder Dichtern gefällt oder nicht: Die Gottesidee enthält die Abdankung der menschlichen Vernunft und Gerechtigkeit in sich, sie ist die entschiedenste Verneinung der menschlichen Freiheit und führt notwendigerweise zur Versklavung der Menschen in Theorie und Praxis. Wenn wir also nicht die Versklavung und Herabwürdigung der Menschen wollen wie die Jesuiten, die protestantischen Momiers, Pietisten oder Methodisten, dann können und dürfen wir dem Gott der Theologie und dem Gott der Metaphysik nicht das geringste Zugeständnis machen. Denn wer in diesem geheimnisvollen Alphabet A sagt, sagt schließlich unvermeidlich auch Z, und wer Gott anbeten will, muß, ohne sich kindische Illusionen zu machen, tapfer auf seine Freiheit und Menschlichkeit verzichten. Wenn Gott existiert, ist der Mensch ein Sklave; der Mensch kann und soll aber frei sein: Folglich existiert Gott nicht. Ich fordere jeden auf, diesem Kreis zu entgehen, und nun mag man wählen.




Kenon - 21.12.2021 um 20:58 Uhr

Abschließend noch zwei Zitate von Bakunin “zur” Wissenschaft, über die er in seinem bekanntesten Buch einiges schreibt:

Zitat:

Die Wissenschaft ist einerseits zur rationellen Organisation der Gesellschaft unentbehrlich, andererseits darf sie, da sie unfähig ist, sich für das Wirkliche und Lebendige zu interessieren, sich nicht um die wirkliche oder praktische Organisation der Gesellschaft kümmern.

Wissenschaftliche Erkenntnisse für sich dürfen also nie alleiniges Entscheidungskriterium sein, erfordern immer noch eine Abwägung nach menschlichen Gesichtspunkten. Eine Regierung, die nur aus Wissenschaftlern bestünde, wäre für die Menschen eine schreckliche Regierung, da der Mensch eben auch ein irrationales Wesen ist.

Zitat:

Was ich predige ist also, bis zu einem gewissen Grade, die Empörung des Lebens gegen die Wissenschaft oder vielmehr gegen die Herrschaft der Wissenschaft, nicht um die Wissenschaft zu zerstören – dies wäre ein Verbrechen an der Menschheit –, sondern um sie an ihren Platz zu verweisen, den sie nie wieder verlassen sollte.




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