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-- Literaturgeschichte & -theorie
--- Kein Schreiben ohne Illusionen

Kenon - 25.07.2022 um 09:08 Uhr

Ein Mensch, der literarische Werke verfasst, muss sich mehrfachen Illusionen hingeben: Erstens, dass es tatsächlich mindestens einen anderen Menschen geben wird, der dieses Werk einmal liest, sonst bräuchte man ja kaum schreiben, es sei denn, man täte es wirklich nur für sich selbst, und zweitens, dass es einen Unterschied macht, ob er so oder so schreibt, ob er sich also Mühe gibt, ob er versucht, sich zu höchstmöglichen Leistungen aufzuschwingen oder alles fahren lässt, schludert, nicht konzentriert arbeitet, planlos die Worte hinwirft, weil der Lohn am Ende der selbe ist. Wer schließlich nicht gelesen wird, braucht um seinen Ruf als Autor nicht fürchten. Er hat schlicht keinen, und wer sich dennoch darum fürchtet, ist eben Opfer einer Illusion – oder, wenn man es milder ausdrücken möchte: Opfer einer Hoffnung – der Hoffnung, doch einmal gelesen zu werden.

Für einige wenige gilt das eben gesagte natürlich nicht: Die Schreibenden, denen ein Publikum nahezu sicher ist. Sie haben wiederum andere Sorgen, werden aber auch gern Opfer einer landläufigen Illusion: Dass ihr Wort ein starkes Gewicht in dieser Welt habe, dass sich die Kräfte, über die sie beim Schreiben verfügen, auch außerhalb der Literatur manifestierten, dass sie bedeutende Persönlichkeiten seien, die sich zu allerlei Belangen abseits ihrer Expertise äußern sollten und das Pflegen des trügerischen Glaubens, dabei auch noch immer Recht zu haben …

Diesen Illusionen können sich natürlich auch Schreibende ohne Publikum hingeben, was selbstverständlich noch weit tragischer ist.




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