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-- Prosa
--- Die Verwunderten /Letzter Teil

3dermisch5 - 19.09.2004 um 17:26 Uhr

"Verstehe! - Und dann?" -- "Naja, ich war total verärgert, wissen Sie, beleidigt, enttäuscht irgendwie - ja, und dann bin ich gegangen. - Verstehen Sie, ich ließ ihn allein! - Ich bin gegangen und habe ihn einfach im Stich gelassen. Ich habe ihn Freund genannt, und dann - habe ich ihn im Stich gelassen!" -- Der Pfarrer schwieg. Überlegte er sich seine nächsten Worte? Kalkulierte er die Zwischensumme des Ablasses? - Die Enge des Beichtstuhls hatte mich schon die ganze Zeit über nervös gemach, dazu dieses finstere Zwielicht. Doch das Schweigen jetzt machte die Luft noch schwerer und zum Atmen unbrauchbar. Ich musste raus! - "So war das! Und zwei, drei Tage später erfuhr ich, dass sich Freddy aufgehängt hatte. Dieser Idiot!" -- "Wie lange ist das jetzt her?", fragte mein verborgener Gegenüber unaufgeregt. Ich musste überlegen und zählte mit den Fingern die Monate rückwärts.
"Fast ein Jahr -- elf Monate - es passierte letzten August." -- "August?", wiederholte er erstaunt, "Seltsam, im August die Fenster zu putzen!" -- "Was?" -- "Was ist eigentlich mit der Frau geschehen?" -- "Die Frau? Aber die kannte ich doch gar nicht, diese Frau!" -- "Natürlich! Wie hieß sie doch gleich? Ines, nicht wahr?" -- "Ines?" -- Das war der oft beschworene Schlag ins Gesicht! Ines! Was sollte das jetzt! Ich war nicht hierhergekommen, um über sie zu sprechen. Dafür gab es andere Orte, von deren Existenz man in einer Kirche besser schwieg. Ines. Allein der Name trieb mich in eine Art Amnesie, in der ich erwachte, mich fragend, was ich eigentlich hier wollte, hier in dieser taglichtfernen Auslieferungszelle nach Gedeih und Verderben. War ich hier, weil ich für meine allmonatlichen Zuschüsse gemeint hatte, es gäbe vielleicht auch mal etwas herauszuholen? - Ines! Ich wollte nicht einmal mehr an sie denken, geschweige denn von ihr sprechen. -- "Ja, genau! Wie hat sie denn den tragischen Tod Ihres Freundes verarbeitet? Sie hatte ihn doch auch gekannt, nicht wahr?" -- Genug! Ich hatte genug. Ich erhob mich und blieb in gebückter Haltung stehen, wobei meine Nasenspitze mehrmals den grob geflochtenen Sichtschutz berührte, und flüsterte überdeutlich: "Diese Frau hat ein Kind in die Welt geworfen und mir in den Briefkasten den unerschütterlichen, genetischen Beweis, das ich der Erzeuger bin, und ich wundere mich seither, wie sie das angestellt haben könnte, verstehen Sie? Und ich bin hier in der Gegend, weil sie nicht weiß, dass ich hier in der Gegend bin! Und das alles geht Sie überhaupt nichts an! Und jetzt muss ich dringend meinen Rhododendron gießen, und danach habe ich eine Verabredung, und es ist ganz und gar nicht meine Art, Verabredungen nicht einzuhalten, oder sie zu vergessen! Und dann wollte ich in jedem Fall bis zwölf Uhr mittags betrunken sein!"




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