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-- Prosa
--- Der Tag davor
Jasmin - 01.09.2005 um 18:23 Uhr
Der Tag davor ist immer ein wenig unbeschwert und unbekümmert. Am Tag davor kann sie sich gar nicht vorstellen, dass es noch einmal zu einem Absturz kommen kann. Sie denkt, dass dieses Mal alles gut wird, wobei sie nicht weiß, was dieses alles bedeuten soll, aber es wird schon seine Richtigkeit haben.
Am Tag davor verlässt sie endlich das Haus nach vielen langen Tagen der selbstverordneten Isolationshaft. Sie verlässt die virtuelle Welt der Worte und Geister, ihr Spiegelbild im Bildschirm, das Surren des Ventilators, sie lässt hinter sich die Vorstellung vom Meer, das sie immer nur aus der Ferne bewundert. Sie möchte endlich das Meer realisieren, spüren.
Sie begibt sich auf eine Zwischenstufe. Die Welt der Straße, des Asphalts, der rasenden Wagen. Sie muss aufpassen, höllisch gut aufpassen, denn diese Autos sind nicht virtuell, nicht simuliert, wenn sie nicht aufpasst, dann fährt ein Auto sie in den Tod. Rückspiegel, wo ist der Rückspiegel, Seitenspiegel links, da rast jemand mit Lichtgeschwindigkeit an ihr vorbei. Das ist alles real, nicht phantasiert. Und diese Ampel da, sie ist rot, wirklich rot und sie muss auf die reale Bremse drücken. An der Ampel führt sie den abgebrochenen Dialog mit ihrem virtuellen Geist weiter. Sie erzählt ihm, was sie sieht, die Ampel schaltet auf Grün, jemand hupt, sie muss sich in eine der drei Spuren einordnen, aber wie, man lässt sie nicht. Sie redet weiter mit ihrem Geist, siehst Du, sie lassen mich nicht, ich muss auf die rechte Spur, aber sie lassen mich nicht. Das schaffst Du schon, sagt er. Und sie schafft es.
Dritte Welt. Das reale Meer. Nicht die Idee eines Meeres. Dort ist es dreckig, dunkler Seetang, angespülter Unrat auf dem Sand, es ist windig und ungemütlich. Sie geht wieder.
Vierte Welt. Ein anderes Meer. Eine Bucht weiter. Auch real. Hier ist es windstill. Glasklar, türkisgrün. Siehst Du die Pinien, sie wachsen ganz nah am Meer und hier, sieh doch die Kakteen, sind sie nicht schön? Ach, und da das Boot, das schaukelt so friedlich auf dem Wasser.
Sie zieht sich aus, legt ihre Kleider auf einen Felsen, hängt ihre Tasche an einen Felsvorsprung und geht ins Wasser. Sie spürt den Sand unter ihren Füßen und um den Blicken der Menschen auszuweichen, taucht sie unter, taucht weg, schwimmt eine recht lange Strecke unter Wasser, bis sie die Menschen hinter sich gelassen hat. Das Wasser ist so klar, sie kann auf den sandigen Grund sehen. Sie erblickt zwei kleine Silberfische. Ganz nah sind sie bei ihr und umkreisen sie. Sie ist verwundert, dreht sich mit den Fischen im Kreis, streckt die Hand nach ihnen aus. Fast kann sie die Fische berühren. Was wollen die Fische von ihr? Vielleicht haben sie Hunger oder wollen ihr Gesellschaft leisten. Sie denkt, warum bin ich nicht eher gekommen, warum habe ich das Gefängnis nicht eher verlassen, warum.
Am Tag davor.
Und dann ist alles wieder so wie immer. Das Meer wieder nur eine Idee, eine Vorstellung, die sie aus der Ferne bewundert.
bodhi - 02.09.2005 um 08:04 Uhr
Finde ich sehr bewegend. Man möchte sie schubsen und ihr zurufen: "Tu es doch einfach! Schmecke das Salz auf deinen Lippen, spüre den Wind in deinem Haar und das Einswerden mit dem Wasser des Meeres."
frankh - 03.09.2005 um 13:44 Uhr
Eine eindrucksvolle Schilderung, in der das Meer vielleicht nur eine Stellvertreterrolle spielt.
Ist das, an was ich mich zu erinnern glaube, überhaupt jemals gewesen? Wird es (noch) da sein, wenn ich wieder hinkomme? Oder suche ich etwas, das nie existiert hat?
Gruß
F.
Jasmin - 03.09.2005 um 15:04 Uhr
Diese Nachricht wurde von Jasmin um 15:05:53 am 03.09.2005 editiert
Die Figur, um die es hier geht, ist tatsächlich auf diesen Anstoß aus der Außenwelt angewiesen. Sie besitzt fast keinen eigenen Antrieb, ist also immer, wie ein Mobilé, von äußeren Einflüssen abhängig.
Das Meer steht sicher für etwas. Nur was? Vielleicht steht es für das Leben und seine grenzenlosen Möglichkeiten. Das Leben, das meine Figur nur aus der Ferne betrachtet. Und bekommt sie hin und wieder den Anstoß, sich dem Leben zu nähern, so fällt sie immer wieder in ihre gewohnte Leblosigkeit zurück.
Uve Eichler - 03.09.2005 um 16:35 Uhr
Wenn dieses Mobilé einen Anstoß braucht, sollte man es in ein Zimmer mit zwei Türen an die Decke hängen.
Einen Windzug wird es dort ständig geben und so kann es auch nicht langweilig werden.
Die Beobachter werden es begrüßen.
bodhi - 03.09.2005 um 22:06 Uhr
Die Figur sollte im Meer baden gehen, bevor wir baden gehen. Das Meer interessiert nicht, ob wir in ihm baden oder nicht. Es wogt einfach weiter. Wie macht es das bloß?
Jasmin - 03.09.2005 um 22:19 Uhr
Ich glaube, der Figur ist nicht mehr zu helfen. Das ist ihre Tragik. Sie hat immer die falschen Entscheidungen getroffen und jetzt ist es zu spaet. So wie das Meer einfach weiter wogt, so sitzt diese Figur auch weiter in ihrem Zimmer und will nicht baden gehen. Wie macht sie das bloss? Sie weiss es nicht.
Es ist sehr schade und die Figur tut mir auch Leid, aber sie hat es so gewollt.
Sabine Marya - 04.09.2005 um 02:38 Uhr
Vielleicht braucht sie einfach noch ein bißchen Zeit, für sich? Um sich einlassen zu können auf mehr als die Phantasie....
Jasmin - 04.09.2005 um 12:53 Uhr
Was aber kann dieses "mehr" bedeuten? Wenn doch die Phantasie das Non Plus Ultra ist?
frankh - 04.09.2005 um 18:42 Uhr
Ich weiß nicht, ob der Glaube an falsche Entscheidungen nicht auch nur eine Autosuggestion ist.
Vielleicht gibt es gar keine richtigen, und wir bilden uns nur ein, daß sie möglich gewesen wären?
Jeder kennt das: Wenn ich damals nicht dies und jenes getan hätte, wäre alles ganz anders gekommen und besser. Stimmt nicht. Es wäre nur anders gekommen, nicht besser. Na ja, ist vermutlich ein schwacher Trost ...
Gruß
F.
Jasmin - 04.09.2005 um 18:58 Uhr
Diese Nachricht wurde von Jasmin um 19:00:48 am 04.09.2005 editiert
Hallo Frank,
meine Aussage, dass meine Figur immer die falschen Entscheidungen getroffen habe und es jetzt für sie zu spät sei, war etwas ironisch, ja vielleicht sogar etwas zynisch gemeint. Vor allem dieses immer. Es wirkt doch sehr übertrieben und unrealistisch. Das eine oder andere Mal wird sie schon die richtige Entscheidung getroffen haben, allein schon an dem Tag, an dem sie sich entschied, ans Meer zu fahren. Auch dieses zu spät kann man so nicht gelten lassen. So lange man lebt, gibt es immer Hoffung. Auf irgendetwas.
Zu den Entscheidungen: Man trifft ja immer die Entscheidung, die man treffen kann. Erst im nachhinein stellt sich heraus, ob sie richtig oder falsch war. Vorher konnte man es nicht wissen. Man entschied sich so, wie es für einen möglich war. Wenn man die Vergangenheit aufrollt, ja, dann denkt man, man hätte sich anders entscheiden sollen. Aber das denkt man jetzt in der Gegenwart, in der man die Ergebnisse kennt, die aus der Entscheidung resultierten.
Im übrigen bin ich ein wenig fatalistisch veranlagt und halte es mit den alten Griechen, die sagten, dass es unmöglich sei, seinem Schicksal zu entkommen.
Liebe Grüße
Jasmin
frankh - 05.09.2005 um 16:41 Uhr
Diese Nachricht wurde von frankh um 16:43:30 am 05.09.2005 editiert
Hallo Jasmin,
ja, natürlich gibt es auch im Negativen keinen Absolutheitsanspruch. Und ein wenig Hoffnung ist immer, selbst wenn es keine rationalen Gründe dafür gibt.
Vielleicht sollte man auch die Ansprüche an sich selbst zurückschrauben und sich auf die wenigen Dinge konzentrieren, die aussichtsreich oder doch wenigstens in kreativer Hinsicht befriedigend sind.
Na ja, aber vielleicht ist das auch nur der Versuch einer Autosuggestion, und die alten Griechen haben recht ...
Beste Grüße
Frank
Uve Eichler - 05.09.2005 um 18:39 Uhr
Sollten Situationen nicht schnell begutachtet und vollzogen werden.
Die richtige Entscheidung zu treffen ist immer schwierig. Beobachter werden die Resultate immer aus anderen Blickwinkeln sehen; wichtig ist doch eher der eigene Standpunkt zu den Dingen.
Jasmin - 07.09.2005 um 00:15 Uhr
Diese Nachricht wurde von Jasmin um 00:16:01 am 07.09.2005 editiert
Zitat:
Na ja, aber vielleicht ist das auch nur der Versuch einer Autosuggestion, und die alten Griechen haben recht ....
Vielleicht hat es keinen Sinn, nach einer Antwort zu suchen. Vielleicht sollte man einfach den nächsten Text schreiben und dann noch einen und noch einen. Schreiben, bis man nicht mehr weiter weiß.
Zitat:
Sollten Situationen nicht schnell begutachtet und vollzogen werden.
Die richtige Entscheidung zu treffen ist immer schwierig. Beobachter werden die Resultate immer aus anderen Blickwinkeln sehen; wichtig ist doch eher der eigene Standpunkt zu den Dingen.
Ja, der eigene Standpunkt - aber wenn man keinen hat? Wenn man selber Beobachter ist und sich und seine Resultate immer wieder aus anderen Blickwinkeln betrachtet?
Uve Eichler - 09.09.2005 um 18:43 Uhr
Zitat:
Ja, der eigene Standpunkt - aber wenn man keinen hat? Wenn man selber Beobachter ist und sich und seine Resultate immer wieder aus anderen Blickwinkeln betrachtet?
Das ist doch eher ungewöhlich und kann doch nur in Situationen auftreten, wenn der Beobachter überfordet ist.
tekkx - 10.09.2005 um 10:38 Uhr
Zitat:
Sie verlässt die virtuelle Welt der Worte und Geister, ihr Spiegelbild im Bildschirm, das Surren des Ventilators, sie lässt hinter sich die Vorstellung vom Meer, das sie immer nur aus der Ferne bewundert. Sie möchte endlich das Meer realisieren, spüren.
Nachdem sie es gespürt hat geht sie
wieder in Einzelhaft zum PC mit Ventilator.
Jasmin - 10.09.2005 um 10:40 Uhr
Zitat:
Nachdem sie es gespürt hat geht sie
wieder in Einzelhaft zum PC mit Ventilator.
Strafe muss sein.
bodhi - 12.09.2005 um 23:22 Uhr
Zitat:
Strafe muss sein.
Hach, wenn doch jetzt MRR Forumsmitglied wäre: "Waff will der Autorrr unff damit ffagen?"
Jasmin - 13.09.2005 um 00:55 Uhr
Zitat:Zitat:
Strafe muss sein.
Hach, wenn doch jetzt MRR Forumsmitglied wäre: "Waff will der Autorrr unff damit ffagen?"
Ist das eine wirkliche Frage? Oder nur eine Fangfrage?;)
Es ist doch absolut eindeutig, was der Autor damit sagen will.
bodhi - 14.09.2005 um 06:45 Uhr
Das war absolut eindeutig absichtslos gefragt:-)
Sah nur beim Lesen den großen 85-jährigen Autorendurchleuchter vor mir.
Jasmin - 14.09.2005 um 10:11 Uhr
Diese Nachricht wurde von Jasmin um 10:12:57 am 14.09.2005 editiert
Zitat:
Das war absolut eindeutig absichtslos gefragt:-)
Sah nur beim Lesen den großen 85-jährigen Autorendurchleuchter vor mir.
Ach so.:)
Wenn die Autorin dieses Textes einmal tot und beruehmt ist, lebt der "große 85-jährige Autorendurchleuchter" wahrscheinlich nicht mehr. Andernfalls wuerde er dann aus ihren Briefen sofort ableiten koennen, was sie mit ihren Worten gemeint haben muss.
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