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--- Schlaffer, Die kurze Geschichte der dt. Literatur

ArnoAbendschoen - 29.09.2010 um 10:18 Uhr

Heinz Schlaffers 2002 bei Hanser erschienener langer Essay hat neben viel Lob auch einige Kritik auf sich gezogen, am schärfsten wohl formuliert in der „Tageszeitung“. Dort wurde ihm vom Luchterhand-Lektor Siblewski eine „vollendet gestrige Sicht“ bescheinigt. Seltsam, gerade in der linken „TAZ“ wurde einem angekreidet, dass er Büchner und Marx überragend fand, bezogen auf das deutsche 19. Jahrhundert … Das ist schon eine besondere Untersuchung wert: Krasses Fehlurteil des Rezensenten oder ist doch etwas dran?

Schlaffer selbst ordnet sich in seinem Buch einmal selbst geistesgeschichtlich ein: „Der Verfasser hält es mit der radikalen Aufklärung. Jede Religion ist ein Irrtum, aber ein folgenreicher Irrtum …“ (S. 21). Insgesamt ist seine Analyse offenkundig vor allem eins: Abrechnung mit tradierter Betrachtung, und d.h. eine Zerlegung der überkommenen Literaturgeschichte der Germanisten. Sein Text ist so auch eine Geschichte der Literaturgeschichte(n).

Zunächst zerstört Schlaffer das gewohnte Bild kontinuierlicher Entwicklung von der alt- über die mittelhochdeutsche Literatur bis zur neuhochdeutschen Produktion um 1700. Für ihn ist diese immer wieder dargestellte Linie eine nachträgliche Entstellung der tatsächlichen Abläufe, die von Diskontinuität, Brüchen, Verspätung und Formlosigkeit geprägt sind. Er legt überzeugend dar, wie isoliert die nicht sehr zahlreichen bedeutenderen Werke waren, ohne Verbindung zum vorausgegangenen deutschen Schrifttum, mit dürftigster Resonanz bei Zeitgenossen wie Nachwelt und zumeist ohnehin von fremder Literatur angeregt. Erst die ideologischen Bedürfnisse des 18. und 19. Jahrhunderts scheinen den Grund für die Fiktion einer allmählich fortgeschrittenen Nationalliteratur gelegt zu legen.

Schlaffer kennt nur zwei große Zeiten deutscher Literatur, die Klassik des 18. und die moderne Klassik des frühen 20. Jahrhunderts – und lehnt den Begriff Klassik zugleich ab. Er schließt sich der Auffassung und Sprachregelung der internationalen Literaturwissenschaft an, die durchgehend nur Romantik sieht („German romanticism“). Schlaffer arbeitet ausführlich den für ihn wesentlichen Mechanismus beim plötzlichen Aufstieg der deutschen Literatur ab etwa 1750 heraus – es ist ein schmerzhafter, literarisch gestalteter Ablösungsprozess von der christlichen Religion. Tatsächlich ist unübersehbar, dass es zunächst das protestantisch-pietistisch geprägte Deutschland war, das diese Literatur voranbrachte. Hundert Jahre später finden wir in der bewussten Nachfolge der ersten „Klassik“ sich von ihrer traditionellen Kultur emanzipierende Autoren vor allem katholischer und jüdischer Herkunft. In dieser abschließenden Auseinandersetzung mit ihrer geistigen Heimat erkennt Schlaffer das eine große Unterscheidungsmerkmal der deutschsprachigen Literatur von den anderen europäischen Literaturen.

Zwischen den beiden Glanzzeiten herrscht Epigonales vor, und Schlaffers Rückblick auf die Zeit ab 1945 und erst recht sein Ausblick sind noch herabstimmender: nur noch Mittelmäßiges, ungeeignet für nochmalige „Kanonbildung“.

Was Schlaffer darbietet, ist scharfe Analyse, sehr detailliert, zugespitzt und hervorragend formuliert. In seinem Text sind viele Entdeckungen zu machen. Dennoch muss man ihm nicht in allem folgen. Manches ist zu pauschal dargestellt. Es finden sich auch Irrtümer, so z.B. wenn er das Wandern für eine Erfindung der Goethezeit hält, die in der Gegenwart verschwinde. Gravierender erscheint mir, dass der Autor bei jeder Beurteilung mehr Wert auf die Rezeption von Literatur legt als auf das in ihr enthaltene Potential. Ein allzu häufig gebrauchtes Wort aus der Bildenden Kunst könnte man so abwandeln: Für Schlaffer entsteht Literatur erst im Kopf des Lesers. Das ist gewiss nicht „vollendet gestrig“ – es ist ein wenig zu heutig.

Nicht vollkommen überzeugend ist auch sein Versuch, die Schwäche der neueren deutschen Literatur aus der Katastrophe von 1945 und der folgenden Politisierung einschließlich moralischer Selbstverpflichtung und Neigung zu Sprachregulierung zu erklären. Zu Recht hat er vorher die nord- und lateinamerikanische Literaturen als die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts blühenden aufgeführt und nicht die aus Frankreich, Italien oder England. Die Schwäche ist gesamteuropäisch, sie kann nicht primär aus einem deutschen Sonderweg erklärt werden. Viel einleuchtender ist daher dieser Befund: „Damit Dichtung geschrieben werden kann, braucht sie Erinnerungen an eine archaische Welt, in der die Aura der Wörter noch nicht völlig durch technische Medien zerstört worden ist; wo noch nicht die Aufklärung des Journalismus, der popularisierten Wissenschaft und des Tauschverkehrs die letzten Reste von Glauben und Aberglauben beseitigt hat, wo jemand, der schreibt, die Mühsal seiner Befreiung von vorliterarischen Traditionen darstellt, die er dadurch zugleich zerstört und im Gedächtnis bewahrt.“ (S. 135) Schlaffers Pessimismus, vor allem in Bezug auf die Zukunft des Romans, wird übrigens von einem der großen lebenden US-Autoren geteilt – von Gore Vidal.

Vermutlich ist eben dieser Rückblick des Literaturhistorikers auf ein als nicht mehr erreichbar Erklärtes inakzeptabel für den platt Fortschrittsgläubigen. Wenn es aber so sein sollte, dass große, wirklich bewegende und fortdauernde Literatur an konkrete historischen Bedingungen gebunden ist, die verschwinden können – dann hilft es wenig, den Überbringer der Nachricht von der Einmaligkeit als „vollendet gestrig“ abzuqualifizieren. Gewiss, geschrieben wird immer, wird immer werden – nur was es noch bedeutet und bewirkt, das ist die Frage.




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