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--- Journalisten und Objektivität - Einige Gedanken

ArnoAbendschoen - 06.09.2018 um 18:09 Uhr

Von wem ist dieses Zitat: "Wahrheit breitet sich nicht aus, hast die Zeitung du im Haus"? Raten Sie mal, ist es von A) Joseph Goebbels oder B) Wilhelm Busch oder C) Kurt Tucholsky? Auflösung: Die richtige Antwort lautet C. Die Zeilen sind enthalten in dem 1927 veröffentlichten Gedicht „Week-End“, das sich kritisch mit dem Kontrast von zeitgeistiger Reklame und wirklicher sozialer Lage beschäftigt. Darin spielen die Zeitungen die Rolle eines Transmissionsriemens, der die zu popularisierende Botschaft massenhaft verbreitet und damit erst populär macht.

Tucholskys Formel deckt sich inhaltlich mit dem viel derberen „Lügenpresse“, das jetzt wieder in so vieler Munde ist. Im Hinblick darauf habe ich bei der Eingangsfrage die falsche Fährte Goebbels gelegt. Die aktuelle Diskussion tut gern so, als hätten die Nazis die Patentrechte für den Begriff, dem ist aber nicht so. „Lügenpresse“ ist viel älter und wurde generationenlang von den unterschiedlichsten politischen Strömungen zum Zweck der Diffamierung gebraucht. So habe ich denn auch Wilhelm Busch ins Spiel gebracht. Seine antisemitischen Tendenzen sind bekannt, die liberalen Zeitungen seiner Zeit hatten oft jüdische Verleger und Journalisten. Die Verse hätten auch von ihm sein können.

Radikale Kritik an Zeitungswesen und Journalismus hat es vor und nach dem Dritten Reich vielfach gegeben. Erinnern wir uns an die Anti-Springer-Kampagnen der Achtundsechziger, die über Jahrzehnte gingen und sich in der Tendenz nicht nur gegen Blätter aus dem Hause Springer, sondern gegen schlechthin alle „bürgerlichen“ Medien richteten. In diesem Zusammenhang kam es sogar zur Herausgabe neuer Zeitungen, die alles anders machen, d.h. auch wahrhaftiger sein wollten.

Vor hundert Jahren war einer der Großen unserer Literatur zugleich Fundamentalkritiker der Zeitungen und fanatischer Journalistenhasser: Karl Kraus. Zahllos sind seine Ausfälle in den Beiträgen für „Die Fackel“. Ich wähle beispielhaft einige aus „Maximilian Harden – Eine Erledigung“ aus:

"Ich trage einen Hass unter dem Herzen und warte fiebernd auf die Gelegenheit, ihn auszutragen … Die Hölle der Neuzeit ist mit Druckerschwärze gepicht. Sei es! Sei’s unser Verhängnis, dass alles, was das Leben lebenswert macht, Geist und Schönheit hingemäht werde von diesen fürchterlichen Schnittern der Sensation, dass die Weideplätze der Kultur den neuen Hyksos ausgeliefert bleiben, und dass wir an der Revanche verbluten, die wir am Christentum genommen haben: an der Übertragung des Geisterbanns von der Kirche auf die Presse … Man hat die liberale Presse nie lauter jubeln gehört … Der Prozess Harden – Moltke ist ein Sieg der Information über die Kultur. Um in solchen Schlachten zu bestehen, muss die Menschheit lernen, sich über den Journalismus zu informieren."

Die Verteidiger des Journalismus heute machen oft folgende Doppelgleichsetzung: Fundamentale Kritik an Berichterstattung = Vorwurf der „Lügenpresse“ = rechtsextreme, demokratiefeindliche Gesinnung. Welcher Teufel reitet sie, eine derart manichäische Zurückweisung harscher, grundsätzlicher Kritik zu praktizieren? Auf diese Weise wird die Reaktion des Mediennutzers dazu missbraucht, die Stellung des Nachrichtenproduzenten unangreifbar machen zu wollen. Auch politisch ist dieser Versuch der Lagerbildung ein Hasardspiel. Die Burgverteidiger nutzen heranfliegende Steine, indem sie mit ihnen eine Mauer höher bauen. Der Wall wackelt trotzdem bedenklich.

Kehren wir, um uns selbst einen Standpunkt zu erarbeiten, zu Tucholsky zurück. In seinem Artikel „Redakteure“ von 1932 analysiert er die Krise des Journalismus und ihre Gründe. Darin ist manches nur noch historisch, anderes nach wie vor zutreffend. Zur Illustration berichtet er eine Anekdote. Sein eigener Verleger Siegfried Jacobsohn zu einem fremden Redakteur: "Aber bei euch genügen doch schon vier Beschwerdebriefe, und jeder von euch kann herausfliegen." Darauf der andere: "Herr Jacobsohn, Sie irren sich. Es genügt schon einer." Der Redakteur ist noch immer einer, der von zwei Seiten in die Zange genommen wird, den Erwartungen seiner Leser und den Maßgaben seines Verlegers. Er ist nicht unabhängig wie ein Richter und wird daher zumeist nicht so objektiv sein können, wie es das schöne Ideal fordert. Der Journalist liefert Waren, die seinem Auftraggeber ökonomisch nutzen und dem Endabnehmer des Produkts gefallen sollen. Der Leser als Konsument will etwas in sich Widersprüchliches: Informationen, die sein Bild von der Welt bereichern, ohne es grundsätzlich in Frage zu stellen. Der Journalist muss versuchen, den Erwartungen beider gerecht zu werden, ohne sich selbst zu verbiegen. Er ist arm dran und möchte doch selbst teilhaben, am materiellen wie am geistigen Wohlstand oder Reichtum.

Nutzanwendung für den Leser: Mach dir klar, dass du Käufer einer produzierten Ware bist, nicht Empfänger einer absolut feststehenden Wahrheit. Prüfe, für welchen Teilmarkt jeweils produziert wird. Vergleiche die angebotenen Waren untereinander, entwickele einen Sinn für den relativen Grad an Wahrheitsgehalt. Entscheide für dich selbst, was du für glaubhaft oder einsichtig hältst. Differenzieren, differenzieren! Lass dich in deiner Kritik nicht mundtot machen, es gibt mehr als genug Anlass dazu. Aber sei dir immer bewusst, du selbst bist in erster Linie für dein Bild von der Welt verantwortlich. Der Vorwurf der „Lügenpresse“ ist so ungerecht wie seine politische Ausbeutung in einem Lagerkampf für das Gemeinwesen gefährlich, und das gilt für jede Seite.




ArnoAbendschoen - 08.01.2019 um 21:27 Uhr

Der aktuelle Fall Relotius illustriert recht gut, worauf ich mit den beiden letzten Absätzen meines Beitrags abzielte: Veröffentlicht wird allzu oft, was gern gelesen wird, und gern gelesen wird vor allem, was gern geglaubt wird. Die Rollenverteilung Täter - Opfer ist nicht so klar und eindeutig, wie nun vielfach dargestellt. Relotius ist nur ein besonders krasses Exempel. In seinem Fall haben sich viele an die eigene Nase zu fassen: SPIEGEL-Redaktion und Verlagsleitung wie ein Großteil der SPIEGEL-Leser. Und die Affäre reicht ja weit über das Hamburger Magazin hinaus. Relotius war mit seinen Beiträgen bei einer Reihe von Presseorganen sehr willkommen und er hat auffallend viele Preise in Wettbewerben bekommen; unter den jeweiligen Juroren nicht wenige angesehene Vertreter des Journalistenstandes.



Kenon - 09.01.2019 um 21:33 Uhr

Niemand ist objektiv. Objektiv ist nur die nicht wahrgenommene Wirklichkeit. Alle Wahrnehmung hat bereits Tendenzen: Was ich in einer Situation wahrnehme, was nicht, wie ich es beurteile - ich bin in allem auch beeinflusst von dem, was ich in der Vergangenheit wahrgenommen, erlebt, gefühlt habe. Man kann natürlich ganz bewusst fälschen, wie es Relotius gemacht hat. Geschmeckt hat es vielen.

Der Spiegel scheint übrigens noch nicht besonders viel aus dem Fall gelernt zu haben. Jetzt über Fergus Falls "In einer fantastischen Stadt" zu titeln, ist ja genauso übertrieben, wenn auch in die entgegengesetzte Richtung. Als wäre ein Relotius-Artikel eine Beule in einem Blech, die man auf der anderen Seite wieder ausschlagen kann.

Du hast richtig angesprochen: "Schuld" tragen auch die Leser, für sie werden ja die Artikel geschrieben; im Internet kann man heute sehr genau nachvollziehen, was ihnen gefällt, wovon sie mehr zu wünschen scheinen - und das für jeden einzelnen.

Im übrigen geht alles den Bach hinunter:
Laut wikipedia ist die verkaufte Auflage des Spiegels "seit 1998 um 32,2 Prozent gesunken". Ich selbst habe ihn seit immens vielen Jahren nicht mehr gekauft. In den frühen 1990er Jahren habe ich ihn ganz gern gelesen - davor war er "nicht verfügbar".




ArnoAbendschoen - 17.01.2019 um 17:11 Uhr

Tja, und morgen bekommt Robert Menasse die Carl-Zuckmayer-Medaille des Landes Rheinland-Pfalz ... So läuft das also: erst Zitate erfinden, dann sich dafür rechtfertigen, dann sich doch noch entschuldigen - und, schwupp, ab zur Preisverleihung.



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