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-- Lektüregespräche
--- November 2019

Kenon - 19.11.2019 um 22:38 Uhr

Tim Judah - In Wartime: Stories from Ukraine

Die Ukraine ist ein riesiges Land mit vielen sehr unterschiedlichen Regionen, von dem die meisten Menschen in Westeuropa kaum mehr als ein paar hässliche Stereotype kennen. Ich zähle sie hier nicht auf und danke mir ganz kurz selbst dafür.
Tim Judah (geb. 1962), ein britischer Reporter und politischer Analyst, hat die Ukraine in einer schwierigen Zeit (2014/15) bereist und berichtet von seinen Begegnungen mit Menschen, die in ihr leben. Daher ist Judahs Buch verständlicherweise kein Reiseführer, auch wenn die Ukraine ein ganz wunderbares Land mit zahlreichen Attraktionen ist, in dem man über viele Jahre spannende Urlaube verbringen kann. Die russische Aggression, der völkerrechtswidrige Raub der Krim, die Besetzung des Donbass´, die versuchte Zerstörung des gesamten ukrainischen Staates durch Russland müssen leider den historischen Hintergrund der Reportagen abgeben. Judah trifft nicht nur Menschen, die zum ukrainischen Staat und einem selbstbestimmten Leben in Freiheit halten, sondern auch die neuen Besatzer im Donbass, die ihre faschistischen Phantasien zum besten geben dürfen, und alte Sowjetbabuschki, die in einem naiv-dumpfen geistigen Paralleluniversum leben. Es gibt sie wirklich, diese Menschen, in deren Köpfen die russische Staatspropaganda ihre Heimstatt gefunden hat und deren Gift aus ihren Mündern wieder herausquillt - und nicht nur dort, auch in Westeuropa gibt es nur zu viele auch manchmal sonst recht kluge Menschen, die Opfer des russischen Informationskrieges und verbal zu willigen Helfern des russischen Großmachtstrebens geworden sind, nicht immer steckt bloß Anti-Amerikanismus dahinter, oft sind es Vertreter und Anhänger von SPD, Linke, AfD, zum Teil sogar der FDP. Man hat Sympathien für die starke russische Faust, die Kontinente zum Zittern bringt, man ist unwissend romantisch verklärt, man sucht nach Zuwendung, Aufmerksamkeit, man ist erpressbar, man ist käuflich.
2014/15 - das scheint schon wie eine Ewigkeit her. Mehr als 10.000 Menschen sind gestorben, Zehntausende kriegsversehrt, Millionen auf der Flucht. Es gibt wenig Hoffnung auf einen gerechten Frieden, die Wiederherstellung der ukrainischen Grenzen, Westeuropa betreibt Appeasement, wird mit Nordstream-2 bald die russischen Kriege und die Angriffe auf unsere Demokratien finanzieren. Es ist auch wenig Trost, dass jeder Diktator sterblich ist. Nach Putin kommt Putin, nach Stalin kommt Stalin, nach Lenin kommt Lenin, nach den Zaren kommen die Zaren, kommt Gewalt, Raub, Mord. Kommt immer nur Gewalt, Raub und Mord und nebenbei ein paar beeindruckende literarische Fabrikate aus all dem Elend, dem ewigen ewigen Elend.

Wer sich für die schönen Seiten der Ukraine interessiert: Ukraїner ist eine zivilgesellschaftliche Initiative, die zuallererst den Ukrainern, von denen viele ihr ganzes Leben nie den heimischen Oblast’ verlassen, ihr Land zeigen will. Wer nicht ukrainisch spricht, kann den Bildband auch in der englischen Variante erwerben:

«Ukraїner. Країна зсередини»
Kyiv, 2019
ISBN 978-617-679-686-2




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