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-- Politik & Gesellschaft
--- Der Zug nach Koszalin

Kenon - 27.07.2020 um 00:14 Uhr

Abends in Stettin - es dämmert schon - steht der letzte Zug nach Koszalin zur Abfahrt bereit. Die hohen Treppe hinab zum Bahnsteig stürzen sich zwei sichtlich betrunkene Männer mittleren Alters mit geöffneten Bierflaschen in der Hand, die sie besser verstecken sollten, denn in Polen darf - ich glaube seit den 1980ern - nicht öffentlich getrunken werden. Sie haben große Rucksäcke auf ihren Rücken und scheinen im allgemeinen nicht das ordentlichste Leben zu führen, haben aber Spaß daran. Sie wollen wahrscheinlich in den noch stehenden Zug einsteigen und haben mit den kürzlich schön renovierten Stufen ihre Mühe, aber hinab kommt man ja im Suff meistens ganz gut, so auch sie hier. Kurz bevor sie das Ende der Treppe erreichen, ruft der ältere von beiden, der hinter dem jüngeren läuft, um noch einmal ganz sicher zu gehen, dem Schaffner auf dem Bahnsteig zu: “Ist das der Zug nach Koszalin?”. Der Schaffner bejaht. Darauf erwidert der Mann laut in einem ironischen Ton: “Aber Fahrkarten haben wir keine”. Der Ältere erreicht den Bahnsteig und beginnt ein kurzes Gespräch mit dem Schaffner, derweil macht sich der Jüngere an einer Wagentür zu schaffen. Auch dies wieder nur mit Mühe. Die Tür ist alt und funktioniert noch mechanisch, aber schließlich schafft er es und steigt ein - ungefähr wie ein Ertrinkender im Meer in ein Rettungsboot. Ich verliere die Szene für ein paar Sekunden aus den Augen. Der Bahnsteig ist jetzt leer. Der Schaffner ist eingestiegen, der zweite Mann auch. Der Zug fährt los. Ich suche nach den beiden betrunkenen Gestalten in den vorbeifahrenden Wagen. Ich sehe ihre Silhouetten in einem Abteil, auch ihre Rucksäcke. Es ist ein Wagen der ersten Klasse. Hier endet meine Beobachtung. Wie geht dieser Film des Lebens weiter? Vermutlich haben die beiden Männer nicht genügend Geld für die Fahrkarte und sicherlich haben sie nicht mitbekommen, dass sie sich erster Klasse gesetzt haben. Wie wird das Wiedersehen mit dem Schaffner verlaufen? Ich stelle mir vor, er wird Gnade vor Recht walten lassen, schließlich findet das alles in Polen statt, da verhalten sich Funktionsträger oft noch menschlich: Wenn Du die Regeln nicht einhalten kannst, dann unterhalte mich wenigstens mit ein paar Späßchen - und alles wird gut.



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