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--- Dichtung heute

Kenon - 09.07.2021 um 21:23 Uhr

Man kann es drehen, wie man will, letztlich bleibt ja doch nur der Schluss übrig, dass sich seit ewigen Zeiten alles im Niedergang befindet, mindestens – und das ist echt lange her – seit der Zeit Hesiods, als er sein gewiss für immer absolut wahres Gedicht “Werke und Tage” über die Weltalter schrieb – wenn man denn irgendwie an Dichtung glaubt. Feinsinnige Gemüter spüren diesen Niedergang natürlich besonders in den schönen Künsten; ihnen müssen wir zuhören, um eventuell auch ein bisschen als feinsinnig gelten zu können, was wir sicherlich (fast) alle wollen. “Aber der Fortschritt!” – wendest Du jetzt vielleicht schlau ein, und ich kann Dir nur leicht beschämt aber durchaus schurkenschlau mit Charles Manson antworten:
“Fortschritt? Es gibt keinen Fortschritt, nur Veränderung”.

Was also, um mal eine der schönen Künste herauszugreifen, kann Dichtung heute? Die einfachste Antwort ist: Schau es Dir doch selber an – warum sollte ich es für Dich wissen? Aber ich mühe mich natürlich trotzdem gern öffentlich ab. Die zahllosen “exakten” Wissenschaften mögen den Dichter einschüchtern wie jeden Normalsterblichen: Da glaubt er vielleicht, er kann ein Vogellied einfühlsam beschreiben – und kennt sich dabei doch gar nicht so aus wie die Spezialisten, die sich das ganze Jahr mit nichts anderem befassen und sogar Rechentechnik einsetzen, um mit einer brutalen Systematik immer mehr darüber zu erfahren. Über-über-überall gibt es diese Spezialisten, die es stets besser wissen, aber bei der Dichtung geht es ja erfreulicherweise gar nicht um Wissen oder die möglichst richtige Darstellung: In einem Gedicht darf eine Amsel klagen, wenn es dem Autoren so eingefallen ist – und gefällt; in einem Gedicht kann alles mögliche beschrieben werden und passieren – und natürlich auch nichts. Wunderbares Nichts, Du bist ja so ein verdammt schöpferisches Ding, stammt aus Dir doch auch die ganze Schöpfung, was aber selbst schon wieder Dichtung sein mag.

Ach, diese Dichtung! In ihr ist der Geist noch Herrscher, macht, was er will und kann, und ist so frei, nur von doch immer dehnbaren Sprachgrenzen eingeschränkt. Mächtige Dichtung! In ihr könnten selbst Romeo und Julia ein glückliches Liebespaar werden, das dem Selbstmord entkommt ...




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